Das letzte Kreuz: Einige Gedanken zur Zukunft des Wahlrechts

In seinem Aufsatz "Die Geburt des Sicherheitsstaats" hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf einen Umstand beim Umgang mit sogenannten Krisen hingewiesen, den er für zentral für das aktuelle politische Geschehen hält. Er nennt ihn eine "folgenreiche Umkehrung der traditionellen Hierarchie von Ursache und Wirkung": "Da es vergeblich oder zumindest kostspielig ist, den Ursachen [von Krisen] gegenzusteuern, sei es nützlicher und sicherer, [deren] Wirkungen zu lenken".

Anders ausgedrückt:

Krisen, also kurzzeitige, tatsächliche oder vorgebliche Erschütterungen des politischen Gefüges, seien sie nun selber politisch, militärisch, wirtschaftlich, sozial oder ökologisch, werden von den herrschenden Eliten heutzutage nicht bekämpft, sondern genutzt.

Weder wird dabei die eigene Verantwortung für ihr Entstehen thematisiert, noch gibt es ein ernsthaftes Interesse, ihre Folgen abzufedern oder gar zu verhindern. Die Durchsetzung der neoliberalen Agenda wurde in Europa durch die geschickte Ausnutzung bzw. Inszenierung von Krisen ermöglicht. Auch, wenn die bestehende Herrschaftsordnung ein Legitimationsproblem hat, kann ihr eine zünftige Krise nur recht sein.

"Those opposed to the welfare state", fassten Prof. Martin McKee und Prof. Dr. David Stuckler 2011 im "British Medical Journal" (BMJ) zusammen, "never wasted a good crisis" ["Die den Sozialstaat abschaffen wollten, haben noch nie eine gute Krise verschwendet"].

Der bedrohliche globale Siegeszug rechtsradikaler bzw. rechtsextremer Personen und Parteien, der mit der Wahl von Donald Trump in den USA nur einen weiteren Höhepunkt erreicht hat, bietet zurzeit ein sprechendes Beispiel für Agambens These, wenn man die Reaktionen der neoliberalen bürgerlichen Parteien und Eliten in den Blick nimmt.

► Das kleinere Übel züchtet das größere

Die zentrale Behauptung dieser Parteien lautet gegenwärtig, beispielsweise im Wahlkampf um das Präsidentenamt in Frankreich, knapp zusammengefasst so:

"Ohne uns kommen die Rechtsradikalen!". Richtiger müsste der Satz allerdings lauten: "Unseretwegen kommen die Rechtsradikalen!". Ohne die sozialen Verwüstungen, die eine gnadenlos auf Profitmaximierung einer immer kleiner werdenden Gruppe von Menschen ausgelegte Wirtschafts- und Sozialpolitik angerichtet hat, sei es durch das "Abhängen" ganzer Regionen, sei es durch den Kahlschlag in der Bildungspolitik, sei es durch das Absacken der Mittelschicht und die Verelendung ganzer Bevölkerungsteile, wäre ein Machtzuwachs der extremen Rechten, wie er sich zur Zeit vollzieht, nicht denkbar gewesen.

Sich als das kleinere Übel zu präsentieren (und es womöglich sogar zu sein) ist die letzte Legitimation, die den neoliberalen Eliten an der Wahlurne noch bleibt.

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