Zum (Anti)Kriegstag: Syriens rote Linien

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Wolfgang Blaschka
Wolfgang Blaschka
Offline
Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Zum (Anti)Kriegstag: Syriens rote Linien
DruckversionPDF version

Zum (Anti)Kriegstag: Syriens rote Linien

von Wolfgang Blaschka


Es gab Zeiten, da konnte sich kaum jemand vorstellen, dass eine Stadt ohne Stadtmauer existieren könnte ohne geplündert, gebranntschatzt oder dem Erdboden gleich gemacht zu werden. Entsprechend war sie befestigt. Um die Mauern und Wälle der Fortifikationen ragten Bastionen ins Umland, mit Wassergräben gesichert und mit Geschützen bewehrt, um nur ja eventuelle Belagerungstruppen fernzuhalten und das Glacis zu kontrollieren. Der "Burgfrieden" bezeichnete die imaginäre rote Linie drumherum, über die kein fremdes Heer marschieren durfte, und innerhalb derer das Stadtrecht galt. Diese Grenze, innerhalb derer Burgfrieden zu herrschen habe zwischen den Bürgern, und außerhalb derer die böse Welt zu bleiben hatte, galt später sinngemäß auch für Länder und Staaten.

  • Was nun, wenn der Unfrieden innerhalb der Stadt, innerhalb des Staates ausbricht und sich in einem blutigen Bürgerkrieg entlädt, in dem es keine klaren Grenzen gibt?
  • Wenn Barrikaden errichtet und Stadtviertel erobert oder verteidigt werden?
  • Wo verlaufen da die roten Linien?
  • Gibt es sie da noch, wo der offizielle Henker sein Monopol verloren hat, wo jeder sein eigener wird?
  • Irgendwann schwimmen die Gassen von Blut und alles ist rot, die Maßstäbe verfließen, die Brutalität eskaliert. Würden die Stadtherren dem Treiben tatenlos zusehen?
  • Würden sie nicht versuchen, die Stadt, die sie als die ihre betrachten, wieder unter Kontrolle zu bringen?
  • Könnten sie tatenlos zusehen, wenn über den Vorstädten der Aufstand lodert?
  • Sie würden alles Mögliche tun, um ihn niederzuschlagen. Aber wie?! Mit Giftgas?

Schwer vorstellbar, zumal sie unter argwöhnischer Beobachtung der Weltöffentlichkeit stehen und bereits UN-Inspektoren im Lande sind, um frühere Fälle von Giftgas-Funden zu untersuchen. Sie müssten über Nacht verblödet oder aber eisern zum Selbstmord entschlossen sein.



Umgekehrt aus der Sicht der Aufständischen: Sie würden alles tun, um das Stadtpalais, die Residenz, das Schloss zu erobern, sie würden Straße um Straße unter ihre Kontrolle zu bringen versuchen, die Getreide-Kontors, die Mühlen, die Waffenarsenale. Sie würden obrigkeitstreue Bürger gezielt beschießen und die Stadtwache meucheln, dabei vielleicht auch versehentlich Kinder töten, wenn es nicht ihre eigenen sind, und alles, was ihnen im Wege stünde, beiseite räumen, um die Herrschenden zum Abdanken und zur Flucht zu bewegen. Aber würden sie in den von ihnen selbst gehaltenen Stadtteilen Massaker anrichten, um sie den Stadtoberen in die Schuhe zu schieben? Mit Giftgas? Eigentlich unvorstellbar. Genauso unvorstellbar wie damals eine Stadt ohne Mauer.

So skrupellos kann nur jemand sein, der entweder keinerlei Gewissen oder gar nichts mehr zu verlieren hat, weil er mit dem Rücken an der Wand steht und nur noch alles mit sich in den Untergang reißen will. Nun trifft das aber auf Bürgerkriegsparteien, solange sie um die Macht im Staat oder in der Stadt kämpfen, nur bedingt zu. Sie wollen sie ja entweder befreien oder "befrieden", jedenfalls unter ihre Kontrolle bringen, um sie nach ihren Vorstellungen zu regieren. Beide wollen nicht nur eine Trümmerlandschaft übernehmen, keinen Friedhof erben. Schon gar keine völlig sinnlosen Opfer darbringen, zumal unter ihresgleichen. Die Rebellen nicht, weil sie sonst nicht als "Befreier" gelten könnten, sondern als elendes Mörderpack, und die noch Regierenden nicht, weil das ihr politisches Ende nur beschleunigen würde. Wer macht sowas also? Wer hat ein Interesse, über tausend Menschen mit Giftgas zu töten, um eine Stadt oder eine Vorstadt einzunehmen oder zu halten?

Die Rebellen, möchte man meinen, nicht, denn sie hatten sie ja schon in Besitz. Es traf ihre Leute, meist freilich Zivilisten. Doch immerhin waren sie in der Defensive und wussten um die Rote Linie, jenseits derer ihnen Hilfe von außen zuteil würde. Nichts sehnten sie heißer herbei, doch wollten sie diese erhoffte Unterstützung mit einem derart abscheulichen Verbrechen provozieren? Würde ihnen das gedankt werden nach einem Sieg, wenn es herauskäme? Würden sie nicht, statt im Siegesrausch reihenweise Alewiten, Christen und Kurden zu füsilieren, selbst gelyncht von der betroffenen sunnitischen Bevölkerung?

Die Regierung, möchte man annehmen, auch nicht, denn sie war in der Offensive und wusste ebenfalls um die Rote Linie, jenseits derer eine Intervention zugunsten der Aufständischen kaum noch auszuschließen war. Gegen eine Armada von außen und gegen die Aufständischen im Inneren kämpfen zu wollen, kann ihr niemand andichten. Man mag ihr Despotismus unterstellen, und sie hat ihren rigorosen Durchhaltewillen und ihre militärische Kampfbereitschaft bisher deutlich unter Beweis gestellt. Das war genau der Grund für die Errichtung der Roten Linie. Man brauchte einen triftigen Vorwand einzugreifen, um einen Regimewechsel zu legitimieren. Obwohl das offiziell so nicht gesagt wird, eher das Gegenteil. Nun hat man ihn scheinbar. Die Kriegsmeute jubelt. Endlich! Die Rote Linie ist gerissen. Fragt sich nur von wem.

Nein, fragt man sich schon gar nicht mehr. Die Frage hat sich erübrigt, wo doch nur die Antwort gesucht war. Egal, wer das Teufelszeug versprüht hat: Jetzt muss gehandelt werden. Gefahr im Verzug. Srebrenica direkt vor Damaskus! Nein, das geht gar nicht. Da muss eine Lektion erteilt werden. Das darf nicht straflos durchgehen. Egal, wer schuld ist, einerlei wer es getan hat. Giftgas ist Giftgas, und das hat nur in westlichen Giftgas-Depots und –Laboratorien gebunkert zu sein, für welchen Fall auch immer. Alles andere ist akuter Ernstfall. Nun wird es richtig bitter ernst. Vielleicht lauert sogar Sarajewo vor den Toren von Damaskus, jener Funke für den Ersten Weltkrieg.

Denn auch die syrische Regierung hat rote Linien gesetzt. Und Moskau drängt darauf, diese zu beachten. Die Revolutionsgarden aus Teheran sind auch schon da. Es könnte tatsächlich den Feuerball geben, von dem Assad sprach. Einen Flächenbrand im Nahen Osten, direkt neben Israel, das selbst ebenfalls längst schon geschossen hat, mehrmals. Das ergäbe also einen kleinen Weltkrieg, selbstverständlich unter Einschluss des stets kriegswilligen Westens. Ohne Europa niemals ein Weltkrieg, das ist sein altes Vorrecht! Frankreich und Großbritannien hetzen schon offen, Deutschland ist (nicht nur rein geographisch, sondern auch mit einem eigenen Spionageschiff der Bundesmarine) näher dran und hält sich vage bedeckt, aber in der Türkei sind bereits die deutschen Abwehrraketen installiert. Ein Schuss aus Syrien auf NATO-Territorium, und schon tritt der Bündnisfall ein, der Ernstfall, der offiziell "Verteidigungsfall" genannt wird.

Das dürfte den Leuten im Präsidentenpalast von Damaskus klar sein. Sie wollen keinen Krieg gegen die NATO führen, sondern ihren säkularen Staat gegen die Dschihadisten der Al-Nusra-Front verteidigen, gegen Al-Quaida letztlich. Ganz im Sinne der westlichen Antiterror-Allianz eigentlich, dürfte man denken. Warum sollten sie Giftgas einsetzen, um noch mehr Fronten zu eröffnen, als sie halten könnten? Noch dazu, wo sie in letzter Zeit deutlich auf dem Vormarsch sind? Es gibt keinerlei Grund, sich selbst zu schwächen. Wer also hat das Nervengas freigesetzt? Noch wissen wir es nicht. Die Geheimdienste sagen, sie wüssten mehr. Dürften sie freilich gar nicht sagen, es soll ja geheim sein.

Es muss jemand sein, der knallhart rechnet. Dem es völlig egal sein konnte, wen es trifft. Jemand, der da ganz bestimmt nicht wohnt, und auch keine Verwandten oder Freunde dort weiß. Giftgaseinsatz ist kaum zu kalkulieren, zu unvorhersehbar sind Luftdruck, Temperatur und Windrichtung. Die deutschen Truppen, deren Chemiker diese Dreckskübel rechtzeitig zum Ersten Weltkrieg zur Einsatzreife gebracht hatten, wussten in den Schützengrabenstellungen ein Lied davon zu singen, falls sie es überlebt hatten. Manchmal zogen die Schwaden ihnen unversehens entgegen, sobald der Wind sich gegen sie drehte. Mit Gasmasken lässt sich zudem schwerlich vorwärts stürmen. Wer Nervengas zum Einsatz bringt, sollte weit weg sein. Das wäre im Zeitalter der Flugzeuge kein Problem, aber versprühen aus der Luft ist noch weniger treffsicher zu handhaben, die Gase könnten sich kilometerweit verteilen, ehe sie zu Boden gingen, eventuell über "eigenem" Terrain. Was wem wie sicher "gehört", ändert sich von Tag zu Tag. Es gibt derzeit nur hastig aktualisierte Generalstabskarten; von Grenzen keine Rede im Kampfgeschehen, sie sind immer in Bewegung, gelten manchmal nächtens nur stundenweise. Tagsüber können die Fronten anders verlaufen.

Die im Atlas rot eingezeichneten Linien zu überschreiten, hatte oft genug Kriegserklärungen zur Folge. In der Landschaft sieht man sie selten, diese roten Linien, aber in den Köpfen der Potentaten sind sie unverrückbar eingebrannt. Grenzsteine heimlich zu versetzen galt im Mittelalter als schweres Verbrechen, sie gänzlich zu ignorieren wagten Wenige. Diplomatisch werden sie bis heute peinlichst respektiert. Aber nur bis zum Moment der Kriegserklärung. Das ist dann der Dammbruch, ab dem die alte Ordnung in Gefahr gerät, fortgespült zu werden. Das kann für die einen befreiend wirken, und für andere das Ende ihrer Existenz bedeuten. In jedem Fall ist es mit großen Verlusten an Mensch und Material verbunden, auf beiden Seiten. Nur selten allerdings persönlich für die Generäle im fernen Hauptquartier, die das Ganze überblicken und anheizen, für die ist es in jedem Fall ein Gewinn, egal wie's ausgeht. Sie befehligen aus dem Offizierscasino heraus bataillonsweise in den Tod. Neuerdings sogar satellitengestützt, per Knopfdruck am Joystick.

Da jeder Krieg eine unbeherrschbare Eigendynamik entfalten kann, wollte man ihn einst zähmen. Mit Genfer Konventionen, einer Haager Landkriegsordnung, mit roten Linien eben, die die Blutspur begrenzen und den Krieg ordentlich und geordneter führbar machen sollten. Sonst hätte man irgendwann die Generäle füsiliert und an ihren Gedärmen aufgehängt, wäre man ihrer später habhaft geworden. Davon haben sowohl die Truppen als auch die Zivilbevölkerung partiell profitiert. Danach musste um die Kathedralen herumgebombt und geschossen werden, soweit sie unter Denkmal- oder Kulturgutschutz standen. Man erkennt das aus der Luft nicht sehr gut, aber sie tragen ein blauweißes Blechschild an der Fassade. Für den regulären Krieg ist so einiges geregelt, selbst für den Fall dauerhafter Besatzung. Doch eine handhabbare allseits anerkannte Bürgerkriegsordnung gibt es nicht. Das herkömmliche Völkerrecht zählt kaum mehr, seit die ganze Welt von den Globalisierern zu ihrem Dorf erklärt wurde. Alles irgendwie Inland, zumindest in den glänzenden Augen der jeweils Willigen. Die USA geben den Sheriff, Ankläger, Weltenrichter und Henker in einem. Soviel Macht hat Obama dann doch wieder, auch wenn er Guantanamo nicht schließen und eine Krankenversicherung für alle nur mit Hängen und Würgen durchsetzen konnte. Jeden Dienstag darf er im Oval Office nach Liste der CIA ein paar Terrorverdächtige zum Abschuss durch Drohnen freigeben. Das war es nicht, wovon Dr. Martin Luther King vor 50 Jahren in Washington träumte. Nein, das war es gewiss nicht.

 


Es gibt kaum einen Schutz im industriellen Krieg und noch weniger im hochtechnisierten, im Atomkrieg schon gar nicht. Im Mittelalter konnte man sich hinter Stadtmauern oder in eine Wehrburg flüchten, und kurz vor'm Ende in den Belfried, dessen Einstiegsloch hoch über dem Boden lag und leicht zu verteidigen war. Solange der Burgfrieden hielt. Dauerte die Belagerung zu lang, und der Hunger und die Aussichtslosigkeit wurden zu stark, war er freilich gefährdet. Dann öffnete man dem Feind lieber die Tore als zusammen mit den Burgherren kläglich zu verenden. In den Städten war die "Sicherheitslage" ohnehin fragiler und disparater. Immer wieder wüteten Pogrome, loderten Hexenverfolgungen auf, brandete eine "Bartholomäusnacht" – gegen wehrlose Minderheiten zumeist, die dem vorsätzlich geschürten Volkszorn überantwortet wurden, um die eigene Herrschaft zu sichern oder zurückzuerlangen. Dennoch galt über Jahrhunderte: "Stadtluft macht frei". Zumindest von der Fron. Dafür nahm man in Kauf, an den Stadtmauern mitzubauen, sie zu bewachen. Manche wohnten sogar direkt angelehnt an sie am "Lug-ins-Land". Besser als auf offenem Dorf jederzeit geplündert, zu Schanzdiensten gezwungen oder als Landsknecht rekrutiert zu werden. Zwar roch das Dorf gesünder, doch der stinkende Mief der Städte duftete freier, trotz Pest und Cholera.

Bis anfangs des 19. Jahrhunderts die Artillerie soweit entwickelt war, dass das alles keinen Sinn mehr ergab und nur die Entwicklung der wachsenden Städte behinderte. Dann wurden die über Generationen mühsam aufgehäuften Monumente der Mächtigkeit, oft auf Geheiß des (noch) siegreichen Napoleon, geschleift und eingeebnet, im klügeren Fall zu Parkanlagen umgestaltet oder aber zu Boulevardringen, Bahnhofsvorplätzen mit angeschlossenem Gleisareal oder gleich direkt fürs Fabrikgelände in Beschlag genommen, je nachdem, wie die Grundstücks-Besitzlage der Baulandspekulanten es zuließ. Das markiert den Beginn behördlich geordneter Stadtplanung. So wie der Erste Weltkrieg der Grund für den Völkerbund und der Krimkrieg die Geburtsstunde des Roten Kreuzes war. Seit Guernica wissen wir, dass auch dieses nicht mehr viel helfen kann, wenn eine zivile Stadt von Faschisten aus heiterem Himmel in Schutt und Asche gelegt wird. Jedoch bezüglich der Dimensionen des Zweiten Weltkriegs war der Spanische Bürgerkrieg nur blutiges Versuchslabor unter brutalen Realbedingungen, eine tödliche Waffenschau für den nächsten großen Einsatz, der dann aber im Weltmaßstab folgte. Die Dimension der abscheulichsten Verbrechen nannte man vor allem in Deutschland im Nachhinein so entsetzt wie hilflos "unfassbar". Dabei hatten ihre Täter sehr wohl Namen, Anschrift und Gesicht. Die wenigsten von ihnen wurden indes physisch oder juristisch fassbar – und haftbar gemacht.

Es gibt immer wieder Dinge, die man sich bei bösestem Willen nicht vorstellen kann, oder aber beim besten Willen nicht vorstellen mag. Obwohl nichts undenkbar ist. Wie die NSA-Affäre zeigt. Die Freiheitsschnüffler haben nicht nur die EU-Mission, die UNO-Zentrale, diverse Botschaften und Regierungssitze in aller (auch "befreundeten" Welt) abgehört, sondern sogar ihre eigenen Familienangehörigen, wie sich das Klein-Lieschen für einen Unrechtsstaat eben gerade noch so vorstellen kann. Aber für Frau Merkel ist die Sache erledigt. Sie will gar nicht wissen, dass man jeden Pups von ihr mithört. Weil Stasi war mal, und die USA sind doch ein Rechtsstaat und mit uns verbündet, oder? Dieses Maß an wohlwollender Ignoranz mag noch einen Zacken unvorstellbarer sein, selbst für manche CDU-Sympathisanten. Es gibt also (regierungsoffiziell) offenbar Dinge, die man sich besser nicht vorstellen darf, weil es alle Vorstellung sprengt. Die Kugel bleibt bei den Konservativen eine Scheibe. Bleiben wir daher bei dem, was wir tatsachengesichert wissen.

Die konservativen Falken können nicht mehr, wie sie wollen. In Großbritannien hat sogar das Parlament mit Stimmen der Tories der Regierung die Ampel auf Rot gestellt für forsches Vorprellen. Nun muss Cameron wider Willen den UN-Sicherheitsrat anrufen, der erwartbar keine Angriffe auf Syrien legitimieren wird. Zwei Drittel der Briten sind gegen Militärschläge, in Deutschland ist es ähnlich. In den USA ebenso. Die Stimmung für selbstherrliche militärische Maßregelungen ohne oder gar gegen die Vereinten Nationen kippt allmählich. China und Russland lassen sich nicht mehr breitschlagen für Flugverbotszonen, "um die Zivilbevölkerung zu schützen". Die "humanitäre" Karte, die in Libyen noch gezogen hat, sticht nicht mehr, wo es offenkundig um blanke Machtdemonstration des Westens geht. Das ist neu. Die Russen fahren ihrerseits Kriegsschiffe auf. Die US-Administration rudert vorsichtig zurück. Es beginnt sich an den Kräfteverhältnissen etwas zu verschieben. Die Kriegswilligen geraten öffentlich ins Unrecht, in dem sie schon immer befangen waren.

Es liegt allzu offen zutage, was es bewirkt: Libyen ist heute einer der freiest zugänglichen Handelsplätze für allerlei chemische Kampfstoffe und Waffen, seit die dortigen Rebellen mit Hilfe der NATO über Gaddafi gesiegt haben und ihn bestialisch erschlagen durften. Auch dort herrschen seither bürgerkriegsähnliche Zustände. Nun ziehen sie weiter, die Söldner des Heiligen Krieges gegen den westlichen Kreuzzug, finanziert vor allem aus Saudi-Arabien, dem engen Verbündeten des Westens, dem Deutschland sogar beste Leo-II-Panzer liefert für die optimale Niederschlagung der Demokratie-Bewegung in Bahrein. In Syrien haben Al-Nusra-Brigaden die demokratische Bewegung der Anfangstage des Aufstands längst an die Seite gedrängt und weitgehend marginalisiert. Mit der hat der Westen überhaupt noch nie geredet. Was will man denn mit Demokraten?! Demokrat ist man selber, oder halt Republikaner. Für echtes Chaos braucht man echte Kämpfer, Profis im Namen des Propheten. Damit das Feindbild stimmt. Es ist reichlich verwirrend und schwer einzuschätzen, welchen Nutzen ein weiteres Ägypten haben sollte. Bisher war man westlicherseits nur zur Unterstützung mit Ausrüstung und Material, nicht mit Kriegswaffen bereit.

Die CIA und andere Geheimdienste haben das und noch viel mehr diskret erledigt. Das Lieferangebot war allerdings dringend aufzustocken. Allein mit Zeltplanen, Feldbesteck, Taschenlampen und Gasmasken kann man zwar großräumige Geländespiele veranstalten, jedoch keinen Bürgerkrieg gewinnen lassen. Also mussten Tatsachen geschaffen werden, die die Interventionsbemühungen um zumindest eine Stufe eskalierten. Wenn schon nicht gleich bis zum offenen Eingreifen, so doch zumindest zu nicht nur heimlichen Waffen-Lieferungen. Das ist viel preiswerter und weniger gefährlich, als eigene Bodentruppen zu entsenden zwischen die unwägbaren Fronten. Denn es gibt im Bürgerkrieg keine Stadtmauern und Burgen – er tobt mittendrin im Gemäuer. Es bestehen keine klaren territorialen Abgrenzungen, und wenn es sie gäbe, hülfen sie gegen Angriffe von oben wenig.

Flugverbotszone? Ginge massiv ins Geld: Mindestens 200 Flugzeuge im Dauereinsatz samt Versorgung mit Treibstoff und Munition, das macht eine knappe Milliarde pro Tag, satte dreihundert Milliarden im Jahr. Hat die noch jemand übrig in der Haushaltskasse? Also auch nicht. Muss nicht. Gibt ja noch Fernbeschuss mit Lenkwaffen von den Zerstörern vor der Küste aus. Hilft den Rebellen am Boden zwar auch nicht viel. Kann aber die Regierungstruppen schwächen. Doch das Hauptproblem war und ist ohnehin ein anderes: Die Kriegsbegeisterung in den USA hält sich diesmal in sehr engen Grenzen. Nur 9 Prozent sind dafür, in Syrien einzugreifen, jedoch 60 Prozent dagegen. Selbst im Falle einer unwiderlegbaren Täterschaft der Assad-Regierung wären nur 25 Prozent für eine Intervention, 46 Prozent auch dann dagegen. Nur nicht schon wieder ein Fass aufmachen, das man so schnell nicht wieder zukriegt! Die US-Bürger werden kriegsmüde.

Da musste von schlachtinteressierter Seite dringend gehandelt werden, skrupellos und schockierend bestialisch. Notfalls jenseits des Vorstellbaren, wenn auch immer Vorgedachten. Immerhin zeigt das Pentagon schon mal die Instrumente, breitet alle militärischen Optionen öffentlich aus, beordert noch einen vierten Zerstörer durch den Suez-Kanal und hält die rote Karte griffbereit in der Hinterhand wie einen blutigen Joker. Allein für diese giftige Wirkung mussten über 1000 Menschen elend verenden.

Ihr Tod war nichts weiter als ein Trumpf in der Hand der Kriegs(be)treiber für die nächste "humanitäre" Aktion, sollte einen Freibrief ausstellen gegenüber Syriens Schutzmacht Russland, ein Feigenblatt gegenüber der entsetzt en Weltöffentlichkeit abgeben: "Seht her, wir mussten handeln, im Namen der Zivilisation. Tabubruch muss geahndet werden". Ein Triumph der Freiheit zu jedem erdenklichen Terror! Und ein Großteil der hiesigen Presse macht da brav mit, befeuert kriegsgeil die NATO zum Eingreifen, für wen, womit, wozu ist ihr fast schon Nebensache. Es gibt keine Mauern mehr, um diese Blödheit zu fassen.


Wolfgang Blaschka, München
 



Quelle:  Mein Artikel erschien vormals auf der Webseite des ISW – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. > Artikel


Wer ist das ISW?    

Im Juni 1990 haben kritische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen in München das isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. gegründet. Seitdem haben wir weit über hundert Studien und Berichte veröffentlicht.

Das isw versteht sich als Wirtschaftsforschungs-Institut, das alternativ zum neoliberalen Mainstream Analysen, Argumente und Fakten für die wissenschaftliche und soziale Auseinandersetzung anbietet. Unsere Themen und Forschungen beziehen sich deshalb in besonderem Maß auf die "Bedürfnisse" von Gewerkschaften und von sozialen, ökologischen und Friedensbewegungen. Unser Anspruch ist, Wissenschaft in verständlicher Form darzustellen und anschaulich aufzubereiten. Deshalb sind isw-Ausarbeitungen auch besonders geeignet für Unterricht und Schulungsarbeit und als Grundlage für Referate und Diskussionen. Die Mehrheit unserer LeserInnen, AbonnentInnen und Förder-Mitglieder sind Menschen, die sich in Bewegungen und Gewerkschaften engagieren.

  • Im Zentrum unserer wissenschaftlichen Analysen und Forschungsarbeit stehen Fragen und Probleme der Globalisierung, der Bewegung des transnationalen Kapitals, der Rolle und Wirkungen der Multis und transnationalen Institutionen (IWF, WTO, OECD, G7, etc).
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bilden Verteilungsfragen: Einkommens- und Vermögensverteilung, Interdependenz von privatem/gesellschaftlichem Reichtum und Armut.
  • Im Rahmen der Friedensforschung befassen wir uns mit Aspekten der Rüstungsökonomie (z.B. Konzentration in der Rüstungsindustrie), der Militärstrategie und Auswirkungen von Rüstung und Krieg.
  • Im ökologischen Bereich konzentrieren wir uns auf Fragen der Energiewirtschaft und -konzerne.
  • Schließlich beschäftigen wir uns kontinuierlich mit Untersuchungen zur Entwicklung der Sozialsysteme, der Konjunktur- und zyklischen Entwicklung der Weltwirtschaft.

Auf Veranstaltungen und jährlich stattfindenden isw-Foren werden Erfahrungen ausgetauscht, Gegenstrategien diskutiert und Alternativen erarbeitet. Wir freuen uns über Vorschläge und Anregungen, aber auch über solidarische Kritik. (Text: isw)