Boris Kagarlitzki: Keine Provokation, eine Botschaft.

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von Kai Ehlers / Boris Kagarlitzki


Am 5.3.2015 veröffentlichte die Internet-Plattform „Rabkor“ (Moskau) den Kommentar von Boris Kagarlitzki (Foto rechts), Leiter des Moskauer Instituts für die Erforschung  der Globalisierung und sozialer Bewegungen (IGSO) in Moskau, unter dem oben stehenden Titel „Keine Provokation, eine Botschaft“. Wie dem Artikel klar zu entnehmen, skizziert Kagarlitzki darin den Gedanken, dass der Mord an Boris Nemzow als Botschaft regierungsnaher Kräfte an den russischen Präsidenten zu verstehen sei, dass es Zeit für einen Führungswechsel an der Spitze der russischen Regierung sein könnte.

Der Artikel war kaum erschienen, da hatten Deutsche Medien, die üblicherweise von Kagarlitzki und dem IGSO wie auch von anderen Kräften dieser Szene keine Notiz nehmen, Kagarlitzkis vorsichtige Überlegungen schon als Sensation aufgegriffen. Etwa BILD: „Moskauer Politologe spekuliert nach Mord an Boris Nemzow: Stürzt Russlands Elite Wladimir Putin?“

Es ist aufschlussreich für die Stimmung in Moskau, den Text zu lesen, den Kagarlitzki selbst dazu verfasst auch – auch wenn wir in der Einschätzung vielleicht etwas zurückhaltender sein möchten.

Kai Ehlers

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Keine Provokation, eine Botschaft.

von Boris Kagarlitzki


Boris Nemzow wurde genau zu dem Zeitpunkt erschossen, als die Vorbereitungen für den nächsten Marsch der Opposition in Moskau in vollem Gange waren. Ungeachtet der ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten war ein massenhafter Protest jedoch nicht  zu erwarten, weil die Führer der Opposition den sozialen Problemen der Mehrheit der Bevölkerung keine Aufmerksamkeit gewidmet hatten: die Sparmaßnahmen, die von den Behörden eingeführt wurden, hatten keine Aufmerksamkeit der liberalen Führer gefunden – bestenfalls wurde erklärt, der Grund aller Probleme Präsident sei Putin und wenn er nicht bei da sei, werde die Krise von sich aus sofort aufhören.

Vor diesem Hintergrund kam der Mord, der am 27. Februar abends auf der Großen Moskauer Brücke ein paar Dutzend Meter vom Kreml entfernt geschah, gerade zur passenden Zeit. Und zwar so sehr, dass viele Kommentatoren vermuteten, er sei direkt von der Opposition organisiert worden, um eine massenhafte Mobilisierung von Menschen für den Protestmarsch zu erreichen, wenn er gleich in einen Trauerzug verwandelt werde.

Dies ist natürlich unwahrscheinlich. Das Ausmaß der Provokation ist unproportional groß für so kleine, lokale Ziele.

Wenn vor jedem Protestmarsch ein politischer Aktivist getötet würde, dann gäbe es in Russland bald keine solche Menschen mehr.
 

 

Unbegründet waren auch Ängste (oder Erwartungen), dass der Oppositionsmarsch sich vor dem Hintergrund der Ermordung zu einer großen Konfrontation  entwickeln und zu Zusammenstößen mit der Polizei und einem "Moskauer Maidan" führen werde. Das wäre zu einfach und zu offensichtlich. Der Trauermarsch verlief friedlich, ruhig und harmlos, wie es im Allgemeinen typisch für Proteste in der Hauptstadt ist, die ihre Aktivisten aus den Reihen älterer Mitglieder der sowjetischen humanitären Intelligenz, der kreativen Klasse und den Hipster mobilisiert. Die sind nicht nur nicht gewaltbereit, sondern ganz allgemein radikalen Aktivitäten abgeneigt.
 

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