Zwischen Amok und Alzheimer

DruckversionPDF version

 

Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus


von Wolfgang Lieb (ehem. Mitherausgeber und Autor der NDS)


Vorspann von Joke Frerichs: Götz Eisenberg ist ein kritischer Beobachter des Alltagslebens im gegenwärtigen Kapitalismus. Seine Beobachtungen hat er in Form einer Collage zu essayistischen Fragmenten verdichtet. Mit großer Sensibilität nimmt er Alltagsphänomene wahr, an die zu gewöhnen er sich strikt weigert. So unterschiedliche Erscheinungen wie Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr; die Entwicklung des Gesundheitswesens zur Gesundheitsindustrie; der zeitgenössische Handywahn; Formen der Brutalisierung wie Messerattacken, Amokläufe oder Massaker; Praktiken des Social Sponsoring durch eine Fastfood-Kette oder die Rolle der Psychiatrie im System des Neoliberalismus sowie die Zerstörung sozialer Orte der Begegnung, wie der Wochenmarkt in seiner Heimatstadt, stellen für ihn Symptome einer Gefährdung demokratischer Errungenschaften dar. (Joke Frerichs)

_________________________

Der Titel des Buches ist für den Autor kein bloßes Wortspiel: "Er versucht ein Kontinuum von Möglichkeiten anzudeuten, mit denen Menschen auf die Verhaltenszumutungen der Gegenwart reagieren. Am einen Ende steht der Rückzug in den inneren Nebel der Demenz, am anderen der wütende Frontalangriff des Amoklaufs, der am liebsten die ganze Welt in den eigenen Untergang mitreißen möchte. Wer über das Begriffspaar stolpert und denkt, Amok und Alzheimer gehörten inkompatiblen Sphären – Amok der sozialen, Alzheimer der biologischen – an, dem sei gesagt: Auch Krankheiten sind soziale Phänomene, die uns etwas über die Gesellschaft verraten, in der sie zur Massenerscheinung werden. Die Demenz ist nicht einfach eine Krankheit in einer gesunden Umgebung: Sie verbreitet sich in einer Gesellschaft, die in ihrer Grundstruktur auf Vergessen gestimmt ist." (32f.)

Damit ist bereits angedeutet: Der Autor belässt es nicht bei der Beschreibung von Phänomenen; er versucht stets, seine Alltagswahrnehmungen zu reflektieren und deren gesellschaftliche Ursachen herauszuarbeiten. Das entspricht seinem Verständnis von Theoriebildung in der Tradition Peter Brückners. Demnach soll diese "nicht länger ausschließlich oder überwiegend am Schreibtisch stattfinden; erkannt werde auch auf der Straße und durch kritische Beobachtung des Alltagslebens der Menschen. Die intellektuelle Durchdringung gesellschaftlicher Phänomene erfordere nicht nur Lektüre und theoretische Begriffe, sondern die empirische Beobachtungsschärfe des Ethnologen."

An einigen Beispielen soll die phänomenologische Vorgehensweise des Autors dargestellt werden. So setzt er sich überaus kritisch mit dem Sachverhalt der Vernetzung auseinander. Gut vernetzt zu sein, wird mittlerweile als eine positive Eigenschaft einer Person angesehen; ja, es ist geradezu ein Gradmesser für deren soziale und politische Bedeutung geworden. Er wundert sich "über die Leidenschaft, mit der die Leute gegenwärtig ihre Vernetzung und Selbstenthüllung via soziale Netzwerke betreiben … Orwell hätte sich eine derartige freiwillige Datenabgabe und Offenlegung noch der intimsten Lebensbereiche in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können, und alle großen Diktatoren haben von solchen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten nur träumen können." (11)

weiterlesen