Wir müssen wählen: Kapitalismus oder Demokratie

2 Beiträge / 0 neu
Letzter Beitrag
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Wir müssen wählen: Kapitalismus oder Demokratie
DruckversionPDF version

Wir müssen wählen: Kapitalismus oder Demokratie


Thesen anlässlich eines Podiumsgesprächs mit

Werner Rätz (Attac, Blockupy) und Joachim Schubert (IG Metall, Betriebsrat)


von Conrad Schuhler / Vorsitzender des isw (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.)  


1. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Doch wo geht sie hin?

Die „bürgerliche Demokratie“ war von Beginn an ein System der Klassenherrschaft des Kapitals. Den Anspruch dieser Demokratie hat der damalige US-Präsident Abraham Lincoln in seiner Rede in Gettysburg 1863 hingegen so beschrieben: Demokratie, sagte er, sei „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. Im Grundgesetz, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, heißt es dementsprechend (Artikel 20, Abs. 2): „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Bert Brecht hat diesen hohen Anspruch so in Frage gestellt: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Doch wo geht sie hin?“

Sie geht schon immer zu den Eliten der bürgerlichen Gesellschaft. Dies war seit der Beerdigung der bürgerlichen Revolution in Frankreich durch Napoleon so. Joseph Schumpeter, einer der Pioniere der modernen kapitalistischen Volkswirtschafts- und Staatstheorie, nennt die Demokratie dann bloß noch ein Verfahren der Mehrheitsfindung, nämlich „diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnisse vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen erwerben“.

Wer entscheidet diesen Konkurrenzkampf um die Stimmen für sich? Das Regime der Eliten, das durch die Kooperation von Big Business, Government, Think Tanks und Medien bestimmt ist. Sie prägen die Zustimmung zum System und zu den einzelnen Gesetzen, wie Walter Lippmann, ein weiterer der neoliberalen Vordenker und Berater vieler US-Präsidenten, es genannt hat: „the manufactoring consent“, die Fabrikation von gesellschaftlicher Zustimmung durch die darauf spezialisierten Eliten der herrschenden Klasse.

Diese Eliten haben sich in Wissenschaft und Verwaltung, in Unternehmen und Gerichten, in Medien und Bildungssystemen bis zu dem Punkt durchgesetzt, dass die Kanzlerin Merkel ihr Ideal nicht anders beschreiben kann, als dass es um eine „marktkonforme Demokratie“ ginge. Demokratie nur so weit noch, als sie sich mit den Imperativen der Märkte, mit Höchstprofit und erbarmungslosem Wettbewerb verträgt.

Wie eng die Grenzen dieser Art von Demokratie sind, zeigen die Verhandlungen um TTIP, um die sog. Freihandelszone USA-EU. [Anm.: siehe hier und hier] Die Demokratie wird dort ausgemacht als das „nichttarifäre Handelshemmnis“ erster Güte. Ein Vertrag soll festgezurrt werden, wonach gegen jede demokratisch zustande gekommene Regelung, Umweltgesetze zu verbessern, soziale Besserstellungen zu erreichen, die Versorgung mit Gemeinschaftsgütern wie Wasser, Energie, Bildung, Gesundheit zu erhöhen, gegen jede solcher Verbesserungen kann von Konzernen auf Schadenersatz geklagt werden kann, wenn durch die Gewinnerwartungen der Investoren geschmälert werden. „Indirekte Enteignung“ wird das in den Verträgen genannt. Die Demokratie erweist sich für den Neoliberalismus als das fundamentale Hemmnis – deshalb soll sie abgeschafft werden.



2. Worauf stützt sich die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus?

Bei den EU-Wahlen gab es eine Zunahme der Parteien der Europäischen Linken um über 50 % der Sitze. Das ist gut, aber angesichts der Zugewinne der Rechten und der soliden 2/3-Mehrheit der neoliberalen Kräfte um EVP und Sozialdemokraten zu wenig. Es gibt eine breite Unterstützung der neoliberalen Parteien und Konzepte, die allesamt auf eine komplette Aushöhlung der Demokratie hinauslaufen. Ich möchte vier Eckpunkte als wesentliche Stützen dieser neoliberalen Hegemonie kennzeichnen:


2.1 Das Sich-Fügen der Verlierer des allgegenwärtigen gesellschaftlichen Wettbewerbs


Nach dem Motto „Wir sind alle der Finanzmarktkapitalismus“ werden die Krise und ihre Auswirkungen als persönliches Schicksal, wird ein Scheitern als selbstverantwortet empfunden. Wie die Untersuchungen der Heitmeyer-Gruppe über mehr als 10 Jahre hinweg zeigen (Deutsche Zustände), haben die neuen Unterschichten, die prekär Beschäftigten und die schon weitgehend von der Arbeitswelt Ausgeschlossenen, am meisten Angst vor der Zukunft. Doch sie finden sich überwiegend mit ihrem Schicksal ab. Sie verstehen die gesellschaftlichen Abläufe nur zu einem geringen Teil, sie haben eine Biografie des Scheiterns und der Misserfolge, ihnen wird auf breiter Front erklärt, das Nicht-Gelingen ihres Lebens hätten sie sich selbst zuzuschreiben. So sind sie disponiert, sich in die von der neoliberalen Dominanz ausgehenden Kommandos zu schicken.


2.2 Die „exklusive Solidarität“ der Stammbelegschaften – sie suchen den Schulterschluss mit „ihrem“ Unternehmen und grenzen sich nach unten ab


Klaus Dörre und seine Jenaer Soziologengruppe haben zahlreiche Stammbelegschaften in west- und ostdeutschen Industriebetrieben untersucht. Die Grundstruktur des Gesellschaftsbewusstseins dieser Belegschaften haben sie überschrieben mit der Formel "guter Betrieb, schlechte Gesellschaft“. Die Stammbeschäftigten tendieren in hohem Maße dazu, sich positiv mit dem Unternehmen zu identifizieren. Zwar sind kapitalismuskritische Einstellungen weit verbreitet. Doch schlägt sich diese Kapitalismuskritik nicht nieder in eine prinzipielle Kritik an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Die Mehrheit der Stammbelegschaften wünscht sich eine Gesellschaft, die nach dem als gut wahrgenommenen Miteinander von Kapital und Arbeit im eigenen Betrieb funktioniert. Die von den Jenaer Soziologen untersuchten Stammbelegschaften grenzen sich nach unten, gegenüber Arbeitslosen und prekär Beschäftigten ab. Sie entwickeln eine „exklusive Solidarität“, wer nicht zum Betrieb und zur Stammbelegschaft gehört, erfährt keinen oder nur einen verminderten Anspruch auf Solidarität.

 


2.3 Große Gewerkschaften setzen auf Krisen-Korporatismus mit dem Kapital – gemeinsam will man siegen im globalen Wettbewerb


Hier ist besonders das Verhalten der IG Metall von Bedeutung, mit 2,3 Millionen Mitgliedern die größte deutsche Gewerkschaft. Sie organisiert die Betriebe der Metall- und Elektroindustrie, die für 60 % aller deutschen Exporte aufkommt. Eine Strategie der Gewerkschaft und Betriebsräte, „ihre“ Betriebe wettbewerbsüberlegen zu halten oder zu machen, wird logischerweise dazu führen, die sozialen Standards den globalen Konkurrenten anzunähern und sie schließlich zu unterbieten. Die IG Metall stellt selbst fest, dass sie in der Krise mit dem Unternehmerlager und der Politik kooperiert hat mit der Folge von Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich und anderen sogenannten „Lohndämpfungsmaßnahmen“. Hans-Jürgen Urban vom IGM-Vorstand meint, dass hierin kein Versagen gewerkschaftlicher Interessenvertreter zum Ausdruck käme, sondern „die objektive ökonomische Logik der Konstellation“. Dieser „objektiven ökonomischen Logik“ kann der deutsche Exportüberschussweltmeister unter neoliberalen Bedingungen aber nie entkommen – weder in der Krise noch in angeblich „normalen“ Zeiten.


2.4 Die Klasse der Sieger entwickelt eine „rohe Bürgerlichkeit“ – hoch der eigene Status, weg mit den Unnützen


Rosa Luxemburg prägte die Formel „Sozialismus oder Barbarei“. Dieser Barbarei kommt der gegenwärtige neoliberale Kapitalismus immer näher. In seiner Studie spricht Wilhelm Heitmeyer von einer „rohen Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen antastbar macht und dabei zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert“. Diese Rohheit hat im vergangenen Jahrzehnt enorm zugenommen. „Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen, die in höheren Einkommensgruppen einmal anzutreffen waren, scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – ja: verrohte – zu verwandeln.“ Diese wachsende Rohheit zeichnet sich vor allem auch „durch Tendenzen eines Rückzugs aus der Solidargemeinschaft aus.“



3. Die Herstellung der Demokratie verlangt die Demokratisierung der Wirtschaft

Die bürgerliche Demokratie kennt bloß die formale politische Gleichheit – die Gesellschaft aber ist in ungleiche Klassen aufgeteilt – aus der Dominanz des Kapitals erwächst die Herrschaft über die öffentliche Meinung und die Anerkennung der Imperative des Kapitalismus.

Wolfgang Streeck (Direktor des Max-Plack-Instituts in Köln): „Mehr denn je scheint wirtschaftliche Macht heute zu politischer Macht geworden zu sein, während die Bürger fast gänzlich ihrer demokratischen Verteidigungsmöglichkeiten und ihrer Fähigkeiten beraubt sind, die mit denen der Kapitaleigner nicht vereinbar sind.“

Wenn der Kapitalismus dabei ist, die Demokratie abzuschaffen, dann müssen Demokraten dazu übergehen, den Kapitalismus zu überwinden. Die Alternative lautet: Autoritärer Kapitalismus oder solidarische Demokratie. Ohne die Demokratisierung der Wirtschaft ist die Herstellung einer gesamtgesellschaftlichen Demokratie nicht zu haben.



4. Widerstand – die entscheidende Größe für das Selbstbewusstsein der „Subalternen“, für die Mobilisierung zum Kampf um Demokratie


4.1 Das derzeitige demokratische Potential erzielt Wirkung, ist aber noch zu schwach


Das derzeit aktive Potential in Deutschland ist stärker, als es die neoliberal dominierten Medien darstellen. Dazu gehört der jüngste Wahlerfolg der Europäischen Linken, ebenso wie das Erstarken von Attac, das Ende 2013 über 27.000 Mitglieder zählte und eine Hauptkraft gegen den Demokratie-Abriss durch das TTIP darstellt. Blockupy ist national und EU-weit aktiv und mobilisiert gegen eine der institutionellen Stützen des Finanzkapitals, gegen die Europäische Zentralbank. Die Gewerkschaften, auch der DGB, sprechen sich klarer gegen die Austeritätspolitik des EU-Regimes aus. Dennoch sind wir ein gutes Stück davon entfernt, dem antineoliberalen Protest die „Macht der organisierten Lohnarbeit“ (Urban) hinzufügen zu können. Dies muss eine der Hauptaufgaben der kommenden Mobilisierungsphase sein.


4.2 Das Gebot der Stunde heißt: Widerstand


Politischer Widerstand ist natürlich auf Erfolg aus, aber schon in seinem Versuch verändert er sowohl den, der Widerstand leistet, als auch die ganze Umgebung, die Zeuge davon werden. Gerade in einer Lage, da viele so genannte Verlierer sich in die Resignation schicken, da die Gleichgültigkeit der Vielen ebenso anhält wie die Hoffart, die rohe Arroganz der Mächtigen, sind Akte des Widerstands ganz entscheidend. Sie verändern das Selbstverständnis aller, die die Akte wahrnehmen, vor allem diejenigen, die sie ausführen und sich vielleicht zum ersten Mal als politisch Handelnde wahrnehmen.

Unser Grundgesetz räumt dem Widerstand einen hohen Rang ein. Artikel 20, Absatz 4 lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Zu der Ordnung, auf die hier verwiesen wird, gehört laut Artikel 14: „(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“

Angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse ist die Schlussfolgerung zwingend, dass der Gebrauch des Eigentums in Deutschland durch die Kapitalisten nicht dem Wohl der Allgemeinheit dient, sondern dem Wohl der Reichsten zu Lasten der Allgemeinheit.

Auch die zweite Voraussetzung des Grundgesetzes ist erfüllt. Offenbar ist die öffentliche Meinung, gesteuert durch die vielfältigen neoliberalen Medien, durch bloßes abstraktes Argumentieren nicht zum Nachdenken und Umschwenken zu bewegen. Dann sind Akte des zivilen Ungehorsams, und das ist hier gemeint mit Widerstand, dann ist ziviler Ungehorsam angesagt, z.B. das Umzingeln von Banken, Behörden und Betrieben.

Dann sind Aktionen angesagt, wie sie Blockupy für die Eröffnung des neuen Prachtbaus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt für den Herbst 2014 angekündigt hat.

Seien wir alle dabei.

Conrad Schuhler
 



Mehr Informationen und Fragen zur isw:


isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Johann-von-Werth-Straße 3
80639 München

Fon 089 – 13 00 41
Fax 089 – 16 89 415

isw_muenchen@t-online.de

 

www.isw-muenchen.de  /  https://www.facebook.com/iswmuenchen

 

 



Infos über Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. :

Im Juni 1990 haben kritische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen in München das isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. gegründet. Seitdem haben wir fast zweihundert Studien und Berichte veröffentlicht.

Das isw versteht sich als Wirtschaftsforschungs-Institut, das alternativ zum neoliberalen Mainstream Analysen, Argumente und Fakten für die wissenschaftliche und soziale Auseinandersetzung anbietet. Unsere Themen und Forschungen beziehen sich deshalb in besonderem Maß auf die "Bedürfnisse" von Gewerkschaften und von sozialen, ökologischen und Friedensbewegungen. Unser Anspruch ist, Wissenschaft in verständlicher Form darzustellen und anschaulich aufzubereiten. Deshalb sind isw-Ausarbeitungen auch besonders geeignet für Unterricht und Schulungsarbeit und als Grundlage für Referate und Diskussionen. Die Mehrheit unserer LeserInnen, AbonnentInnen und Förder-Mitglieder sind Menschen, die sich in Bewegungen und Gewerkschaften engagieren.

  • Im Zentrum unserer wissenschaftlichen Analysen und Forschungsarbeit stehen Fragen und Probleme der Globalisierung, der Bewegung des transnationalen Kapitals, der Rolle und Wirkungen der Multis und transnationalen Institutionen (IWF, WTO, OECD, G7, etc).
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bilden Verteilungsfragen: Einkommens- und Vermögensverteilung, Interdependenz von privatem / gesellschaftlichem Reichtum und Armut.
  • Im Rahmen der Friedensforschung befassen wir uns mit Aspekten der Rüstungsökonomie (z.B. Konzentration in der Rüstungsindustrie), der Militärstrategie und Auswirkungen von Rüstung und Krieg.
  • Im ökologischen Bereich konzentrieren wir uns auf Fragen der Energiewirtschaft und -konzerne.
  • Schließlich beschäftigen wir uns kontinuierlich mit Untersuchungen zur Entwicklung der Sozialsysteme, der Konjunktur- und zyklischen Entwicklung der Weltwirtschaft.

Auf Veranstaltungen und jährlich stattfindenden isw-Foren werden Erfahrungen ausgetauscht, Gegenstrategien diskutiert und Alternativen erarbeitet. Wir freuen uns über Vorschläge und Anregungen, aber auch über solidarische Kritik.

 

Unterstützung

isw braucht Fördermitglieder, Spenden und AbonnentInnen

Das isw kann inzwischen auf 25 Jahre intensiver Publikations-, Vortrags- und Seminararbeit zurückblicken. Ohne die Unterstützung unserer Fördermitglieder, ohne zusätzliche Spenden und ohne AbonnentInnen hätten wir dies nicht schaffen können.

Ein alternatives Projekt wie das isw ist auf aktive Mitarbeit und auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die materielle Grundlage unserer Arbeit schaffen unsere Leserinnen und Leser. Weder Parteien noch Verbände noch Stiftungen alimentieren uns. Unsere Publikationen finanzieren wir, neben der Selbstausbeutung der Autorinnen und Autoren und der zahlreichen Aktiven im Institut, aus den Beiträgen der rund 1.500 FörderInnen und AbonnentInnen. Jeder Euro, jedes zusätzliche Fördermitglied, jedes zusätzliche Abonnement ist von Bedeutung.

 


 

Bild- u. Grafikquellen:


1.  Plakat von ca. 1909. Es zeigt Abraham Lincoln und einen Teil seiner Gettysburgrede v. 1863. Veröffentlich durch M.T. Sheahan, Boston, Mass. Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3g12220 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar. Diese Mediendatei ist gemeinfrei in den Vereinigten Staaten. Dies gilt für US-amerikanische Werke, deren Urheberrecht erloschen ist, üblicherweise, weil ihre Erstveröffentlichung vor dem 1. Januar 1923 liegt.

2. Kapitalismuskritik-Graffiti "Fight Capitalism - Kampf dem Kapitalismus", Autor: Si Griffiths, Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

3. Kapitalistische Demokratie. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress

 

Bild des Benutzers Rene Wolf
Rene Wolf
Offline
Verbunden: 19.05.2012 - 09:03
Wir sind Barbaren. Haben wir die Wahl?


Wir sind Barbaren. Haben wir die Wahl?


Barbaren waren im antiken Griechenland Menschen, die sich unverständlich ausdrückten. „Brr, brr“ war ihre Rede. Oder „Rhabarber, Rhabarber“. „Kapitalismus oder Demokratie“, diese Frage ist barbarisch. Unverständlich.

Von den Ärmsten unserer Gesellschaft wird im obigen Beitrag behauptet: „Sie verstehen die gesellschaftlichen Abläufe nur zu einem geringen Teil...“

Mit den „Ärmsten“, die als die „neuen Unterschichten, die prekär Beschäftigten“ aufs Wärmste bedauert werden, sind jene gemeint, welche nicht normgerecht in die Erwerbsarbeits- Welt eingegliedert sind. Man mag sich fragen, ob der Autor des Beitrags, Conrad Schuhler, nicht selbst zu den Ärmsten gehört, wenn auch vornehmlich im geistigen Sinne. Wen genau von jenen „prekär Beschäftigten“ meint er denn, welche Gruppe oder Einzelperson findet sein aus rationaler Höhe schauendes Mitgefühl?

Herr Schuhler mag mir nachsehen, dass ich für ihn ähnliches Mitgefühl aufbringe (welches ich jedoch konkret an ihn adressiere), wie er für jene, die angeblich allesamt „die gesellschaftlichen Abläufe nur zu einem geringen Teil“ verstehen. Zur Verdeutlichung seiner nebulösen Gesellschaftsvorstellung sei er hier mehrmals zitiert:

„Die Demokratie erweist sich für den Neoliberalismus als das fundamentale Hemmnis – deshalb soll sie abgeschafft werden.“

Wer will die Demokratie abschaffen? Ist sie nicht der beste Deckmantel für das Kapital? Wir dürfen schließlich wählen- die allermeisten Deutschen tun das ungehemmt, aller sich steigernden Ungerechtigkeiten zum Trotz, die von den Gewählten verübt werden. Warum sollte das Kapital dem Volk nicht seine Religion lassen, ja diese gar noch befördern? Denn nichts anderes als Religion ist in der Tatsache zu sehen, dass Menschen an die Verbesserung ihrer Lebensumstände glauben, in dem sie sich einbilden, etwas zu wählen, was ihnen doch nur vorgekaut wurde, damit sie es leichter schlucken.

Aber die Linken... gewinnen doch Stimmen! Was ändert das?

  • Was haben Linke Parlamentarier konkret erreicht in den letzten Jahren?
  • Wozu ruft die Linke auf, abgesehen von allgemeinen und daher unmöglich zu verwirklichenden Parolen wie „Sozialismus oder Barbarei“ (Sozialismus oder Rhabarber, Zivilisation gegen Primitive)?
  • Ruft die Linke zu irgendwelchen Aktionen, welche nicht längst innerhalb des kapitalistischen Manipulations-Systems vorgesehen und als Beschwichtigungsmassnahme integriert sind?

Wahlen, Demonstrationen (nach Feierabend), Petitionen (locker zu Hause online auszufüllen), Kongresse und Diskussionen (so lange wir reden, ist alles gut)- was hat das alles gebracht, außer der Gewissensberuhigung „bewusster“ Bürger, die auf die Frage ihrer Kinder, ob sie sich gegen das System gewehrt hätten, sagen: „Natürlich. Im Rahmen legaler Möglichkeiten.“


Wer MACHT die Gesetze?

„...haben die neuen Unterschichten, die prekär Beschäftigten und die schon weitgehend von der Arbeitswelt Ausgeschlossenen, am meisten Angst vor der Zukunft. Doch sie finden sich überwiegend mit ihrem Schicksal ab. Sie verstehen die gesellschaftlichen Abläufe nur zu einem geringen Teil, sie haben eine Biografie des Scheiterns und der Misserfolge, ihnen wird auf breiter Front erklärt, das Nicht-Gelingen ihres Lebens hätten sie sich selbst zuzuschreiben.“

Ja, die Armen haben sich zum Teil das Nicht- Gelingen ihres Lebens selbst zuzuschreiben. Indem sie den Arbeitsplatz über alles stellen, was sie froh machen könnte. Indem sie den Konsum als ihr Recht einfordern, und die Mittel dazu. O heilige Lohntüte, wachse nur. Mit dir wächst mein Bauch. Ein fetter Bauch ist das beste Alibi, um nicht auf die Straße zu gehen.

„Von der Arbeitswelt ausgeschlossen“- wären das nicht gern all die Lottospieler?

  • Warum verstehen die Verzweifelten „die gesellschaftlichen Abläufe nur zu einem geringen Teil“?
  • Etwa deshalb, weil sie der Propaganda neoliberaler wie linker Demagogen erliegen?
  • Weil sie sich einreden lassen, dass Erwerbsarbeit das Mittel zur persönlichen Freiheit und des Wohlergehens ist und sie daher weder Zeit noch Kraft zum Bücherlesen, zum Denken und zur Selbstorganisation unter Gleichen haben?
  • Eine „Biografie des Scheiterns und der Misserfolge“, könnte sie nicht eine Chance sein, zum Denken zu gelangen?
  • Zum Denken in einer Gesellschaft, die monetäre und luxuriöse Erfolge heiligt- und sich damit selbst und ihrer Umwelt immer mehr Verbrechen antut?

„Ohne die Demokratisierung der Wirtschaft ist die Herstellung einer gesamtgesellschaftlichen Demokratie nicht zu haben.“

  • Was hätten wir zu erwarten, wenn Wirtschaft demokratisiert würde?
  • Würde die Jugend rufen: „Baut mehr billige Smartphones“?
  • Und die Älteren: „Kostenlose Mercedes „smart“ für alle“?
  • Die Rentner: „Billigere und smartere Sex- Sklavinnen aus dem Osten“?

Denn soweit sind wir längst. Auf den Müll, der heute produziert und als Dienstleistung verkauft wird, will kaum jemand verzichten. Worum es den meisten „Zivilisierten“ geht, ist der freie Zugriff auf Überflüssiges, auf totale und sich ständig erweiternde Wahlmöglichkeiten zwischen Parteien, Waren, Informationen, Leistungen. Immer mit der Unschuldsgebärde, dem wohlstandsgenährten Achselzucken: „Das haben wir alles selbst erarbeitet. Das ham´ mer uns verdient!“ (typischer Ausdruck des neokolonialen Kannibalismus)

„Dennoch sind wir ein gutes Stück davon entfernt, dem antineoliberalen Protest die „Macht der organisierten Lohnarbeit“ (Urban) hinzufügen zu können. Dies muss eine der Hauptaufgaben der kommenden Mobilisierungsphase sein.“

Die Lohnarbeit muss organisiert sein. Und sie muss mächtig sein. (Beides erledigen mächtige Vereine wie die Linke und attac, während ihrer allgemeinen Mobilmachung eines den Krieg vermissenden Volkes)

  • Ob Lohnarbeit sinnvoll ist, steht nicht zur Debatte. Wie wird denn heute gearbeitet?
  • Wer ist auf „seine“ Produkte stolz?
  • Welche Fähigkeiten- außer Knöpfe drücken und Tabellen auswerten- werden denn zunehmend nötig in einer übertechnisierten, automatisierten, rationalisierten Welt?

„Dann sind Akte des zivilen Ungehorsams, und das ist hier gemeint mit Widerstand, dann ist ziviler Ungehorsam angesagt, z.B. das Umzingeln von Banken, Behörden und Betrieben.“

Umzingeln, aber nicht eindringen! Legal bleiben! Das ist wahrer „Ungehorsam“.

Wie wäre es mit Aufhören, Ignorieren, Sabotieren? Was will ich in einer Bank?

In einer Behörde, ja: was will ich in einem Betrieb?

Warum erflehe ich Gerechtigkeit von jenen, die ihre Existenz grundsätzlich einer Fülle von Ungerechtigkeiten verdanken? (Vielleicht kommen wir so zum ursprünglichen Sinn von „prekär“: „precari“ heißt „flehentlich bitten“- also ist ein „prekär Beschäftigter“ jemand, der um seine eigene Ausbeutung bettelt oder etwas erträglichere Ausbeutungs- Bedingungen einfordert)

Die Bank, die Behörde und der Betrieb haben deshalb Macht, weil ich sie anerkenne.Weil ich hingehe. Mich ihnen ver- dinge, mich zum Ding mache. Weil ich so gerne in geschlossenen Räumen sitze, shoppen gehe, mich durch Medien einschläfern lasse, mich durch Auto- Mobile unbeweglich werden lasse, weil ich nichts daran finde, ein „belieferungsbedürftiges Mängelwesen“ (Marianne Gronemeyer) zu sein.


Und die Alternativen?

Was sind Alternativen zur „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (I. Kant)?

Es gibt keine. Keine real zu erkennenden jedenfalls. Natürlich mag man versuchen, als Einzelner in Subsistenzwirtschaft zu leben, sich als Kleingärtner selbst zu versorgen. Die Verwaltung duldet das nur teilweise. Und die nächste Krankenkassenforderung kommt bestimmt.

Bei aller Sympathie für den angestrebten Dialog zwischen ATTAC, der LINKEN und weiteren sich als oppositionell verstehenden Gruppen mit dem „Volk“ halte ich es mit dem Dramatiker Heiner Müller: „Große Gruppen von Menschen haben noch nie etwas begriffen ohne Schock, ohne Katastrophe.“

Das wünschen sich die Wenigsten, auch die wenigsten unter denen, die Zeit und Kraft für eigene Bewusstwerdung haben. Doch wo ist die reale Tendenz, Bewusstsein von Massen ohne Katastrophe zu erzeugen? Wo in unserer westlichen Welt, sollte man wohl einschränkend fragen. Aber wer fragt die Primitiven? (Der „Primitive“ ist der Erste seiner Art. Wir sollten uns fragen, ob unsere „zivilisierte“ Welt nicht das LETZTE ist.)

 

Nu pogodi!

René L. Wolf

 

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden.