Hartz IV - Soziale Gerechtigkeit - Menschenwürde
Polemik gegen den Sozialstaat und seine kritischen Liebhaber
Prof. Dr. Albert Krölls
Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 26.01.2012 an der Universität Hamburg, basierend auf Kapitel 5 meines Buches: A. Krölls, Das Grundgesetz - ein Grund zum Feiern? [4] Eine Streitschrift gegen den Verfassungspatriotismus, Hamburg (VSA-Verlag) 2009.
Der Sozialstaat ist nicht erst mit der Agenda 2010 nachhaltig in Verruf geraten. In Blütezeiten des deutschen Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung noch als beispielhaftes lückenloses Netz der sozialen Sicherheit gepriesen, wird er seit einigen Jahren zunehmend als soziale Hängematte diffamiert, in der sich insbesondere die Arbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein Faulenzerleben leisten. Die Politiker der regierenden Parteien betrachten nunmehr das frühere Aushängeschild guter wohlfahrtsstaatlicher Politik als einziges Standorthindernis und haben dementsprechend den Sozialstaat der bisherigen Art für unfinanzierbar erklärt. In Ausführung dieses selbstgesetzten Auftrags hat die Politik ein Loch nach dem anderen in das soziale Netz geschnitten. Mit zahlreichen Leistungskürzungen sowie mit diversen Maßnahmen zur Begrenzung der „Lohnnebenkosten“ hat der Staat zunehmend seinen Haushalt und die Unternehmerschaft von den als unnötig deklarierten Unkosten der sozialstaatlichen Betreuung der Gesellschaft befreit und stattdessen die diesbezüglichen Lasten den Betroffenen und ihren Familien selber aufgebürdet. Das Meisterstück des Umbaues vom „Wohlfahrtsstaat“ zum aktivierenden Sozialstaat bildet die unter dem Namen von Hartz-IV bekannt gewordene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, in deren Zuge ca. 3 Millionen Langzeitarbeitslose auf Sozialhilfeniveau gesetzt wurden und zugleich ein entscheidender Schritt zur Schaffung des Billiglohnsektors getan wurde.
Und was machen die Betroffenen und deren Interessensvertreter in Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitsloseninitiativen angesichts dieser Entwicklung? Sie haben nichts Besseres zu tun, als den angeblich pflichtvergessenen Staat umso nachdrücklicher an seine eigentliche Aufgabe als sozialer Schutz- und Sicherungsagentur der Arbeitnehmerinteressen zu erinnern. Gegen die (weitere) Reform des Sozialstaates mobilisieren sie den höchsten Wert der Verfassung: die Menschenwürde und das klassische Ideal des Sozialstaates als Agentur sozialer Gerechtigkeit, das von der Sozialdemokratie in der Schröder-Ära als unmoderner Traditionsbestand ausgemustert worden war.
Ob die reale Entwicklung der Sozialstaates ein guter Grund ist, sich zu den Zeiten des guten alten Sozialstaates der 60er und 70er Jahre zurückzusehnen und sich für dessen Wiederge burt einzusetzen, ist allerdings sehr die Frage. Der Wandel des Sozialstaates bildet vielmehr einen guten Anlass, sich einmal Klarheit darüber zu verschaffen, was der Sozialstaat ist, welches seine Zwecke gestern wie heute sind und wie sich sein Fortschritt vom „Wohlfahrtstaat zum aktivierenden Sozialstaat“ des Forderns und Förderns erklärt. Damit beantwortet sich dann auch die Frage, ob man für den Erhalt des Sozialstaates eintreten soll und was es mit den Idealen von Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit auf sich hat.
Gliederung des Vortrags:
Teil I: Der Sozialstaat, was ist das?
- Zwecke und Funktionsprinzipien des Sozialstaats am exemplarischen Beispiel der Arbeitslosenfürsorge
- Die Hartz-IV-Gesetzgebung: Die sozialpolitische Neusortierung der Reservearmee auf der Grundlage der Sockelarbeitslosigkeit
- Die sozialpolitische Diskussion im Hartz-IV-Jubiläumsjahr 2010: „Sozial ist, was Billiglohnarbeitsplätze schafft!“
Teil II: Die Protestbewegung gegen Hartz IV und Sozialabbau: Mit den Idealen der sozialstaatlichen Marktwirtschaft gegen die politisch geplante Verarmung
- Argumente gegen die soziale Gerechtigkeit:
- Menschenwürde: Noch ein untauglicher Einspruchstitel gegen soziale Not
Teil I: Der Sozialstaat, was ist das?
1. Zwecke und Funktionsprinzipien des Sozialstaats am exemplarischen Beispiel der Arbeitslosenfürsorge
Welche Einrichtung könnte sich besser eignen, über die Leistungen des Sozialstaates Auskunft geben, als das soziale Netz und dessen Herzstück: die Arbeitslosenversicherung.
Gemäß der in den Sozialkundelehrbüchern verbreiteten Selbstauskunft des politischen Gemeinwesens verleiht bereits die Existenz des sozialen Netzes dem Sozialstaat ein wohlfahrtsstaatliches Gütesiegel erster Klasse. Es gilt als unbestreitbarer sozialer Fortschritt, dass hierzulande niemand verhungert, beim Verlust seines Arbeitsplatzes nicht unmittelbar auf der Straße steht, an den Segnungen des medizinischen Fortschrittes partizipiert und beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auch noch eine Altersrente bezieht, obwohl er keine nützlichen Beiträge zum Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums mehr erbringt. Die unbestreitbare Feststellung, dass das „Soziale“ inzwischen zur größten Ausgabenposition im Staatshaushalt avanciert ist, sollte freilich nicht zu einem vorschnellen Loblied auf die wohltätigen Zwecke der Staatsgewalt verleiten. Vielmehr verweist dieser Tatbestand zu nächst einmal darauf, dass ein Land, das nach Bruttosozialprodukt, Wirtschaftswachstum und Währungsstärke zu den reichsten Ländern der Welt gehört, zugleich systematische Massenarmut als notwendige Konsequenz der hierzulande eingerichteten Wirtschaftsordnung hervorbringt.
Die spezielle Art dieser Armut, deren dauerhafte Existenz der Sozialstaat als Grundlage seiner Tätigkeit voraussetzt, ist den sozialstaatlichen Einrichtungen von der Sozialhilfe bis zu den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung zu entnehmen. Welche Bevölkerungsteile als Gegenstand der Fürsorge des Sozialstaates gemeint sind, lässt sich nämlich an der sozialstaatlichen Hinwendung auf diese leicht ablesen. Es ist die Risikogruppe der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung, deren gesamte Lebensgestaltung vom Gewinnkalkül privater Wirtschaftsunternehmen abhängig ist. Die besagte Massenarmut besteht dementsprechend darin, dass die große Mehrheit der Mitglieder dieser Gesellschaft von einer notorisch unsicheren Einkommensquelle abhängig ist. Einer Einkommensquelle, die nicht garantiert, dass sie kontinuierlich ein Einkommen abwirft, das die Bestreitung der Lebensnotwendigkeiten erlaubt. Ein Einkommen - das beweist der Charakter der gesetzlichen Sozialversicherungen als Zwangsversicherungen - dessen Höhe nicht gestattet, die entsprechende finanzielle Vorsorge für die Risiken zu treffen, die mit dieser Einkommensabhängigkeit aufgrund der spezifischen Art der Einkommensquelle Lohnarbeit verbunden sind: nämlich Krankheit einschließlich Pflegebedürftigkeit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit. Die laufenden Einkünfte aus abhängiger Beschäftigung reichen offensichtlich nicht aus, durch Bildung entsprechender Rücklagen ein einigermaßen sorgenfreies Leben nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Erwerbsleben zu gewährleisten. Eine längere Krankheit vielleicht noch verbunden mit einem kostspieligen Krankenhausaufenthalt würde unweigerlich das Haushaltsbudget einer Lohnarbeiterfamilie sprengen. Und die Höhe von Lohn oder Gehalt gestattet es auch nicht, auch nur ein paar Monate Arbeitslosigkeit finanziell zu überbrücken. Und damit wären wir bereits auch bei der Arbeitslosenfürsorge als der zentralen Masche des sozialen Netzes angelangt.
Das System der Arbeitslosenfürsorge hatte in der Zeit vor Hartz IV die Gestalt einer 3-stufigen Armuts-Rutsche. Die oberste Abteilung der alten sozialstaatlich produzierten Hierarchie der Arbeitslosen bildeten in der Funktion einer Arbeitsmarktreserve I die Bezieher des Arbeitslosengeldes. Deren sozialstaatlicher Unterhalt (67% bzw. 60% des letzten Nettoverdienstes) war berechnet auf ihre regelmäßige spätere Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt. In den Zeiten der vorübergehenden Nichtverwendung der Arbeitnehmer sollte das im Regelfall für höchstens 1 Jahr gewährte Arbeitslosengeld die Erhaltung der Arbeitskraftreserve I im Interesse ihrer späteren Wiederverwendung auf dem Arbeitsmarkt gewährleisten. Als nachrangige Arbeitslosenreserve II fungierten im bisherigen Leistungssystem die Empfänger der Arbeitslosenhilfe. Die Leistungssätze der Arbeitslosenhilfe waren etwa 10% niedriger als beim Arbeitslosengeld (57% bzw. 53%) und dort galt das sogen. Bedürftigkeitsprinzip, d. h. die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen. Wie beim Arbeitslosengeld zielten auch die Leistungen der Arbeitslosenhilfe auf die Erhaltung der Marktfähigkeit der Ware Arbeitskraft, freilich unter finanzieller Abstrafung der bereits erfolglos verbrachten Zeiten in den Warteschleifen des Arbeitsmarktes. Die Bezieher von Arbeitslosenhilfe landeten dann eines Tages im letzten Auffangnetz: der Sozialhilfe. Dort trafen sie auf den sozialstaatlich definierten Bodensatz der lohnabhängigen Bevölkerung: das Heer der als arbeitsunfähig eingestuften Empfänger von Hilfen zum Lebensunterhalt.
Diese bislang als 3-stufige Armutsrutsche ausgestaltete sozialstaatliche Einrichtung der Arbeitslosenfürsorge unterstellt Massenarbeitslosigkeit und damit Einkommenslosigkeit als normalen Wechselfall des bürgerlichen Erwerbslebens. Was in einer vernünftigen Gesellschaft ein Segen wäre: die Freisetzung von der Notwendigkeit der Verrichtung von Arbeit gerät im Kapitalismus zum Fluch. Arbeitslosigkeit ist marktwirtschaftlich untrennbar verknüpft mit dem Entzug der Existenzgrundlage, sprich mit Einkommenslosigkeit. Eine derartige Einkommenslosigkeit breiter Volksteile ist als regelmäßige und dauerhafte Begleiterscheinung einer Gesellschaftsordnung vorausgesetzt, die eine Einrichtung wie eine Arbeitslosenfürsorge etabliert. Es ist dieselbe staatlich geschützte Wirtschaftsordnung, die den Wirtschaftsunternehmen die rechtliche Handhabe verleiht, Arbeitskräfte nach Maßgabe ihrer lohnenden Verwendung einzustellen. Bzw. sich auf dem Wege der betriebsbedingten Kündigung der Last der Lohnkosten zu entledigen, wenn sich diese Ausgabe für ihren Zweck die Vermehrung des Kapitals nicht mehr lohnt. Dementsprechend steht unter jeder der millionenfach ausgesprochenen Entlassungen von Arbeitskräften durch private Unternehmer die billigende Unterschrift des Staates.
Von einem Versagen oder einem Misserfolg des Systems bei der Entstehung der Arbeitslosigkeit als solcher bzw. der Sockelarbeitslosigkeit von mehreren Millionen Arbeitnehmern sollte man im Übrigen besser nicht sprechen. Denn der Kapitalismus ist eben alles andere als ein Beschäftigungsprogramm, mit dem die Volksmassen in Lohn und Brot gesetzt werden sollen. Umgekehrt zeugen die Millionen Arbeitslosen von Erfolgen von Kapital und Staat. Die besagte Massenarbeitslosigkeit in der BRD ist zum einen hauptsächlich das Abfallprodukt von Rationalisierungsmaßnahmen der Wirtschaft, die tatkräftig vom Staat befördert wurden. Zum anderen der kapitalistischen Erschließung der ehemaligen DDR, in der unter der Regie der staatlichen Treuhandanstalt Millionen von ehemaligen sozialistischen Werktätigen durch die systematische Stilllegung der volkseigenen Betriebe die Existenzgrundlage entzogen wurde.
Das Interesse, mit dem der Staat den „Kampf“ gegen die von ihm dergestalt selber miterzeugte Arbeitslosigkeit führt, hat im übrigen auch nicht im Entferntesten etwas mit der wohltätigen Sorge um einen gesicherten Lebensunterhalt der Betroffenen zu tun. Die Fürsorglichkeit speist sich vielmehr daraus, dass Arbeitslosigkeit für den Staat ein Finanzierungsproblem darstellt. Denn die Unterhaltung von Arbeitslosen ist mit Kosten verbunden ist und Arbeitslose fallen darüber hinaus mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung und als (Lohn)-Steuerzahler aus.
Das Finanzierungsproblem, das durch die Arbeitslosigkeit aufgeworfen wird, löst der Staat auf die Weise, dass er den Arbeitslosen selber im Wege der Zwangsversicherung die Verpflichtung zur finanziellen Vorsorge für den fest einkalkulierten Fall der Arbeitslosigkeit auferlegt und sich selber damit von den Finanzierungskosten der Arbeitslosigkeit weitgehend befreit. Denn die einschlägigen Leistungen der Bundesagentur für Arbeit sind keine Subventionen aus dem Staatshaushalt. Sondern sie werden vielmehr zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgebracht, wobei der Arbeitgeberanteil als Element der so genannten Lohnnebenkosten einen mittelbaren Lohnbestandteil bildet. Hingegen beschränkt sich der staatliche Finanzierungsbeitrag auf eine Art »Ausfallbürgschaft« zur Deckung von Finanzierungslücken (§ 187 SGB III). Das gilt im Prinzip auch für die Finanzierung der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung.
Wenn man im Zusammenhang mit der staatlichen Sozialversicherung überhaupt von Versorgung reden will, dann von aufgeherrschter Selbstversorgung durch die staatlich organisierte Zwangssolidarität der Arbeitnehmerschaft. Mit der Finanzierung der Leistungen an Arbeitslose, Kranke und ausgediente Arbeitnehmer aus dem Beitragsaufkommen der Versichertengemeinschaft nimmt der Staat das nationale Arbeitnehmerkollektiv in die finanzielle Haftung. Wie geht das? Dem beschäftigten Teil wird das Bruttoeinkommen sozialpolitisch durch die Verstaatlichung von Lohnanteilen gekürzt, damit der unbeschäftigte bzw. ausgemusterte Teil überhaupt ein Einkommen bzw. eine medizinische Betreuung erhält, die er aus einem individuellen Lohneinkommen niemals finanzieren könnte. So macht der Sozialstaat die lohnabhängige Klasse insgesamt und auf ihre Kosten dafür haftbar, dass der verdiente Lohn, mit dem sie ein Leben lang auskommen soll, dann doch irgendwie für die Reproduktion der Arbeitnehmerschaft in ihrer dienstbaren Funktion für das Kapital reicht.
Das nationale Gesamtlohnvolumen reicht dafür freilich umso weniger, als die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer und damit das Beitragsaufkommen abnimmt. Gemäß der Logik des sozialstaatlichen Kassenwesens, den Betroffenen selber die Kosten der Arbeitslosigkeit auf zuerlegen, steht folgerichtig das Ausmaß der Hilfe im indirekt proportionalen Verhältnis zur Hilfebedürftigkeit. D. h.: Je größer die Not und Bedürftigkeit, je mehr die Arbeitslosigkeit anwächst, desto niedriger fallen die Leistungen an die Arbeitslosen aus. Denn der Sozialstaat pflegte in der Vergangenheit das durch die massenweise Freisetzung von abhängig Beschäftigten erzeugte Missverhältnis zwischen Leistungsempfängern und Beitragzahlern regelmäßig durch Leistungskürzungen und/oder die Erhöhung der Beitragssätze in der Arbeitslosenversicherung zu korrigieren.
Auch aus der Leistungshöhe, der Dauer des Leistungsbezuges und den sonstigen Modalitäten der Leistungsgewährung lässt sich entnehmen, dass der Daseinszweck der Arbeitslosenversicherung in allem anderen besteht, als den Arbeitslosen in den Zeiten der zwangsläufigen Unterbrechung des Arbeitslebens ein Faulenzer-Leben in der vielzitierten sozialen Hängematte zu bescheren. Wer fortan mit weniger als 2/3 (Arbeitslosengeld) bzw. etwas mehr als der Hälfte (Arbeitslosenhilfe) seines bisherigen Nettoerwerbseinkommens seinen Lebensunterhalt zu bestreiten hatte, bevor er in die nächste Verarmungsstufe abstieg, der entwickelte ohnehin ein vehementes Eigeninteresse daran, möglichst umgehend eine neue Arbeitsstelle auch um den Preis niedrigerer Entlohnung und verschlechterter Arbeitsbedingungen anzunehmen. Die ständig verschärften Zumutbarkeitsregelungen entfalteten dabei ihre zusätzliche segensreiche Wirkung auf die Herstellung einer quasi uneingeschränkten Dienstbereitschaft der Arbeitslosen.
Zwischenfazit: Die sozialstaatliche Leistung der Arbeitslosenunterstützung bestand und besteht also in einem einzigen Dienst an den Interessen der Wirtschaft. Die Arbeitslosenversicherung erhält im Interesse der Unternehmerschaft die Brauchbarkeit und Verfügbarkeit der vorübergehend ausgemusterten Teile der Arbeitnehmerschaft für ihre zukünftige lohnende Wiederverwendung zu in aller Regel verschlechterten Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die staatliche Verwaltung des Arbeitslosenheeres als Reservearmee des Kapitals sorgt zugleich dafür, dass sich die wirtschaftspolitische Produktivität der Arbeitslosigkeit als Lohnsenkungshebel gegenüber den beschäftigten Teilen der Arbeitnehmerschaft mit aller Wucht entfalten kann. Soweit die allgemeinen Funktionsprinzipien der Arbeitslosenunterstützung und deren Ausgestaltung in der Zeit vor Hartz-IV.
2. Die Hartz-IV-Gesetzgebung: Die sozialpolitische Neusortierung der Reservearmee auf der Grundlage der Sockelarbeitslosigkeit
Die zum Jahresbeginn 2005 in Kraft getretene Hartz-IV-Gesetzgebung beinhaltete eine grundlegende Änderung der mehrere Jahrzehnte gültigen, durch die Sozialgesetzung vollzogenen, funktionellen Sortierung der lohnabhängigen Bevölkerung nach Maßgabe des unterschiedlichen Grades ihrer (arbeitsmarktpolitischen) Brauchbarkeit.
Unter dem Titel der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurde das bisherige 3-Klassensystem der Arbeitslosen nun mit Hartz IV zu einem 2-Klassensystem umgestaltet. Auf der Grundlage einer Sockelarbeitslosigkeit von mehreren Millionen erklärte der Sozialstaat mit Hartz-IV seinen Abschied von einer Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitslosigkeit als mehr oder weniger lange Unterbrechung regulärer Beschäftigung und daher die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Gesamtheit der Arbeitslosen als nützliche Investition angesehen hatte. Umgekehrt sollte die dauerhafte Beschäftigungslosigkeit von Millionen von Arbeitnehmern fortan als nicht mehr korrigierbarer Normalzustand der kapitalistischen Marktwirtschaft gelten. Der Abschied vom Vollbeschäftigungsideal ließ folgerichtig die Aufrechterhaltung des bisherigen Systems der Alimentierung arbeitsloser Bürger als Verschwendung öffentlicher Gelder erscheinen, der im Dienste der Schonung der Staatsfinanzen und der Senkung der Lohnnebenkosten ein Ende zu bereiten war. Auf der Grundlage dieser Diagnose teilte der Staat mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe den Bedürftigen ein neues Überlebensniveau zu. Ein Überlebensniveau, das ihrer in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit äußert eingeschränkten bis gar nicht mehr bestehenden Brauchbarkeit entspricht. Denn wenn die kapitalistische Wirtschaft zu viele Bedürftige, ein Millionenheer von Arbeitslosen produziert, die absehbarerweise nicht mehr einer lohnenden Verwendung am Arbeitsmarkt zugeführt werden können und stattdessen immer länger Arbeitslosenunterstützung beziehen, dann sind die diesbezüglichen Aufwendungen schlichtweg unproduktiv, sogar ein einziges Hindernis der Schaffung rentabler Arbeitsplätze.
Der arbeitsmarktpolitische Umbau beinhaltet deshalb auch keine Abschaffung des Sozialstaates, wie vielfach von kritischen Stimmen angenommen wurde. Vielmehr entfaltet sich in der Arbeitsmarktreform, in der politisch gewollten systematischen Verarmung von Millionen von Arbeitslosen, die unerbittliche Logik des Sozialstaates auf der Basis der Sockelarbeitslosigkeit. Sozialstaatlich ist es nämlich aus den beschriebenen einschlägigen Kalkülen ganz konsequent, dass mit der Verabschiedung aus dem Umkreis regulärer Beschäftigung, d. h. mit dem Ausscheiden aus dem privilegierten Kreis der Reservearmee, die ausgemusterten Arbeitslosen auf das staatsbürgerliche Existenzminimum, sprich auf Sozialhilfeniveau gesetzt werden. Die Reform des Leistungssystems durch die Hartz-IV-Gesetzgebung erfolgt dabei aus just dem selben sozialstaatlichen Grund, auf dem die bisherige Form der Verwaltung der Arbeitslosigkeit beruht hatte, nämlich der Sicherung der Brauchbarkeit und Verfügbarkeit der für das Wirtschaftswachstum unbrauchbaren, freigesetzten Teile der Arbeitnehmerschaft. Brauchbarkeit buchstabiert sich freilich ein wenig anders unter den Bedingungen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit. Dauerhafte Unbrauchbarkeit von Millionen von Arbeitslosen belegt den mangelnden Nutzen der Langzeitarbeitslosen im Dienste des Kapitalwachstums und damit der bisherigen Alimentierung durch Lohnersatzleistungen. Also weg damit.
Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe schuf den neuen sozialrechtlichen Status des Langzeitarbeitslosen. Dieser Status beruht auf der dauerhaften Ausgliederung von Millionen unbeschäftigten Arbeitnehmern aus dem ersten Arbeitsmarkt und damit aus der Bezugsberechtigung von Lohnersatzleistungen. Den bisherigen Empfängern der Lohnersatzleistung Arbeitslosenhilfe wurde mit dem sogen. Arbeitslosengeld II ein Existenzminimum auf dem bisherigen Sozialhilfeniveau zugewiesen. Der bisherige Lebensstandard dieser Abteilung der Arbeitslosen wurde systematisch zum Luxus deklariert, was sich nicht nur in der Höhe des Regelsatzes sondern exemplarisch auch in der Wohnungsfrage zeigte.So verfügten die Agenturen für Arbeit den massenweise Umzug in „angemessene“, d. h. den sozialstaatlichen Kostensenkungsbedürfnissen entsprechende preiswertere Wohnunterkünfte.
Der neue sozialrechtliche Status der Langzeitarbeitslosen und deren gesellschaftliche Nützlichkeit als working poor
Dieser neue sozialrechtliche Status der Langzeitarbeitslosen definiert sich über deren staatlich aufgeherrschte Generalverpflichtung, als Kostgänger des Sozialstaates das politische Gemeinwesen von den Unkosten ihrer Alimentierung zu entlasten. Die Organisation der Arbeitslosigkeit als Dienstverhältnis in diesem Sinne erfolgte auf doppelte Weise.
Zum einen mittels der drastisch verschärften Regelungen über die Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Für die Hartz-IV-ler gilt es, das „unangemessene“ Eigenheim zu verscherbeln, für die unsichere Zukunft abgeschlossene Versicherungen aufzulösen und die Familie und den Partner der Lebensgemeinschaft im Wege der Unterhaltsverpflichtung in eine verschärfte finanzielle Haft zu nehmen.
Zum anderen über die sogen. Eingliederungsinstrumente, mittels derer ein verschärfter indirekter Arbeitszwang auf die Arbeitslosen ausgeübt wird, sich bei Strafe des Leistungsentzuges innerhalb des weiten Spektrums von atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu verdingen. Das sind Beschäftigungsverhältnisse, die mit einer regulären Lohnarbeit wenig bis gar nicht gemein haben. Dazu zählen nicht-sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse auf 400-Euro-Basis (Minijobs), Midijobs, Teilzeitarbeit, Leiharbeit im Rahmen der Personalservice-Agenturen, Gelegenheitsarbeiten aller Art, die sogen. Ich-AG sowie schließlich die Arbeitsgelegenheiten gegen Mehraufwandsentschädigung (Ein-Euro-Jobs). Durch die Vermittlung in derartige Beschäftigungsverhältnisse erfolgte die Durchsetzung der arbeitsmarktpolitischen Leitmaxime, dass die staatliche Alimentierung der Arbeitslosen aus öffentlichen Kassen durch Arbeit in nichtregulären oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen verdient werden muss.
Die offizielle Begleitideologie zu Hartz-IV pflegt die maßgebliche Zielsetzung der Arbeitsmarktreformen auf eine höchst verfremdete Weise darzustellen: nämlich als Dienstleistung an den Arbeitslosen. Nahe gelegt wurde die Vorstellung, dass durch die Reduzierung der Unterhaltsleistungen an die Arbeitslosen die Verbesserung der Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur finanziert werden sollte mit dem Ziel der letztendlichen Wiedereingliederung der Langzeitarbeitslosen in den regulären Arbeitsmarkt. Die dieser Vorstellung zugrunde liegende Diagnose der Arbeitslosigkeit als Vermittlungsproblem widerlegt sich freilich bereits unmittelbar an dem Missverhältnis zwischen der Zahl der offenen Stellen und der Zahl der Arbeitsuchenden. Wo sollten denn auch die regulären tariflichen Arbeitsverhältnisse plötzlich herkommen, in welche die Langzeitarbeitslosen angeblich vermittelt werden sollten? Es handelt sich doch um dieselbe Sorte von regulären Arbeitsplätzen, die bekanntlich von den Unternehmern ständig abgebaut werden, weil sie sich vom Standpunkt der Kapitalrentabilität nicht mehr lohnen. D. h. umgekehrt, wenn sich für die Unternehmer Beschäftigung unter dem Regime des Gewinnes (wieder) lohnen soll, dann müssen dementsprechend die Lohn- und Arbeitsbedingungen systematisch verschlechtert werden: d. h. durch Senkung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit etc. Beschäftigungspolitik bedeutet dann zwangsläufig, das Millionenheer der von der regulären Lohnarbeit freigesetzten Mitglieder der arbeitenden Bevölkerung mittels staatlich subventionierter Niedriglöhne, der Übernahme von Lohnnebenkosten und der Befreiung von den Fesseln des Kündigungsschutzes als billiges und williges Sonderangebot an die Wirtschaft herzuzurichten. Derart zuzurichten, dass die Wirtschaft einfach nicht nein sagen kann und in die Lage versetzt wird, ihrem angeblichen Beruf nachzukommen, Leute in Lohn und Brot zu setzen. Dass diese Beschäftigungsverhältnisse gerade nicht dazu taugen, ihren Mann oder ihre Frau zu ernähren, also systematisch den Lohn von seiner Bestimmung als Lebensunterhalt der Beschäftigten trennen, liegt ganz in der arbeitsmarktpolitisch-marktwirtschaftlichen Logik der Sache. Gerade in dieser Entkopplung besteht die Perspektive, die Hartz-IV den Langzeitarbeitlosen als Manövriermasse der Kapitalinteressen eröffnet hat.
Ein entscheidendes Instrument dazu bildete die neue Zumutbarkeitsregelung, die jede „nicht sittenwidrige“ Arbeit als zumutbar definierte. Durch den Einsatz dieses Hebels wurde ein neuer Niedriglohnsektor noch unterhalb des bisherigen Niveaus der Billiglöhne etabliert. So kam eine wirtschaftspolitische Aufgabe mächtig voran, die Politik und Wirtschaft gleichermaßen am Herzen lag. Führende Repräsentanten des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit haben diese politisch gewollte und geplante Entwicklung in dem ihnen eigenen fachkundigen Zynismus wie folgt theoretisch antizipiert:
„Es ist davon auszugehen, dass durch die verstärkten Suchbemühungen von Arbeitslosen der Wettbewerb am Arbeitsmarkt, vor allem am unteren Ende der Lohnskala zunimmt.“ S. Koch/U. Walwei, Hartz IV: Neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose? In: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 16/2005, S. 10, 19 sprechen im Klartext davon, dass „die höhere Konzessionsbereitschaft der Arbeitssuchenden für zusätzliche Beschäftigung vor allem im Niedriglohnsektor sorgen (soll).“
Ein-Euro-Jobs
Wer auf dem Niedriglohnsektor keine Verwendung fand, für den gab es als „ultima ratio“ das Eingliederungsinstrument der Ein-Euro-Jobs, das angesichts des ungebrochenen Heißhungers des Kapitals nach Billiglohn-Arbeitskräften gegenwärtig aus der Mode geraten ist. Diese neue Form des demokratischen Arbeitsdienstes stellt im sozialstaatlichen Sinne im Prinzip eine höchst nützliche Investition dar. Ihr vorrangiger Nutzen besteht in der Verrichtung gemeinnütziger Tätigkeit insbesondere im Dienste von Kommunen und gemeinnützigen Einrichtungen wie den Wohlfahrtsverbänden, die auf diese Weise Personalkosten einsparen bzw. die durch die Verkürzung bzw. spätere Abschaffung des Zivildienstes entstandenen Lücken der Verfügung über Billigarbeitskräfte schließen können.
Die Schaffung der Ein-EURO-Jobs hat darüber hinaus den Charakter einer kostensenkenden Prüfung der Arbeitswilligkeit der Betroffenen. Mittels dieser Prüfung wird die staatliche Hilfe zum Überleben daran gekoppelt wird, in Jobs, von denen man weder leben kann noch leben soll, seine bedingungslose Dienstbereitschaft unter Beweis zu stellen. Bei Nichtbestehen der Prüfung erfolgt die Verhängung von Sperrzeiten und der Ausschluss vom Leistungsbezug. Darüber hinaus stellt sich die Bereitstellung dieser Arbeitsgelegenheiten auch noch als gelungener Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit dar.
3. Die sozialpolitische Diskussion im Hartz-IV-Jubiläumsjahr 2010: „Sozial ist, was Billiglohnarbeitsplätze schafft!“
Es ist unbestreitbar. Die Arbeitsmarktreformen sind eine einzige Erfolgsgeschichte, natürlich nicht aus Sicht der Arbeitslosen, jedoch vom allein maßgeblichen Standpunkt der politischen Verwalter des Kapitalstandorts Deutschland. Denn der Bundesregierung ist es mittels der Hartz-Gesetzgebung nicht nur gelungen, die Ausgaben für die Alimentierung der Arbeitslosen erheblich zu reduzieren sondern zugleich auch einen neuen Niedriglohnsektor zu etablieren, der innerhalb der Konkurrenz der EU-Staaten seinesgleichen sucht.
„Der deutsche Niedriglohnsektor ist während der vergangenen Jahre rasant gewachsen. Je nach Definition arbeiten dort bis zu einem Fünftel der Arbeitnehmer (…). Diese Entwicklung war politisch gewollt und von der rot-grünen Bundesregierung mit der Agenda-Politik und den Hartz-Reformen eingeleitet worden“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.02.2010)
D. h.: Verfügung über Arbeit zum Zwecke der Vermehrung der Unternehmergewinne ist in Deutschland erheblich billiger geworden, und die Verfügung über die Arbeitskräfte ist von einer Reihe sozialpolitischer Schranken befreit worden. Arbeitskräfte können nach Maßgabe des unternehmerischen Bedarfs beinahe zu jedem Dumpinglohn angeheuert werden. Und zwar ganz legal und so von jedem hässlichen Geschmack illegaler Ausbeutung befreit. Zu verdanken haben die Arbeitgeber diese wunderschönen Zustände dem erfolgreichen Zusammenwirken ihrer eigenen ökonomischen Erpressungsmacht, welche sie mit der Schaffung von Millionen überflüssiger Arbeitskräfte gesteigert haben, und den (arbeitsmarktpolitischen) Maßnahmen des Sozialstaates, der sein Handeln an der Leitlinie der Entfaltung dieser Erpressungsmacht der Arbeitgeber ausgerichtet hat.
Die sozialrechtlich verschärfte Zwangslage der Arbeitslosen, ihre Arbeitskraft unter verschlechterten Bedingungen anbieten zu müssen, war den Unternehmern willkommene Gelegenheit, Lohnkosten zu senken und zwar sowohl für die Beschäftigten als auch bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dabei profitierten die Unternehmen im hohen Maß davon, dass sie ihren Bedarf an Arbeitskräften aus einem wachsenden Pool auf Arbeit Angewiesener decken konnten, gegenüber denen der Verweis auf das Millionenheer von Arbeitslosen ein entscheidendes Erpressungsmittel für Lohnsenkungen darstellte. Die Hartz-Reformen hatten so den durchschlagenden Erfolg, dass sich sowohl massenhaft Arbeitskräfte für Niedriglöhne anbieten mussten als sich auch reguläre Arbeitsplatzbesitzer und deren Gewerkschaften in der Not sahen, in Nullrunden und „verantwortungsvollen“ Tarifeinigungen ihre Arbeitsplätze gegen in- und ausländische Konkurrenz zu sichern.
Die „Wirtschaft“ hat ihre staatlich verliehene Freiheit, Geschäfte mit neuen Niedriglohn-Arbeitsplätzen zu machen und das Lohnniveau flächendeckend zu senken, so extensiv genutzt, dass dadurch eine neue Kategorie Arbeitsplätze entstanden ist, die nichts mehr damit zu tun haben, dass ein Arbeitsplatz dazu da wäre, einen Lohn einzuspielen, der zum Lebensunterhalt reichen würde. So wurde der Lohn systematisch von seiner Bestimmung entkoppelt, ein Lebensmittel für den arbeitenden Menschen zu sein. Die Abteilung der sog. „Working poor“ ist rasant gewachsen. Während ihr prozentualer Anteil 1998 noch bei 6% der Erwerbstätigen lag, beträgt er inzwischen über 20%. Der aktuelle SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat die aktuelle Lage dieses Teils der arbeitenden Klasse in Deutschland dergestalt beschrieben, dass „drei Millionen Arbeitnehmer … einen Stundenlohn von weniger als acht Euro hatten Weitere 1,3 Millionen verdienten so wenig, dass ihre Arbeit mit zusätzlichen Hartz-IV-Leistungen subventioniert werden müsse.“
Ebendieser Tatstand der Notwendigkeit der staatlichen Subventionierung der „Aufstocker“ durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bildet zugleich das selbst erzeugte staatliche Problem, mit dem sich die Politik als unbeabsichtigte Rückwirkung der erfolgreichen Hartz-Reformen im Jahre 2010 konfrontiert gesehen hat. Die neue Klasse der „Working poor“ belastet die Sozialkassen als sog. „Aufstocker“ – die Bundesagentur für Arbeit bezifferte die diesbezüglichen Ausgaben mit 10,9 Mrd. EURO für das Jahr 2009 - und der Staat erblickte angesichts dieser unerwünschten Nebenwirkungen der Arbeitsmarktreformen neuen Reformbedarf.
Was die politisch Verantwortlichen hauptsächlich stört, ist die staatlich organisierte Kombination von Elendsbetreuung und Erwerbsarbeit, wie sie gegenwärtig auf der Basis von Hartz-IV geregelt ist. D. h. die Anrechungsfreiheit eines Hinzuverdienstes von 100 € auf das ALG II, während mit der Höhe des weiteren Hinzuverdienstes die Anrechnungsquote steigt, wirkt in ihrer Sicht wie ein Beschäftigungshindernis.
Mit dieser Diagnose des Problems, wonach ein paar Millionen Arbeitslose immer noch (weitgehend) von staatlicher Unterstützung leben würden, weil die aktuelle Ausgestaltung von Hartz-IV diesen „unhaltbaren“ Zustand fördere, stand auch die Therapie fest. Vonnöten ist die Umkehrung des Verhältnisses von sozialstaatlicher Alimentierung und Billiglohn-Erwerbsarbeit, die mit der Fehlvorstellung von Hartz-IV als Versorgungseinrichtung aufräumt. Arbeitsministerin v. der Leyen hat diesen von der Politik geforderten Paradigmawechsel folgendermaßen propagiert:
„Langzeitarbeitslose müssen von der Vorstellung loskommen: ‘Ich habe Hartz -IV und verdiene was dazu‘ stattdessen muss es einen Anreiz geben zu sagen: ‘Ich verdiene so gut es geht, und wenn es nicht reicht; dann zahlt die Gemeinschaft‘ was dazu.“ (SZ, 14.01.2010)
Gemäß dieser staatlichen Optik sind Hartz-IV-Empfänger grundsätzlich nicht länger als Kostgänger des Sozialstaates zu betrachten sondern als potentielle Billigarbeitskräfte, die dem Bedarf von Unternehmern an ihnen verfügbar gemacht werden sollen durch eine Änderung der Hinzuverdienstregeln Die leicht aktualisierte arbeitsmarktpolitische Devise 2010 lautete also: „Sozial ist, was Billigarbeit schafft!“ Das vom Bundeskabinett entworfene sozialstaatliche Leitbild des Arbeitslosen ist der von jeglichen Ansprüchen an die Arbeit in Sachen Arbeitsbedingungen und Bezahlung emanzipierte neue Berufsstand des Dauerarbeitslosen, der sich auf dem Wachstumssektor des Niedriglohnarbeitsmarktes verdingt, ohne von seiner Arbeit leben zu können. Nur unter dieser Voraussetzung und in Würdigung der bedingungslosen Arbeitsbereitschaft der Betroffenen soll es dann zukünftig noch einen Zuschuss vom Sozialstaat geben, der zusammen mit dem Billiglohneinkommen das staatlich definierte Existenzminimum gewährleistet.
Arbeitslosen, die sich der zugewiesenen Perspektive in den Reihen der working poor verweigern sollten, fallen als „Arbeitsunwillige“ unter die vom ehemaligen FDP-Vorsitzenden Westerwelle mit dem Stichwort der „spätrömischen Dekadenz“ angestoßene politische Hetzkampagne gegen Hartz-IV-Empfänger. Anlass dieser Hetzkampagne war das Verfassungsgerichtsurteil von 2010 zum Verfahren der Bildung der Regelsätze. Westerwelle hatte sich gegenüber den politischen Kräften, die das Urteil dahingehend auslegen wollten, dass die Hartz-IV-Regelsätze erhöht werden müssten, zu der vorsorglichen Klarstellung herausgefordert gesehen, dass eine derartige Maßnahme geradezu auf eine Einführung des „Sozialismus“ hinauslaufen würde. Denn ein Staat, der die Versorgungsmentalität seiner arbeitslosen Bürger bedient, anstatt das soziale Risiko als Arbeiterexistenz komplett auf die Betroffenen abzuwälzen, würde diejenigen, die zu einem Leben mit Hartz IV genötigt sind, geradezu dazu ermuntern, sich in ihrer Armutslage häuslich einzurichten.
Zwar ist das Projekt der Änderung der Hinzuverdienstgrenzen mit der Reform von 2011 noch nicht verwirklicht worden - die FDP hat dieses Thema jedoch erst neulich wieder auf die politische Agenda gesetzt. Unbestritten ist jedoch der ideologische Ertrag der von Westerwelle geschürten Sozialneid-Kampagne. Seine mit der Parole „Arbeit soll sich wieder lohnen!“ begründete Forderung nach einer verschärften Durchsetzung des Lohnabstandsgebotes via Senkung der Regelsätze zielte erfolgreich auf die Pflege des Gerechtigkeitsempfindens derjenigen, die vielfach in Normalarbeitsverhältnissen kaum mehr Geld verdienen als Arbeitnehmer, die ohne Arbeit vom Sozialstaat unterhalten werden. Deren Lebenslage soll nicht etwa durch eine allgemeine Lohnerhöhung verbessert werden, sondern der den (noch) in Beschäftigung stehenden Arbeitnehmern verheißene Lohn ist rein ideeller Natur. Er besteht im Versprechen der Politik auf eine vergleichsweise Schlechterstellung derjenigen Teile der Lohnabhängigen die ihr Dasein als überflüssig gemachte Arbeitskräfte im sozialen Netz fristen müssen. Ein kleiner Vorgeschmack, was es mit der sozialen Gerechtigkeit so auf sich hat, welche die Kritiker von Hartz IV als zentralen Einspruchstitel gegen die Arbeitsmarktreformen ins Feld führen.
hier geht es zum II Teil des Vortrages: klick hier [5]
Den kompletten Vortrag (Teil I + II) hier nochmal als pdf-download [6]