Alarmbereitschaft! Krise als Dauerzustand – Gewöhnung an ein Unding.

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von Marianne Gronemeyer

Ivan_Illich_Selbstbegrenzung_Technokratie_Marianne_Gronemeyer_Industrialisierung_Inhumanitaet_Entschulung_Tools_for_Conviviality_Kritisches_Netzwerk_Wachstum_Deschooling_Society„Den Menschen, der seine Lust im Gebrauch des konvivialen Werkzeugs findet, den nenne ich nüchtern und zurückhaltend. Er kennt das, was im Spanischen "la conviviencia" heißt, er nimmt Anteil am Mitmenschen.“ Nüchternheit ist „eine Tugend, welche nicht jeglichen Genuß ausschließt, sondern nur den, der die persönliche Beziehung verdrängt oder verdirbt.“ So steht es in der Einleitung zu der 1975 in Deutschland erstmals erschienenen Ausgabe von ‚Selbstbegrenzung’ von Ivan Illich.

Wir haben Euch zu einer Zusammenkunft herbeigerufen, in der Hoffnung, dass diese Tugend der Nüchternheit, die die persönlichen Beziehungen erblühen läßt, hier einkehrt, obwohl unsere Einladung bei genauerer Betrachtung nicht sehr einladend ist. Wir haben Euch konfrontiert mit einer Kaskade von Wörtern, die allesamt das Zeug haben, uns das Fürchten zu lehren – jedes für sich allein, aber erst recht und mit geballter Wucht in ihrem Zusammenwirken. Kaum auszumachen, welches von ihnen am meisten beunruhigt und besorgt. Am aufdringlichsten verschafft sich vielleicht der ‚Alarm’ Gehör. Er signalisiert unmittelbar drohende Gefahr, ruft nicht nur zu erhöhter Wachsamkeit auf, sondern dazu, alles stehen und liegen zu lassen, unverzüglich zu handeln oder zu fliehen, je nachdem, ob man über Mittel verfügt, der Gefahr zu begegnen oder vor ihr zurückweichen muß. ‚Alarm’, weckt in mir unwiderstehlich Erinnerungen an das Heulen von Sirenen, die den nächsten Luftangriff auf Hamburg ankündigten. Und noch heute kann ich den samstäglichen 12-Uhr-Probealarm nicht hören, ohne dass dieser Schrecken wiederkehrt.

Im ‚Etymologischen Wörterbuch des Deutschen’ lese ich: „Alarm m. ‚Warnsignal bei Gefahr, Zustand der Gefahr, Beunruhigung, Bereitschaft“.[1] Von ‚Alarm’ abgeleitet sei der ‚Lärm’, während der Alarm selbst sich aus dem italienischen ‚all’ arme’, ‚Zu den Waffen!’, dem Weck- und Waffenruf der Soldaten, herleite.

Da kommt viel – auch Widersprüchliches – zusammen an Bedeutungen und Assoziationen: Flucht und Angriff, Gefahr, Sorge und Beunruhigung, Schrecken und Kopflosigkeit, Wachheit und Auf-dem-Sprung-Sein, Nervenanspannung und angehaltener Atem; vor allem aber knappe Zeit. Keine Zeit also für Besonnenheit, Gelassenheit und kluges Abwägen.
 

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