

Der unerschütterliche Wille der „Misérables“ des Nahen- und Mittleren Ostens
► von Murat Bay, Fotojournalist
„Wir versuchen hier eine Solidaritätskultur, ein Leben basierend auf Beteiligung aufzubauen“
Der Alltag von Kobanê ist vom anhaltenden Krieg geprägt, der viele Leben zerstört hat. Zehntausende Menschen haben ihre Kinder, ihre Häuser, ihre Heimat und ihren gesamten Besitz hinter sich gelassen und lediglich mit ihrem Schmerz auf den Schultern Zuflucht in Pirsus (Suruç) gesucht. Nicht lange zuvor, noch vor einigen Wochen, sind diese Menschen in Kobanê ihren alltäglichen Pflichten wie Schule und Arbeit frei nachgegangen, jetzt sitzen sie in Flüchtlingscamps fest und sorgen sich um ihre Zukunft.
Die drei Flüchtlingscamps am Eingang der Stadt erreichten schon bald ihre Kapazitätsgrenzen, sodass sich nun ein weiteres im Aufbau befindet. Sie wurden nach den Herkunftsorten der Flüchtlinge benannt. Demnach heißt ein Camp „Rojava Flüchtlingscamp“ und beherbergt etwa 2100 Flüchtlinge.
Als ich das Camp betrete begrüßt mich Dilan. Seit Tagen versucht sie durch ehrenamtliche Arbeit das Leben der Flüchtlinge zu erleichtern. Die Müdigkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Noch bevor ich meine erste Frage stellen kann, hocken wir auf dem Boden und beobachten Kinder und Frauen, die mit ihren leeren Schüsseln in der Essensschlange stehen. Dilan bricht als erste das Schweigen und sagt: „Sie können ihr neues Leben nicht akzeptieren, also so etwas wie Essensschlangen, das Lagerleben usw.. Sie haben den erlebten Schock noch nicht überwunden. Sie haben sich an diese Situation nicht gewöhnen können und haben daher Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Das beeinträchtigt sogar die Kommunikation untereinander. Die meisten wissen, dass ihre Häuser zerstört wurden und fürchten vor einen ungewissen Zukunft“.
► Der erste Pfeffersprayeinsatz der Türkei gegen die Menschen aus Kobanê
„Insbesondere die Kinder sind auf Hilfe angewiesen“ bemerkt Dilan und fährt fort: „Die Kinder müssen die Rolle von Erwachsenen einnehmen. Die meisten von ihnen sind in Rojava zur Schule gegangen und können das Ausmass der Tragödie, die sie erlebt haben, nicht einschätzen“. Dilan betont, dass das Leben dieser Kinder geraubt wurde und fügt hinzu: „Vielleicht können wir etwas tun, das diese Lücke ansatzweise schließt, sie brauchen Raum, um ihre Fähigkeiten zu entfalten.“
Die Flüchtlinge waren schon während der Flucht mit großen Problemen konfrontiert. Beispielsweise hat das türkische Militär die Flüchtlinge beim Passieren der türkischen Grenze erbarmungslos angegriffen. Da die meisten Flüchtlinge nie einen Pfeffersprayeinsatz miterlebt hatten, dachten sie zunächst, es handle sich um einen Giftgasanschlag und dass die Menschen, die von dem Gas ohnmächtig wurden, gestorben sind.