► von Wilfried Pürsten, Berlin
Die vorläufige Anwendung nach EU-Recht unterscheidet sich wesentlich von dem herkömmlichen völkerrechtlichen Institut. Man könnte von einem Formenmißbrauch sprechen.
Als frühe Beispiele für vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge werden Friedensverträge (Vertrag von Osnabrück [1] vom Oktober 1648), bilaterale Handels- und Wirtschaftsverträge, nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend auch multilaterale Abkommen, wie das GATT [2] von 1947 oder das Abkommen über die europäische Zahlungsunion (EZU [3]) vom September 1950 genannt (Krenzler [4], Die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge, Diss 1963, S. 16 ff).
Hauptgrund für die vorläufige Anwendung ist regelmäßig der, dass die in dem Vertrag geregelte Materie keinen Aufschub bis zur Ratifikation verträgt. Dies waren historisch zunächst Fälle, in denen die Entfernung zwischen den vertragsschließenden Parteien noch nicht durch moderne Nachrichtenübermittlung überbrückt werden konnten (Quadruple Alliance Vertrag zur Befriedung der Levante vom Juli 1840. Krenzler, S. 20); im 20. Jahrhundert stellte sich als neues Verzögerungsmoment das Mitwirkungsrecht der Parlamente heraus.
Die vorläufige Anwendung führt einerseits zu einer ebenso schnellen Inkraftsetzung wie bei der sofortigen Ratifizierung, wie sie andererseits an der traditionellen Ratifizierung als Vertragsvoraussetzung festhält. „Die vorläufige Anwendung verbindet die Vorteile der Inkraftsetzung mit Unterzeichnung mit Vorteilen der Inkraftsetzung durch Ratifikation“ (Krenzler S. 22). Es ging also stets um die Abwägung zwischen dem Erfordernis alsbaldiger Fixierung des Vertragsinhalts und der Sicherung der innerstaatlichen Interessen, also auch der Entscheidungsfreiheit des Parlaments.
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