TARIFFLUCHT: Tarifbindung auf Talfahrt

von Markus Krüsemann / miese-jobs.de  

Die Tarifflucht von Betrieben und Unternehmen hält unvermindert an. Das hat Folgen für den Schutz der Beschäftigten vor schlechter und schlecht entlohnter Arbeit. Doch verweist die Entwicklung auch auf ein tiefer liegendes, gravierenderes Problem.

Wenn Arbeitsverhältnisse nur nach Gutdünken derjenigen ausgestaltet wären, die die Arbeitsplätze anbieten, hätten die auf Arbeit angewiesenen Beschäftigten wenig zu lachen. Wie wenig, das verrät ein Blick auf die frühkapitalistischen Zustände des 19. Jahrhunderts, für die man am besten einen Klassiker konsultiert: Friedrich Engels hat in seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (>> Wikipedia; >> kompletter Text online) die überaus elenden Arbeits- und Lebensbedingungen eindrucksvoll festgehalten. Von solchen Zuständen sind die ArbeitnehmerInnen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften (nicht aber in der Peripherie der Schwellen- und so genannten Entwicklungsländer!) zum Glück weit entfernt. Sie profitieren von Erfolgen der Arbeiterbewegung, zu denen die Etablierung eines Systems der kollektiven Interessenvertretung zählt.

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Wenn die Hauptakteure der Interessenvertretung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verbindlich festlegen, so geschieht dies in Tarifverträgen. Darin haben sich die so genannten Tarifpartner auf Mindeststandards geeinigt, die in allen Betrieben und Unternehmen gelten sollen, die diese Verträge anerkennen und sich damit der Tarifbindung unterwerfen. Solche Standards umfassen neben der Höhe der Entlohnung auch Aspekte der Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeiten oder Urlaubsansprüche und vieles mehr.

Die Bereitschaft der Unternehmen, sich Tarifverträgen zu unterwerfen, war bis in die 1990er Jahre in Deutschland recht ausgeprägt. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die im Rahmen des IAB-Betriebspanels, einer jährlichen Befragung vom mehr als 15.000 Betrieben, erhoben werden, haben 1996 (dem ersten Jahr der Erhebung) 70 Prozent der westdeutschen und 56 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben gearbeitet, in denen branchenweit gültige Tarifvereinbarungen zur Anwendung kamen. Seitdem aber entziehen sich immer mehr Betriebe der Bindung an Tarifverträge.

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