Politik zum Vergessen

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von Michael Parmentier


Moderne Gesellschaften wie die unsere wollen sich verändern, sind an Entwicklung interessiert. Sie suchen die ständige Innovation und damit die Abgrenzung von den Handlungen der Vorfahren und die Überwindung vorhandener Traditionen. Deshalb brauchen sie ein historisches Bewußtsein. Sie brauchen es, um im Sog der Veränderungen ihrer selbst gewiß zu bleiben und die Orientierung in die Zukunft nicht zu verlieren.

Paradoxerweise wird aber die Ausbildung eines solchen historischen Bewußtseins ausgerechnet von derjenigen Wirtschaftsweise erschwert, wenn nicht verhindert, die als Motor der Entwicklung seit Jahrhunderten das Tempo der gesellschaftlichen Veränderung immer weiter beschleunigt und schließlich in schwindelerregende Höhen getrieben hat: der kapitalistischen Ökonomie.
 

 

Je mehr sie das Leben dominiert, desto stärker verengt sich der zeitliche Blickwinkel. Ihrer inneren Logik nach ist die kapitalistische Wirtschaftsweise nämlich auf Geschichte nicht angewiesen. Sie braucht für die Aufrechterhaltung ihrer Kreisläufe kein langfristiges, über Jahrhunderte reichendes Planungsverhalten. Und sie braucht erst recht kein ebenso weitreichendes Erinnerungsvermögen. »Die Wirtschaft benötigt ein Gedächtnis«, wie Niklas Luhmann erkannte, »ausschließlich im Zusammenhang mit Kredit.« Und dabei geht es um vergleichsweise kurze Zeitspannen. Wie es scheint werden sie sogar immer kürzer. Die herrschende finanzmarktgetriebene Form des Kapitalismus ist nur noch an schnellen Gewinnen interessiert. Alles verantwortungsvolle Planen, das die Folgewirkungen der eigenen Wirtschaftsweise auf die zukünftigen Generationen miteinkalkuliert, und alles geschichtskundige Erinnern, das über die Auswertung von Feedbackdaten hinausgeht, wird von einer an der jeweils höchsten Rendite orientierten Rationalität als Effizienzbremse gebrandmarkt.
 

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