Gibt es auf Erden ein Mass?
Indem ich mir bewusst werde, dass ich bin, denke ich zugleich mein Gewesensein: Ich heute, ich gestern. Und ich empfinde das Morgen: Zukunft als das, was auf mich zukommt. Was wird auf mich zukommen? Was davon habe ich zu verantworten, was werde ich nur erdulden und erleiden müssen?
Ich bin also in der Zeit Antwort auf mein Geworfensein in diese Welt, nicht als passiver Reflex, sondern als Aufgabe. Ich habe mein Dasein eigenverantwortlich zu übernehmen, um mich selbst zu erschaffen. Ich habe mir als freier Dichter und Bildhauer meine eigene geistige Form zu geben.
Das meint nicht modische Selbst-Verwirklichung. In dieser antworten wir nicht auf die Ansprüche aus der Welt, sondern nur auf unser nacktes Ich. In solchem Widerhall hören wir uns selbst lediglich gedoppelt. Wir überhören die Dinge, die zu uns sprechen. Wollen wir ihre Wahrheit vernehmen, müssen wir stille werden. Erreicht uns der Anspruch der Dinge, dann folgen wir ihm freiwillig und fröhlichen Herzens. Wir gehorchen, nicht wie ein Sklave, sondern als Souverän. Als ein solcher Souverän habe ich erkannt, dass ich mich nicht mir selbst verdanke.
Indem ich mich als Geschenk akzeptiere, nehme ich der Hybris des modernen Menschen die Spitze. Über den Schenker weiss ich nichts. Ich bin auch all denen gegenüber skeptisch, die behaupten, hier etwas zu wissen.
Wer nur gehorcht, weil er einen Schenker als Gott denkt, gehorcht nicht aus fröhlicher Freiheit. Er folgt einer geglaubten Autorität aus Furcht, unterwürfig, zitternd, wie ein Slave.
Das ist das grosse Dilemma der Konfessionen. Die hierarchische Struktur beispielsweise der katholischen Kirche gibt beredtes Zeugnis von dieser anthropologischen Unfreiheit, die dem Einzelnen seine Würde nimmt.
Dagegen setze ich mein humanistisches Credo: Es gibt auf Erden ein Mass – wenn wir uns zu Hörenden emporgebildet haben.
Wer auf die Rose hört, bricht sie nicht.
Wer auf das Pferd hört, wird zum Pferdeflüsterer.
Wer auf das Kind hört, missbraucht es nicht.
Wer auf die Frau hört, wird als Mann zärtlich.
Wer auf den Mann hört, wird als Frau stärker.
Es gibt also schon auf Erden ein Mass. Der moralische Anspruch einer solchen nicht-metaphysischen Ethik liegt im Anderen und in den Dingen selbst. Wenn wir hörend der Welt entsprechen, erfahren wir Liebe, Mitleid und Gerechtigkeit als bindenden Massstab für unser Handeln. Diese innerweltlichen Erfahrungen müssen nicht onto-theologisch gedeutet werden. Eine metaphysisch offene Lehre vom Menschen wird möglich.
Peter Kern