Ist das Ich ein Ich oder tut es nur so?

Auch wenn es sich noch so viel einbildet:

Das allmächtige Ich ist ein Trugbild

von Franz Schandl / Streifzüge 72/2018

Das Ich ist nicht einfach gegeben. Das von uns beobachtete Exponat ist kein mündiges Exempel oder dergleichen, auch wenn viele es zum Egoisten oder zum Eigenbrötler bringen und sich einbilden, gerade hier ihr Ich gefunden zu haben. Gefunden wurden allerdings nur Rolle und Maske. Nicht mit Individuen haben wir es zu tun, sondern mit Subjekten, d.h. systemisch zugerichteten Domestiken.

Die Frage, die das bürgerliche Subjekt sich zu stellen hat, ist nicht die Frage nach dem Ich, sondern die nach seiner Positionierung im gesellschaftlichen Getriebe. Also nicht: Wer bin ich?, sondern: Was bin ich?, bzw. umgekehrt: Was machst du? Wir fragen uns wechselseitig nach den Masken und wir erhalten dementsprechende Auskünfte. Die essenzielle Frage Wer bist du? erscheint im alltäglichen Zusammenhang als geradezu unverschämt, als Eingriff in die Intimität. Sie wirkt impertinent. Da wird einem tatsächlich zu nahe getreten.

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Die Genügsamkeit, an das verdinglichte Was zu appellieren und das individuelle Wer einfach auszublenden, ist Konvention. Auftreten meint nicht bloß Präsenz, sondern Präsentation. Begegnungen sind keine profanen Erlebnisse, sondern Szenen mit verteilten Rollen. Dass es um Rollen zu gehen hat, steht dabei außer Zweifel. Es gilt, sich aufgrund von Positionen zu bestimmen und für deren Interessen einzutreten. Sämtliche Leben geraten in den Malstrom [ugs für Sog, Wirbel; H.S.] der Performance.

Das bedeutet nun gar nicht, dass eins auch immer mit seiner Rolle zufrieden wäre. Im Gegenteil, man strebt nach Rollen, die eine höhere Wertigkeit als die aktuelle aufweisen. Das nennt sich Karriere. Gemeinhin soll der Beruf als Berufung angesehen werden. Er ist der Ruf, dem man zu folgen hat. Verlangt wird Identifizierung. Man hat nicht nur eine Aufgabe zu erfüllen und deren Standpunkt einzunehmen, man hat sich subjektiv dazu zu bekennen.

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