Die Ukraine, der Westen und Rußland - Rückblick, Analyse und mögliche Auswege

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von Dr. Christian Wipperfürth

 

Im ersten Teil dieses Beitrages werde ich Grundzüge der Entwicklung der vergangenen Monate skizzieren. Im zweiten Teil untersuche ich, welche Auswirkungen eine anhaltende Konfrontationspolitik auf die Ukraine und die westlich-russischen Beziehungen besäße. Im dritten Teil habe ich Vorschläge unterbreitet, die einen Ausweg aus der Spirale von Gewalt und Konfrontation weisen könnten.


I. Die Ukraine, der Westen und Russland:

Frühjahr und Sommer 2014


Weit über 2.000 Menschen sind in der Ostukraine bislang gewaltsam ums Leben gekommen, hunderttausende sind geflüchtet, überwiegend nach Russland. Darüber hinaus befinden wir uns in der schwersten internationalen Krise seit Jahrzehnten. Sie wird weiter eskalieren, wenn wir nicht gegensteuern.


Skizzieren wir zunächst, warum diese Situation entstanden ist, um danach die Entscheidung abzuwägen, vor der wir stehen:

Die Ukraine ist ein sprachlich, kulturell, ethnisch und religiös tief gespaltenes Land. Abgesehen von der Krim gab es aber mehr als 20 Jahre keine ernsthaften Anzeichen, dass die territoriale Einheit zerbrechen könnte. Im November 2013 setzten Massenproteste gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ein. Seine Amtsführung wurde zwar in allen Landesteilen abgelehnt, die Demonstranten forderten jedoch eine deutliche Ausrichtung ihres Landes Richtung Westen. Sie erhofften dadurch eine Verbesserung der bedrückenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation. Eine Minderheit der Protestierenden wurde durch antirussische Ressentiments getrieben.

Nach einer Umfrage zweier renommierter ukrainischer Meinungsforschungsinstitute wurden die Proteste Ende Dezember 2013 von 80 Prozent der in der Westukraine Befragten unterstützt, im Osten waren es 30 Prozent und im Süden des Landes nur 20 Prozent. Westliche Politiker ermunterten meist zu einer einseitigen Westausrichtung der Ukraine. Diese wurde in den überwiegend russischsprachigen südlichen und östlichen Landesteilen jedoch abgelehnt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte bereits zu dieser Zeit, dass die Ukraine in der Gefahr stehe, „zerrissen“ zu werden. Der Westen zerrte von der einen, Russland von der anderen Seite.

Unmittelbar nach dem Machtwechsel von Ende Februar 2014 versuchte die neue Führung, den Status der russischen Sprache zu vermindern und ernannte einen Vertreter der extremen Rechten zum Generalstaatsanwalt. Diese und andere Maßnahmen wurden von vielen Millionen Menschen als ernsthafte Bedrohung ihrer kulturellen Identität, ja ihrer Sicherheit verstanden. Die völkerrechtswidrigen Vorgänge auf der Krim verstärkten die Spannungen und Spaltungstendenzen innerhalb der Ukraine. Im Osten und Süden vertrat im März fast die Hälfte der Befragten die Ansicht, die Differenzen zwischen den verschiedenen Landesteilen seien so groß, dass es zerbrechen könnte.
 

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