Fähnleinführer im Bildungskollektivismus

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Fähnleinführer im Bildungskollektivismus
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Fähnleinführer im Bildungskollektivismus

von Matthias Biskupek

Die Diskussion um Unrechtsstaat DDR, sozialistische Heimkinderqual und das polytechnische Erziehungssystem beweist immer wieder, daß heutzutage unsere Schüler zu wenig wissen. Besonders Lehrer sind überfordert. Wie mit der Stoffeinheit »DDR« umgehen? Drum drucken wir nachfolgend die Arbeit politisch interessierter bayerischer Schülerinnen und Schüler. Ein gelungenes Beispiel, auch zur Nachnutzung in den politischen Stiftungen der demokratischen Parteien empfohlen.

In der ehemaligen DDR herrschte eine rigorose staatliche Schulpflicht, da Privatschulen verboten waren. Außerdem mußten alle Kinder in die Kinderorganisation »Ernst Thälmann-Pioniere« eintreten. Ausnahmen gab es nur für wenige Schüler, deren Eltern trotz Verfolgung ihren katholischen Glauben nicht abgelegt hatten. Ein jüdischer Religionsunterricht wurde nicht gestattet.
 

Die Kinder trugen zum Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Kinderorganisation Halstücher. Der Knoten symbolisierte, daß man eng zusammengeknüpft war mit der SED, der Diktaturpartei in der ehemaligen DDR. Ähnliches kam auch beim Abzeichen der SED zum Vorschein, zwei ineinander verschlungene Hände. So wurde die Politik von oben nach unten dirigiert, welches sich auch in der kleinsten Zelle der Gemeinschaft, der Schulklasse, ausdrücken sollte.

Allerdings konnten sich viele Kinder dem staatlichen Zwang entziehen und besonders am Nachmittag in privaten Familienkreisen sich mit den damals noch einfachen Spielgeräten wie Joysticks beschäftigen.

In der Schule wurde das Lernen in einem Frontensystem durchgeführt. Der Lehrer betrat den Klassenraum, und alle Schüler stellten sich im Grundprinzip neben ihre Stühle. Dann sagte der Fähnleinführer, ein von den Lehrern bestimmter Klassensprecher: Achtung! Klasse zur Schulung angetreten! Und der Lehrer erwiderte: Freundschaft! Setzen!

In Sachsen hießen die Fähnleinführer Gruppenratsvorsitzende. Dazu gab es noch einen Schülerrat, der aber keinerlei Rechte hatte. In Opposition dazu stand der Elternbeirat, dessen Mitglieder alle in der SED waren.

In der ehemaligen DDR wurde besonderer Wert auf naturwissenschaftliche Fächer gelegt. Aufgrund der staatlichen Mißwirtschaft wurden ständig neue Ingenieure gebraucht, die vor allem universelle Materialien entwickeln mußten, wie »Plaste«, ein in der ehemaligen DDR vielfach angewandter ehemaliger Grundwerkstoff.
 

Deshalb war auch der Werkunterricht bereits in der Grundschule Pflicht. Hier sollten die Schüler all die Fähigkeiten erlernen, die später dringend benötigt wurden, wie Nadelarbeiten, Schreinerei, Spenglerei und das Autotuning. Man nannte das Fach später »Polytechnischer Unterrichtstag«, weshalb alle Schulen nach und nach den Titel »Polytechnische Schule« trugen. Das private Handwerk hingegen war durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt. So gab es am Ende der ehemaligen DDR nur Kombinationsstützpunkte, in denen man »1000 kleine Dinge«, wie die SED-Diktatur in abschätziger Weise Non-food-Produkte nannte, selbst herstellen konnte.

Im Grundschullehrplan wurde vor allem Wert auf die Erziehung zum Klassenhaß gelegt. Das wurde aus den Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Putin abgeleitet, die in allen Grundschulen in Auszügen vorgelesen wurden. Im zentralen Lesebuch für die dritte Klasse, denn es gab keinerlei Bildungsföderalismus, mußten die Kinder zum Beispiel den Diktator Wladimir Lenin auswendig lernen. Er trug die Kleidung russischer und ukrainischer Bauern und konnte so von den damaligen Menschen in der ehemaligen Sowjetunion nicht erkannt werden.

Eine Besonderheit in der ehemaligen DDR-Grundschule war auch der Ernteeinsatz. Hier mußten die Schüler im Herbst auf die Felder zum Kartoffelklauben. Es gab keine Landwirtschaft und die Zwangskollektivierung arbeitete uneffektiv, so daß Erntehelfer gebraucht wurden. Die Schüler erhielten keinen Mindestlohn, allerdings gab es Gelder für eine staatlich verordnete Klassenkasse, aus denen die Schüler dann »Wandertage«, wie Klassenfahrten in der ehemaligen DDR heißen mußten, finanzierten.

Auch das Sammeln von Metallen und Zeitungspapier, welches in der ehemaligen DDR »SERO« hieß, wurde von allen Grundschülern gemeinsam durchgeführt. Mit großen Handwagen zog man jahrgangsübergreifend durch die Straßen und rief im Chor »Süßes oder Saures!«, wodurch die Bevölkerung wußte, daß sie ihre Vorräte an SERO abliefern mußten. Später wurde dies durch sogenannte Timur-Trupps durchgeführt, eine aus der ehemaligen Sowjetunion eingeführte paramilitärische Organisation, nach dem islamistischen Diktator Timur benannt.
 

Die Vorbereitung auf die Bundeswehr begann in der ehemaligen DDR eben-falls schon in Grundschulen. An den »Wandertagen« wurde Geocaching durchgeführt, bei dem es Ziel war, den »Klassenfeind« zu besiegen. Der »Klassenfeind« war ein in den staatlichen Wäldern versteckter Behälter aus Blech, dem man nur dann finden konnte, wenn man den von sogenannten Pionierleitern ausgegebenen Hinweisen mit »Karte und Kompaß« (in der ehemaligen DDR übliche Bezeichnung für ein Navi) folgte.

In den oberen Klassen wurde die Freizeit dann durch die GST (»Gesellschaft für Sport und Transportwesen«) geregelt. Man konnte in dieser Gesellschaft den Motorradführerschein erwerben, das Surfen (in der ehemaligen DDR »Brettsegeln«) erlernen oder in Reiterhöfen sich zum Pferdesport bekennen.

Einen gültigen Abschluß der Grundschule erhielt man nur, wenn man sich zum Sozialismus bekannte und den Verwandten im freien Teil Deutschlands verbot, zur Konfirmation, wie die Kommunion im evangelischen Teil der kommunistischen Staaten heißen mußte, Päckchen zu schicken.

Persönliche Schlußfolgerung und Erkenntnis aus dieser Jahresarbeit:

Unsere Großeltern haben trotz Verbot immer Päckchen mit Seife und Diddl-Mäusen in den ehemaligen Ostblock geschickt.

Matthias Biskupek



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 22/2014 > zum Artikel

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

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3. Berlin: "Als Eintritt zu einem Pionierfest an der 2. Oberschule "Saefkow", Prenzlauer Berg, brachten die Mädchen und Jungen jeder 1 kg Altpapier oder Flaschen und Gläser mit. Durch ihre hohe Einsatzbereitschaft bei verschiedenen Solidaritätsaktionen konnten die Pioniere im Schuljahr 1978-79 bis Anfang Mai eine Summe von 8.420,00 Mark auf das Solidaritätskonto spenden."

Fotograf: Thomas Lehmann. Quelle: Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild, Bild 183-U0509-0017 / bei Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert.