Die sehr private Erziehung des Kindes

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von Dr. Meinhard Creydt / Soziologe, Psychologe und Autor


Die Kindererziehung findet im modernen Kapitalismus unter besonderen äußeren Bedingungen statt. In Städten verschwinden unspezifische Freiflächen als für Kinder und Jugendliche attraktive Orte. Der Autoverkehr macht das Spielen von Kindern in der Umgebung der Wohnung oft problematisch. Die Verkleinerung der Familien und der Zwang zur Individualisierung als Anbieter von Arbeitskraft sowie die gestiegene räumliche Mobilität verringern die Zahl von Menschen, die unmittelbar im früher größeren Familiengefüge vor Ort präsent sind und am Wohl des Kindes tätig-praktisch Anteil haben: als ältere Geschwister, als unverheiratete Tanten oder Onkel, als Großeltern usw. „Jeder Haushalt ist auf die bloßen Hauptpersonen reduziert – auf weniger Hauptpersonen … Da gibt es nur die Hände einer einzigen Frau, um das Baby zu füttern, das Telefon abzunehmen, das Gas unter dem Topf, der überkochen will, abzudrehen, das ältere Kind zu trösten, das ein Spielzeug kaputtgemacht hat, und beide Türen gleichzeitig zu öffnen“, so Margaret Mead (zit. n. Szszesny-Friedmann 1994; 159, 169). Ein soziales Vakuum für die Kinder und ihre höhere Verletzlichkeit durch Trennungs- und Verlusterlebnisse sind die Folgen.

In modernen kapitalistischen Gesellschaften steigt der Bedarf nach zwischenmenschlicher Gegenwart und Resonanz. Die „Qualifikationen“ der Einfühlung, Rücksicht und Verantwortung für andere werden in steigendem Maße nachgefragt, bilden zugleich bei steigender Spezialisierung, Intensivierung der Arbeit, wachsendem Leistungsdruck und Konkurrenz einen nicht ausreichend nachwachsenden Rohstoff. Die Überforderung der Individuen als „Arbeitskraftunternehmer“ oder als „Planungsbüro“ ihrer eigenen Existenz geht mit einer Belastung mit Entscheidungen, Verantwortungen und Selbstsorge einher. Das Individuum ist von der Moderation der nicht nur verschiedenen, sondern widersprüchlichen Anforderungen absorbiert. Die Fokussierung des Individuums auf sich selbst fördert Narzissmus. Das eigene Handeln aus den Augen anderer zu betrachten, dafür werden bei den Innenarchitekten der eigenen „Identität“ und des eigenen „Lebensstils“ die Energie und der Sinn knapp.
 

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