10 Gründe, weshalb Jerusalem nicht den jüdischen Israelis gehört
von Juan COLE, Übersetzt von Ellen Rohlfs
Der israelische Ministerpräsident Benyamin Netanjahu erzählte der amerikanisch-jüdischen Lobbygruppe AIPAC, dass „Jerusalem keine Siedlung sei“. Er fuhr fort: die historische Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel kann nicht geleugnet werden und auch nicht die historische Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und Jerusalem. Und weiter: „Das jüdische Volk baute Jerusalem vor 3000 Jahren und das jüdische Volk baut es auch heute. Jerusalem ist keine Siedlung – es ist unsere Hauptstadt.“ Das sagte er seinen applaudierenden Zuhörern und dass er einfach der Politik aller israelischen Regierungen seit 1967 folgen würde, als Jerusalem im Sechstagekrieg erobert wurde.
Netanjahu vermischte die romantisch-nationalistischen Klischees mit einer Reihe von historisch falschen Behauptungen. Und noch wichtiger war das, was er aus der Geschichte wegließ, wie auch sein Zitieren von verzerrter und ungenauer Geschichte. Er berücksichtigte weder Gesetze noch Rechte oder den allgemeinen Anstand gegenüber anderen, die nicht zu seiner ethnischen Gruppe gehören.
Hier sind die Gründe, warum Netanjahu Unrecht hat und Ost-Jerusalem nicht ihm gehört:
1. Nach dem Völkerrecht ist Ost-Jerusalem besetztes Gebiet wie die Teile der Westbank, die Israel einseitig seinem Distrikt von Jerusalem angeschlossen hat. Die Vierte Genfer Konvention von 1948 und die Den Haag-Regelungen von 1907 verbieten Besatzungskräften, die Lebensweise der Zivilisten, die unter Besatzung leben, zu ändern. Es verbietet auch das Ansiedeln von Menschen der Besatzungsmacht im besetzten Gebiet. Israels Vertreibung der Palästinenser aus ihren Häusern in Ost-Jerusalem, seine widerrechtliche Übernahme von palästinensischem Besitz dort, seine Besiedlung mit Israelis auf palästinensischem Land sind alles grobe Verletzungen des Völkerrechts. Israelische Behauptungen, dass sie die Palästinenser nicht besetzt halten würden, weil die Palästinenser keinen Staat haben, sind grausam. Die israelischen Behauptungen, dass sie auf leerem Gebiet bauen, sind lächerlich. Mein Hinterhof ist leer, aber das gibt Netanjahu noch lange nicht das Recht, einen Wohnkomplex darauf zu bauen.
2. Die israelischen Regierungen sind sich noch nicht einig geworden, was sie mit Ost-Jerusalem und der Westbank tun werden, im Gegensatz zu dem, was Netanjahu sagt. Der Galili-Plan für Siedlungen in der Westbank wurde erst 1973 adoptiert. Ministerpräsident Yitzhak Rabin verpflichtete sich als Teil des Oslo-Friedensprozesses, sich aus palästinensischem Gebiet zurückzuziehen und den Palästinensern einen Staat zuzugestehen; es sind die Versprechen, für die er von extrem Rechten (die jetzt Netanjahus Regierung unterstützen) ermordet wurde. Erst 2000 behauptete Ministerpräsident Ehud Barak, dass er mündliche Zusicherungen gegeben habe, dass Palästinenser fast die ganze Westbank bekommen könnten, und mit einigen Vereinbarungen könnte Ost-Jerusalem ihre Hauptstadt sein. Netanjahu versuchte, den Eindruck zu wecken, dass die Politik des rechten Flügels der Likudpartei, was Ost-Jerusalem und die Westbank betrifft, von allen israelischen Regierungen geteilt worden sei. Aber das ist einfach nicht wahr.
3. Romantischer Nationalismus stellt sich ein „Volk“ als ewig vor und als hätte es eine ewige Verbindung mit einem besonderen Stück Land. Diese Art des Denkens ist ein Hirngespinst und mythologisch. Völker entstehen, verändern sich und manchmal hören sie auf, zu existieren, auch wenn sie Nachkommen haben, die jedoch die Religion oder die Ethnie oder die Sprache aufgeben. Die Menschen haben sich nach allen Richtungen bewegt und sind nicht an irgendein Gebiet in besonderer Weise gebunden, da an den meisten Orten des Landes viele verschiedene Gruppen gelebt haben. Jerusalem war nicht von Juden bzw. Anhängern der jüdischen Religion gegründet worden. Es war zwischen 3000 v. Chr. und 2600 v. Chr. von einem westsemitischen Volk, möglicherweise von den Kanaanitern, den gemeinsamen Vorfahren der Palästinenser, Libanesen, vielen Syrern, Jordaniern und vielen Juden gegründet worden. Aber als es gegründet wurde, existierten die Juden (mit jüdischer Religion) noch gar nicht.
4. Jerusalem wurde zur Ehre des alten Gottes Schalem gegründet. Jerusalem bedeutet nicht Stadt des Friedens, sondern eher „Gebaut auf dem Platz von Schalem“.
5. Das „jüdische Volk“ hat Jerusalem nicht vor 3000 Jahren d.h. 1000 Jahre v. Chr. gebaut. Zunächst einmal ist noch nicht eindeutig bewiesen, wann exakt das Judentum als Religion - die Anbetung eines Gottes - feste Formen annahm. Es scheint so, als sei es eine späte Entwicklung gewesen, da es keine Beweise für Gottesverehrung gegeben hat außer den gewöhnlichen kanaanitischen Gottheiten, die in archäologischen Stätten um 1000 v. Chr. gefunden wurden. Es gab keine Invasion ins geographische Palästina von Ägypten durch ehemalige Sklaven um 1200 v. Chr. Die Pyramiden sind schon viel früher gebaut worden und ohne Sklavenarbeit. Die Chronik der Ereignisse während der Herrschaft von Ramses II. an der Mauer in Luxor weist auf keine frühere Sklavenrevolte hin oder auf eine Flucht der Sklaven auf die Sinai-Halbinsel. In ägyptischen Quellen kann man nichts über Moses oder die 12 Plagen etc. finden. Die Juden und das Judentum tauchten aus einer gewissen sozialen Klasse der Kanaaniter während einer Periode von Jahrhunderten auf.
6. Jerusalem war nicht nur nicht von dem wahrscheinlich noch gar nicht existierenden „Jüdischen Volk“ um 1000 v. Chr. gebaut worden. Jerusalem war zu diesem Zeitpunkt der Geschichte wahrscheinlich gar nicht bewohnt gewesen. Jerusalem scheint zwischen 1000 und 900 v. Chr. – dem traditionellen Zeitraum für das vereinigte Königreich unter David und Salomo – verlassen gewesen zu sein. Jerusalem war also nicht die „Stadt Davids“, da es dort keine Stadt gab, von der gesagt wird, er habe dort gelebt. Es gibt keinen archäologischen Beweis großartiger Paläste oder großer Staaten in dieser Periode. Und die assyrischen Tafeln, die kleinere Ereignisse im Nahen Osten berichten, wie die Taten arabischer Königinnen, wissen nichts über irgend ein großes Königreich von David und Salomo im geographischen Palästina.
7. Da die Archäologie nichts von einem jüdischen Königreich oder Königreichen in der sog. ersten Tempelperiode weiß, ist nicht klar, wann genau das jüdische Volk in Jerusalem geherrscht hat, mit Ausnahme des Hasmonäischen Königreiches. Die Assyrer eroberten Jerusalem 722 v. Chr.. Die Babylonier nahmen es 597 ein und herrschten in Jerusalem bis sie selbst 539 von den Achäminiden aus dem alten Iran erobert wurden. Sie herrschten in Jerusalem bis Alexander der Große die Levante 330 v. Chr. eroberte. Alexanders Nachfolger die Ptolemäer hatten Jerusalem unter ihrer Herrschaft bis 198, als Alexanders andere Nachkommen, die Seleukiden die Stadt übernahmen. Mit der Makkabäischen Revolte 168 v. Chr. herrschte das jüdisch-hasmonäische Königreich über Jerusalem bis 37 v. Chr., obwohl Antigonus II. Mattathias, der letzte Hasmonäer Jerusalem nur mit Hilfe der Parther-Dynastie 40 v. Chr. einnahm. Herodes herrschte von 37 v. Chr. bis die Römer im Jahr 6 AD Palästina eroberten. Die Römer und dann das ost-römische Reich von Byzanz herrschten über Jerusalem von 6 AD bis 614 AD, als die iranischen Sassaniden/Perser es eroberten. 629 AD holten es sich die Byzantiner wieder zurück.
Die Muslime eroberten Jerusalem 638 und herrschten dort bis 1099, als die Kreuzfahrer es eroberten. Die Kreuzfahrer töteten oder vertrieben Juden und Muslime aus der Stadt. Die Muslime eroberten es unter Saladin wieder zurück und die Juden durften zurückkehren. Doch Muslime beherrschten es bis zum Ende des 1. Weltkrieges oder zusammen 1192 Jahre.
Also gründeten nicht Anhänger des Judentums Jerusalem. Es bestand vielleicht 2700 Jahre, bevor wir dort etwas vom Judentum erkennen. Jüdische Herrschaft mag nicht länger als etwa 170 Jahre gedauert haben d.h. also während der Hasmonäer-Herrschaft.
8. Wenn also historisches Bauen in Jerusalem und historische Verbundenheit mit Jerusalem die Herrschaft über diese Stadt bestimmen – wie Netanjahu behauptet - dann sind es folgende Gruppen, die den größten Anspruch auf die Stadt haben:
a) Die Muslime, die es bauten und über 1191 Jahre es beherrschten
b) Die Ägypter, die es als Vasallenstaat mehrere Jahrhunderte im 2. Jahrtausend v. Chr. regierten.
c) Die Italiener bzw. Römer, die 444 Jahre es beherrschten – bis zum Ende des Römischen Reiches 450.
d) Die Iraner/Perser, die es 205 Jahre unter den Achäminiden regierten, drei Jahre unter den Parthern (insofern als der letzte Hasmonäer tatsächlich ihr Vasall war) und weitere 15 Jahre unter den Sassaniden.
e) Die Griechen, die 160 Jahre regierten, wenn wir die Ptolemäer und Seleukiden als Griechen zählen. Wenn wir sie als Ägypter und Syrer zählen, würde dies den ägyptischen Anspruch verstärken und einen syrischen einführen.
f) Die Nachfolgestaaten der Byzantiner, die entweder Griechenland oder die Türkei sein könnten, die es 188 Jahre regierten. Ja, wenn man die hellenistisch- griechischen Dynastien berücksichtigt, so hätte Griechenland fast 350 Jahre über Jerusalem geherrscht.
g) Es gibt auch einen irakischen Anspruch auf Jerusalem, der sich auf assyrische und babylonische Eroberungen bezieht, wie auch die Herrschaft der Ayyubiden (Saladins Herrschaft), die Kurden aus dem Irak waren.
9. Natürlich waren Juden historisch durch den Tempel mit Jerusalem verbunden. …
Aber diese Verbindung wurde meistens dann verfolgt, wenn Juden keine politische Kontrolle über die Stadt hatten: unter iranischer, griechischer und römischer Herrschaft. Man kann deshalb keine Forderung aufstellen, die ganze Stadt politisch zu kontrollieren.
10. Die Juden Jerusalems und dem übrigen Palästina verließen zum größten Teil nach dem fehlgeschlagenen Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer (136) nicht das Land.
Sie lebten weiter dort und trieben unter der römischen und byzantinischen Herrschaft Landwirtschaft. Nach und nach wurden sie Christen. Nach 638 n. Chr. konvertierten sie allmählich zum Islam – abgesehen von etwa 10 %. Die gegenwärtigen Palästinenser sind die Nachfahren der ehemaligen Juden und haben deshalb jedes Recht, dort zu leben, wo ihre Vorfahren seit Jahrhunderten lebten.
► Infos zum Autor und der Übersetzerin:
Juan Cole (*1952) ist ein amerikanischer Publizist und Historiker, der sich mit der jüngeren Geschichte des Nahen Ostens und Südasiens beschäftigt. Er hat mehrere wissenschaftliche Bücher über den Nahen Osten in der Moderne geschrieben und ist außerdem Übersetzer für Arabisch und Persisch. Seit 2002 unterhält er ein eigenes Blog: Informed Comment (http://www.juancole.com/) . Mehr Informationen zu J. Cole bietet die engl.-sprachige Wikipediaseite .
Ellen Rohlfs ist ein Mitglied von Tlaxcala, dem internationalen Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, die Übersetzerin als auch die Quelle genannt werden.
Einheimische Bevölkerung wird durch Okkupation verdrängt
In einem Kommentar zu dieser Thematik habe ich ebenfalls eine derartige Meinung vertreten. Die angeführten 10 Kriterien kann ich nur unterstützen, wobei ich allerdings keine historischen Recherchen angestellt habe, um jedes der genannten Details zu bestätigen. Allerdings ist es heutzutage unter Historikern eine unbestrittene Tatsache, daß die im Alten Testament geschilderten Ereignisse zum größten Teil weder inhaltlich noch von den zeitlichen Abläufen mit der Realität übereinstimmen.
Im 1. und 2. Jhtd. v. Chr. fand im Gebiet des heutigen Nahen Ostens eine ständige Abfolge von Kriegen, Vertreibungen, Zerstörungen und Stammesbewegungen statt, die das Konglomerat der Völkerwanderung im nachchristlichen Europa noch übertraf. Das heißt also, daß eine völlige Durchmischung der dort ansäßigen Menschen mit solchen aus den angrenzenden Großreichen stattfand, die immer wieder als Okkupatoren auftraten. Das Märchen von der reinen Rasse berüht weder bei den Juden noch bei anderen Volksgruppierungen auf der Wahrheit.
Alleine die Tatsache, daß die Juden in aller Welt in der Geschichte oft verfolgt und ihre Heimat verloren haben, gibt ihnen (den Israelis) noch kein Recht, das gleiche mit einem anderen Volk zu tun. Insbesondere dann nicht, wenn dieses Volk seine Wurzeln in der altjüdischen Ethnie hat.
Was spricht eigentlich gegen eine friedliche Koexistenz? Doch nur die rassistisch-fundamentalistische Einstellung des israelischen Establishments - und natürlich auch die entsprechende Intoleranz der Gegenseite der palestinensich-muslimischen Extremisten. Bei der letzteren meine ich speziell die außerpalestinensischen islamistischen Kräfte, die ihre eigenen Absichten in diesem Konflkt instrumentalisieren wollen. Auch liegt mir viel an der Feststellung, daß ich nicht-israelischen Gewalttaten niemals gegen israelische aufrechnen und relativieren werde.
Peter A. Weber