Ältere Frauen fallen aus der Rolle - kritische Kompetenzen sind gefragt.

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von Gisela Notz / Zweiwochenschrift Ossietzky


»Man sieht ein winziges Gesichtchen mit vielen Falten und einen schmallippigen, aber breiten Mund. Viel Kleines, aber nichts Kleinliches. Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.«

Von wem ist die Rede? Von der »unwürdigen Greisin«, die Bertolt Brecht 1939 beschrieben hat. Wahrscheinlich war sie seine Großmutter. Sie war 72 Jahre alt und vor kurzer Zeit Witwe geworden, als sie ihr Leben schlagartig änderte und »die kurzen Jahre der Freiheit« begannen. Bis dahin lebte sie in Armut, Abhängigkeit und Unfreiheit. Sie hatte fünf Kinder großgezogen, den Mann und den ärmlichen Haushalt versorgt, wie ich es auch von meiner Großmutter kenne. Auch sie hat »nie die Hände in den Schoß gelegt«, wie sie oft beteuerte. Sie war die Frau eines Industriearbeiters.
 

 

Brechts »unwürdige Greisin« konnte die Freiheit nur zwei Jahre genießen, dann ist sie gestorben. Aber diese zwei Jahre brachten ihre Familie, von der sie sich nach dem Tod ihres Mannes zurückzog, in Aufruhr. Sie war nicht mehr Mutter und Großmutter, sondern einfach Frau B., »eine alleinstehende Frau, ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln« ausgestattet. Das Schuldregister der alten Frau ist – in den Augen ihres jüngsten Sohnes – groß: Da ist vor allem der Umgang mit einem Flickschuster, der dazu noch Sozialdemokrat ist; dann regelmäßiges Essen im Gasthof; Einladungen eines »Küchenmädchens« aus dem Gasthof, eines geistigen »Krüppels«, wie es heißt; Fahrt mit einer Kutsche; Besuch eines Pferderennens; einsame nächtliche Spaziergänge; Kartenspiel und Rotwein-Trinken. Dieses Verhalten paßt nicht zu der in 72 Jahren erreichten und aufrechterhaltenen Würde und widerspricht dem konservativen kleinbürgerlichen Normensystem, nach dem sich eine Greisin an ihre Familie zu halten hat.

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