Peter Sloterdijk: Es gibt keine Religion, sondern nur missverstandene Übungssysteme.
► von Wilhelm Klingholz
Meine These lautet in der Tat, dass es keine Religion gibt, sondern nur missverstandene Übungssysteme. Ich finde den Begriff Religion falsch und schädlich. Auch steckt in ihm ein Teil des europäischen Kulturimperialismus. Die Inder wussten nicht einmal, dass sie Hinduisten sind, bevor sie durch europäische “Religionswissenschaftler” darüber aufgeklärt wurden, die Chinesen können bis auf den heutigen Tag mit dem Begriff Religion nichts anfangen, auch im Altgriechischen haben wir kein Wort für Religion, im Hebräischen ebenso wenig.
aus: FOCUS Magazin | Nr. 16 (2009) – Interview der FOCUS-Redakteure Michael Klonovsky und Stephan Sattler mit Peter Sloterdijk
Kürzlich bin ich auf dieses Interview mit Peter Sloterdijk gestoßen und bin gleich an der ersten These von ihm hängengeblieben. Während ich der Auffassung bin, dass er hier einen ganz wesentlichen Zusammenhang darstellt, war ich mit dem Rest des Interviews nicht besonders glücklich. Auch wenn Peter Sloterdijk die Umstimmungserfahrung, die er als Sannyasin in Poona erlebt hat, als “irreversibel” beschreibt, hätte ich ihm ein bisschen mehr Zeit für ein tieferes Verständnis dessen gewünscht, was Buddha das Nicht-Selbst genannt hat. Dann wären seine weiteren Thesen vermutlich andere gewesen. Aber ich bleibe mal bei seiner ersten These, weil sie mir eminent wichtig zu sein scheint.
Ich wurde nach meiner Geburt christlich getauft, genauer evangelisch-lutherisch. Natürlich hatte ich in der Schule Religionsunterricht und wurde mit 14 konfirmiert. Ich lernte das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote und noch so allerlei. Das ist das, was ich damals unter Religion zu verstehen gelernt hatte. Heute hat das alles für mich nicht mehr das Geringste mit Religion zu tun.
Der Bruch in meinem Verständnis begann, als ich mit 18 Jahren ein Buch von Meister Eckhart in die Finger bekam und dort einer völlig anderen Sichtweise von Religion begegnete. Einmal auf die Spur gebracht entdeckte ich bald darauf Lao-tse und einige Zen-Meister für mich. Mein Austritt aus der Kirche war dann nur noch eine Frage der Zeit. Aus der Kirche wohlgemerkt und nicht aus dem, was man Religion nennen könnte, denn dahin hatte ich mich ja eben erst mal auf den Weg gemacht. Mit einiger Fassungslosigkeit stellte ich fest, dass das, was ich suchte, am allerwenigsten in der Kirche zu finden war. Ich hatte das große Glück, einem Kunstdozenten zu begegnen, der dem Zen nahe stand und diesen auf eine nonverbale, liebevolle Weise weiterzugeben verstand, sodass ich mich dafür völlig öffnen konnte.