„Wer Kiew hat, kann Russland zwingen!“

DruckversionPDF version


Die Ukraine und die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg

von Dr. Reiner Zilkenat, Historiker und Autor


Als das Deutsche Kaiserreich im August 1914 daran ging, seinen „Platz an der Sonne“ mit Waffengewalt einzufordern, so wie es der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 im Reichstag eingefordert hatte spielte die Frage nach den Kriegszielen naturgemäß eine herausragende Rolle. Am 9. September 1914 brachte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in einer geheimen Denkschrift zu Papier, für welche Ziele die Millionen deutscher Soldaten an den Fronten zu leiden und zu sterben hatten. Wir lesen hier u.a.: „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“

Bereits einen Monat zuvor hatte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow folgende bemerkenswerte Sätze in einem Erlass für den deutschen Botschafter in Wien formuliert: „Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Russland; 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Russland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Russland möglichst nach Osten abzudrängen.“

 



Annexionen oder „indirekte Herrschaft“?

Zum Teil noch radikaler formuliert waren die Kriegszieldenkschriften des Alldeutschen Verbandes  und von Organisationen und Repräsentanten der deutschen Industrie, darunter von August Thyssen, Walther Rathenau, Alfred Hugenberg und Gustav Stresemann.  Im Laufe der Jahre gerieten die Zielsetzungen für den Osten Europas immer maßloser und bildeten eines der bevorzugten Themen in den Debatten über die anzustrebenden Kriegsziele. Die Kernfrage lautete:

  • Was bedeutete es konkret, Russlands Herrschaft „über die Vasallenvölker“ zu brechen?
  • Die territoriale Einverleibung eines Teils des Zarenreiches, z. B. des Baltikums und der Ukraine, in das Deutsche Kaiserreich bzw. die mit ihm verbündete Habsburgermonarchie?
  • Die Schaffung eines selbständigen, aber von den Mittelmächten politisch und wirtschaftlich abhängigen Polen?
  • Wie sollten sich derartige direkte Annexionen bzw. die Schaffung von „Einflusszonen“ (informal empire) in das Konzept zur Herstellung eines von Deutschland dominierten „Mitteleuropa“ einordnen?

Im Zentrum derartiger Überlegungen stand bald die Ukraine, sowohl aus ökonomischen als auch aus politisch-militärstrategischen Gründen.
 

weiterlesen