Jeder sein eigener Kolumbus: Volksrepublik Volkswagen

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Helmut S. - ADMIN
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Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Jeder sein eigener Kolumbus: Volksrepublik Volkswagen
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Jeder sein eigener Kolumbus

Wie die Ideologie des Autos und der Autogesellschaft von Westen nach Osten transportiert wird

von Stephan Krull


Manches erinnert an Bertolt Brecht bei Stefan Kaegis Stück vom Autoren-Kollektiv »Rimini-Protokoll«: die Bühne und ihre von wechselndem Licht und Videoinstallationen lebende sparsame Kulisse, die überraschenden Übergänge vom Sprechtheater zum Musiktheater, vor allem aber der materialistische Gehalt der Inszenierung.

Kaegi hat eine überzeugende Bühneninstallation unter dem vielsagenden Titel »Volksrepublik Volkswagen« in das hannoversche Schauspielhaus gebracht. Im Mittelpunkt von Kaegis Arbeit steht die Weiterentwicklung des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen.

Mit dem Ensemble aus Hannover lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer auf neue Weise die Globalisierung und wesentliche Akteure wie die Volksrepublik China und den Weltkonzern Volkswagen kennen. Ohne Fragezeichen wird zum Ende der dokumentarischen Performance der Satz in den Raum gestellt »Vielleicht sollte Volkswagen auch eine Partei gründen.«

Selbst dem weniger informierten Zuschauer wird das verständlich durch Gegenüberstellungen aus dem Programmheft: der Hauptstädte (Beijing und Wolfsburg), der Regierungsformen (Einparteiensystem und Aktiengesellschaft), der Inspiratoren (Mao Zedong und Adolf Hitler / Ferdinand Porsche), der jeweiligen Führungen (Regierungschef Li Keqiang und Vorstandsvorsitzender Martin Winterkorn, Präsident Xi Jinping und Aufsichtsratsvorsitzender Ferdinand Piëch), des internationalen Vergleichs (China auf Platz 2 hinter den USA, Volkswagen auf Platz 2 hinter Toyota), der kulinarischen Spezialitäten (Peking-Ente und VW-Currywurst).

Die Erfahrungen deutscher Ingenieure in China und chinesischer Kader in Deutschland sind von Stereotypen geprägt – ein Spiegel, in dem wir uns und unsere Vorurteile erkennen. Erkennen können wir, wie die Ideologie des Autos und der Autogesellschaft von Westen nach Osten transportiert wird, wenn für die 13th Beijing International Automotive Exhibition (20.–24. April 2014) containerweise Scheinwerfer aus Deutschland eingeflogen werden. Susanna aus der Abteilung Öffentlichkeit erklärt ihrem chinesischen Kollegen Zihan: »Du mußt das Ganze eher wie eine gigantische Kunst-Performance betrachten«, nachdem sie vorher erfahren hatte, wie die flexibel einsetzbaren (Leih-)Arbeiter bei VW in China arbeiten und leben: umgerechnet 200 Euro Monatsverdienst, 320 Arbeitstage im Jahr, Bandarbeit im 64-Sekunden-Takt, »wohnen« ohne Niederlassungsbewilligung in der Stadt als »Dorf-Bewohner« in Achtbettzimmern. Im VW-Werk der nordchinesischen Millionenstadt Changchun mit knapp 15.000 Beschäftigten werden in diesem Jahr eine Millionen Fahrzeuge vom Band laufen – gut 200.000 mehr als im Mutterwerk in der VW-Hauptstadt Wolfsburg mit etwa 21.000 Beschäftigten in der Automobilfertigung.


 

Es kommt schon ein bißchen Zukunftsangst bei den deutschen VW-Entsandten auf, wenn sie feststellen, daß inzwischen fast die Hälfte des Absatzes des Unternehmens in China realisiert wird. Kaegi läßt Julia, die mitreisende Gattin eines Ingenieurs aus Wolfsburg in Shanghai eine übliche Kurzfassung der Geschichte von Volkswagen als Lehrerin der deutschen Schule an chinesische Kinder vermitteln: »In den 30ern entwarf ein jüdischer Ingenieur den Volkswagen [1], in den 40ern gab Hitler den Volkswagen in Auftrag, in den 50ern bauten die Amerikaner die Fabrik wieder auf, in den 60ern kamen die Autobahnen, in den 70ern die Gastarbeiter, in den 80ern die Roboter, in den 90ern der Sozialabbau, in den 00ern die Globalisierung – nun wird Deutschland Exportweltmeister.« Ihre Skepsis wird jedoch deutlich, wenn sie die von Albert Speer junior errichtete »deutsche Autostadt«, tatsächlich eine Geisterstadt in Anting/Shanghai, als Irrwitz bezeichnet: »Wir wären ja blöd gewesen, wenn wir da hingezogen wären.«
 

 

An Brechts frühe Forderung fühle ich mich erinnert: »Für das Publikum gilt dem Stück gegenüber: Jeder sein eigener Kolumbus« (1922, Suhrkamp 1967, Band 15, Seite 78). Wohin hat mich als ehemaligen Beschäftigten und Betriebsratsmitglied von VW dieses Stück geführt? Am Satz von der eigenen Partei, die Volkswagen gründen sollte, bin ich hängengeblieben. Ich erinnerte mich,

  • daß Volkswagen als »NS-Musterbetrieb« in einer »NS-Musterstadt« mit gestohlenem Geld der freien Gewerkschaften gegründet wurde,
  • daß Ferdinand Porsche und Anton Piëch durch Rüstungsproduktion sowie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und jüdischen KZ-Häftlingen reich wurden,
  • daß Werkleitung und Belegschaftsvertretung nach der Befreiung vom Faschismus nicht ausgewechselt wurden (von der Flucht von Porsche und Piëch abgesehen),
  • daß später ein »System Volkswagen« mit »eigenen« Bundes- und Landtagsabgeordneten entwickelt wurde,
  • daß in dem System Sozialpartnerschaft und Co-Management jeden Streik zu verhindern wußten,
  • daß sich Ministerpräsidenten jeglicher Couleur und Gewerkschafter von Zwickel bis Huber in der grundsätzlichen Ausrichtung des Unternehmens immer einig waren.

In den chinesischen Werken sitzt die kommunistische Partei mit am Leitungstisch, und auch in Deutschland widerspricht im Aufsichtsrat niemand der Expansion und den Sparprogrammen des Vorstandes. Als »eigener Kolumbus« bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß Volkswagen keine Partei zu gründen braucht – das Unternehmen ist längst eine solche! Volkswagen ist eine globale Partei zur Ausbreitung der Auto-Ideologie, eine Partei zum partiellen Wohle der Stammbelegschaft, eine Partei zur Vermögenssteigerung des Porsche-Piëch-Clans und der Scheichs von Katar.

Schön und produktiv wäre es, das Stück auch im Wolfsburger Theater zu zeigen. Zu hoffen ist, daß möglichst viele Beschäftigte, auch diejenigen, die nach China entsandt werden, die Gelegenheit bekommen werden, sich das Gedanken und Diskussionen anregende Stück anzusehen.

Stephan Krull


[1] Anmerk. durch ADMIN: Bei dem im Artikel als "jüdischen Ingenieur" bezeichneten Mann handelt es sich vermutl. um Josef Ganz, jedoch müssten als wichtige Vordenker, Visionäre und techn. Entwickler des VW-Käfers auch Béla Barényi und Hans Ledwinka genannt werden. Siehe hierzu auch KdF-Wagen, TATRA Typ V 570, Typ 77 und Typ 87 und Typ 97. Literatur Tipp: Der Käfer - Ferdinand Porsche und die Entwicklung des Volkswagens, von Chris Barber, Verlag Delius Klasing, 2. überarbeitete Auflage, ISBN 978-3-7688-1582-6]



Volksrepublik Volkswagen | Stefan Kaegi

Volkswagen und China. Zwei Global Player begegnen sich. VW begann 1985 als erster westlicher Grosskonzern in China zu produzieren. Inzwischen verkauft der niedersächsische Konzern dort jährlich fast drei Millionen Autos. Aber wieviel Mobilität erträgt die zukünftige Supermacht, deren Millionenstädte in Smog und Verkehrsstau versinken?
 

 

Seit 30 Jahren fahren Autoingenieure aus Niedersachsen in dieses Land, das sich in Lichtgeschwindigkeit zu verändern scheint. In ihren E-Mails an ihre Verwandten und Kollegen in Hannover und Wolfsburg spiegelt sich die Begegnung mit einer fremden Welt zwischen Plan und Überraschungen. Stefan Kaegi ist diesen subjektiven Tagebüchern hinterhergereist: in eine der grössten Autofabriken der Welt, in den Financial District von Peking, in die Arbeitersiedlungen in den Vororten von Shanghai und in die Berge von Sezuan, wo noch Mao-Plakate an den Wänden vergilben.

Auf der Bühne werden die Briefe der Ingenieure zu Kamerafahrten durch die exponentiell wachsenden Metropolen, zu Karaoke-Liedern für Arbeiter und Kung-Fu übungen für Expats. Private Fährten durch ein Land, das nirgends so viel Angst auslöst wie in Deutschland. Das Land der Raubkopien wird auf die Bühne kopiert. Das Auto wird zur Erzählmaschine eines Road-movies, der Geschichten von Kontinent zu Kontinent transportiert.

Volksrepublik Volkswagen | Stefan Kaegi (english subtitles) from Rimini Protokoll on Vimeo.


Rimini Protokoll > www.rimini-protokoll.de/


Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 5/2015 > zum Artikel

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.

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► Bild- und Grafikquellen:

1. VW LOGO - kreativ bearbeitet. Foto: Amelia Ringeisen. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

2. Mit dem VW Käfer durch China bei der „Classic Cars Challenge China“ (4C) 2013: Der TDE-Käfer in einer ländlichen Kleinstadt irgendwo in China. Der Kultstatus des VW Käfers ist ungebrochen, auch in China schaut man sich gerne nach ihm um. Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen

3. China Rallye of International Classic Cars, Oct 2012, Mille-Miglia-Käfer von Volkswagen Classic mit Hans-Joachim Stuck am Steuer. Foto: www.auto-medienportal.net/ 

4. VW Bulli. Foto: Andreas Wecker. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0)

5. VW eröffnet weiteres Fahrzeugwerk in China.

ampnet – 26. Mai 2015. Der Volkswagen-Konzern hat im südchinesischen Changsha ein neues Fahrzeugwerk eingeweiht. Es ist der weltweit 119. Konzernstandort und der 20. in China. Die Fabrik liegt rund 900 Kilometer westlich von Shanghai. Dort beginnt nach zwei Jahren Bauzeit zunächst die Produktion des Volkswagen New Lavida. Weitere Modelle der Marken VW und Skoda werden folgen. Die Gesamtkapazität des Standortes liegt bei 300 000 Fahrzeugen pro Jahr. Im Werk entstehen mehr als 4000 neue Arbeitsplätze, weitere 4000 im angrenzenden Zuliefererpark.

Als erste Produktionsstätte des Joint Ventures Shanghai-Volkswagen wird das Werk in Changsha wird mit dem „Triple-Star Green Building Design Award“ prämiert, der höchsten staatlichen Auszeichnung für umweltschonende Fabrikplanung. Der Wasser- und Energieverbrauch wird dank eines trockenen Lackiersystems, dem so genannten E-Scrub-Verfahren, um mehr als 20 Prozent reduziert. Mittels eines Abscheidesystems werden überschüssige Lackpartikel umweltfreundlich gefiltert. Zudem sinkt der Frischwasserverbrauch in der Produktion durch die Nutzung von Regenwasser und wiederaufbereitetem Wasser um 20 Prozent gegenüber herkömmlichen Verfahren. Eigene Solaranlagen produzieren über 10 000 MWh Energie. Weiterer Strom wird mit Hilfe lokaler Wasserkraft erzeugt. Das Fahrzeugwerk in Changsha wird damit CO2-neutral produzieren. (ampnet/jri). Quelle: http://www.auto-medienportal.net/ > Pressemeldung). Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen.

6. Buchcover: "Die wahre Geschichte des VW-Käfers. Wie die Nazis Josef Ganz die VW-Patente stahlen" von Paul Schilperoord; Verlag: Huber, Frauenfeld  - ein Imprint von Orell Füssli, Zürich 2011, ISBN 978-3-7193-1565-8. (komplett ausverkauft, selbst gebraucht extrem selten zu bekommen!).

7. Buchcover: "Der Käfer - Ferdinand Porsche und die Entwicklung des Volkswagens", von Chris Barber, Verlag Delius Klasing, 2. überarbeitete Auflage, ISBN 978-3-7688-1582-6.

Über zwanzig Jahre Recherche, unter anderem in den sehr frühen Archiven von Volkswagen und Porsche, eine Vielzahl von bislang unveröffentlichten Fotos und Entwicklungsplänen sowie die Kompetenz eines der renommiertesten internationalen Motor-Journalisten und ausgewiesenen Käfer-Kenners verdichten sich in „Der Käfer“ zu einer faszinierenden Auto-Biografie.

Zahlreiche Bücher haben bislang den Werdegang des Käfers beleuchtet, doch alle streifen nur sehr vage seine Entwicklungsgeschichte. Autor Chris Barber konzentriert sich hingegen exakt auf diese Epoche des Kultautos aus Wolfsburg. Er geht noch einmal über siebzig Jahre zurück und begleitet den genialen Autoentwickler Ferdinand Porsche und seine Mannschaft auf ihrer Mission, ein Fahrzeug zu bauen, das den Automobil-Markt revolutionieren sollte.

Der Volkswagen sollte einfach zu bedienen sein, einer fünfköpfigen Familie ausreichend Platz bieten, robust sowie in Großserie zu produzieren sein und er sollte extrem preiswert sein. Ferdinand Porsche gelang dieses Kunststück in einem politisch diffusen und gefährlichen Umfeld. Chris Barbers souveränem Blick ist es zu verdanken, dass aus der Beschreibung des technischen Bravourstückes keine blinde Laudatio auf den Führerstaat Deutschland wird. Vielmehr schafft er es, die einzigartige Entwicklungsgeschichte des Käfers ohne Pathos in die herrschenden Zeitläufte einzuordnen.