Hans A. Pestalozzi (* Feb. 1929; † 14. Juli 2004) war Gastredner anlässlich der am 23. und 24. März 1990 in Heidelberg abgehaltenen Deutsch-englischen Tagung "Humanismus und Gesellschaft" zum 90. Geburtstag von Erich Fromm. Den nachfolgenden Beitrag Pestalozzis wurde mir freundlicherweise von Dr. phil. Rainer Funk, Tübingen, zur Verfügung gestellt - hierfür herzlichen Dank.
Strategien zur Veränderung der Gesellschaft
von Hans A. Pestalozzi
Der Katalog von Maßnahmen, deren Verwirklichung E.F. für unabdingbar hielt, um aus der verheerenden Entwicklung unserer Zivilisation herauszufinden, ist 20 Jahre alt. Es ist spannend, einige dieser Maßnahmen herauszugreifen und sie mit der tatsächlichen Entwicklung zu vergleichen.
„Die Produktion ist auf einen gesunden und vernünftigen Konsum auszurichten“.
In Wirklichkeit hat sich die Produktion immer noch mehr verselbständigt und von den wirklichen Bedürfnissen des Menschen entfernt.
„Die Regierungen haben eine wichtige Rolle im Rahmen eines Erziehungsprozesses zu spielen, durch welchen die Menschen zu einer attraktiveren Form des Konsums gelangen als der gewohnten. Der Staat hat dem pathologischen Konsum Normen gesunden Verbrauchs entgegenzusetzen.“
In Wirklichkeit haben sich sämtliche Regierungen ausnahmslos in den Dienst einer Wirtschaft gestellt, die ihr einziges Ziel darin sieht, den gewohnten Konsum um jeden Preis weiter zu steigern.
„Die Kluft zwischen den reichen und den armen Nationen muß geschlossen werden.“
In Wirklichkeit wurden und werden die reichen Nationen immer reicher, die armen Nationen immer ärmer.
„Ein wirksames System zur Verbreitung von objektiven Informationen ist zu etablieren.“
In Wirklichkeit hat ausgerechnet im Informationsbereich die größte Konzentration statt gefunden. Der einzelne Mensch ist nicht mehr in der Lage zu überprüfen, ob eine Nach richt ihn manipulieren will oder ob sie irgendeinen „objektiven“ Gehalt hat.
„Wirtschaft und Politik müssen maximal dezentralisiert werden“
In Wirklichkeit ist zurzeit in Wirtschaft und Politik eine Zentralisation im Gang, die jedes frühere Vorstellungsvermögen übersteigt.
„Das bürokratische ist durch ein humanistisches Management zu ersetzen.“
In Wirklichkeit gebärdet sich das Management brutaler, unmenschlicher denn je. Durch die Fusionen der Großkonzerne werden die Bürokratien immer größer und stärker und das Management undurchsichtiger und beherrschender.
„Das Recht der Aktionäre und Konzernleitungen, über ihre Produktion ausschließlich vom Standpunkt des Profits und Wachstums zu entscheiden, muß drastisch eingeschränkt werden.“
In Wirklichkeit sind alle Versuche der Allgemeinheit, den Konsumenten, Arbeitern oder auch Vertretern von Umwelt- oder Drittwelt-Organisationen Einflußmöglichkeiten auf die Wirtschaft einzuräumen, kläglich gescheitert.
„Die industrielle und politische Mitbestimmungsdemokratie ist voll zu verwirklichen.“
In Wirklichkeit ist schon die Diskussion über Mitbestimmung in der Wirtschaft aus Abschied und Traktanden gefallen. Mitbestimmungsmodelle, wie z.B. in der Montan-Union, haben sich als Farce erwiesen.
Auch bei allen übrigen Vorschlägen von E.F. ist das gleiche festzustellen: Auf keinem einzigen Gebiet verlief die Entwicklung so, wie sie E.F. nicht nur als wünschenswert, sondern als unbedingt notwendig erachtet hatte. Wir dürften dem von E.F. befürchteten Zustand totaler Zentralisierung, d.h. dem „technokratischen Faschismus mit einem lächelnden Gesicht“ – wie sich E.F. aus drückte – bald erreicht haben.
War er vor 20 Jahren derart naiv? Er war nicht naiver als wir alle, die (wir?) uns damals kritisch mit der Entwicklung unserer Zivilisation auseinandergesetzt hatten. Es war naiv zu glauben, innerhalb unseres Systems könne eine positive Entwicklung eingeleitet werden.
Die gesellschaftliche Entwicklung lief anfänglich in ähnlichen Phasen ab, wie sie bei einer individuellen Analyse üblich sind.
Es gab eine erste Phase des Leidens, als wir merken mußten, wie total wir uns in der Nachkriegszeit verrannt hatten. Eine Phase der Betroffenheit: so kann es nicht weiter gehen, wenn wir nicht alles, was echtes Leben ausmacht, zerstören wollen. Wir erkannten daß „Technik und irrationale gesellschaftliche Kräfte und Institutionen das Überleben der westlichen Gesellschaft, wenn nicht gar der Menschen, bedrohen“. Wir spürten, daß „viel zu haben kein Wohlsein schafft.“
Es folgte die zweite Phase, in welcher wir die Ursache unseres Leidens, unser Betroffenheit erkennen mußten. Wir mußten erkennen, daß „die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt wurde, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems?“
Daß es ein Grundprinzip unseres Systems ist, „die Produktion nach dem maximalen Profit statt nach dem maximalen Nutzen des Menschen auszurichten“. Daß die Vorgänge in unserer Gesellschaft zur „Standardisierung des Menschen“, zur „Einförmigkeit“ und damit zur Unmenschlichkeit führen mußte.
Daß diese Wirtschaft nur gesund sein kann, wenn die Menschen krank sind. Daß der in den Industrienationen lebende „Mensch, der ausschließlich mit Haben und Besitz beschäftigt ist, psychisch krank und neurotisch ist“, und daß eine „Gesellschaft, in der die anale Charakterstruktur überwiegt, krank zu nennen ist.“ Um nur einige der Faktoren zu nennen, die für E.F. Ursachen unseres Leidens waren.
Die dritte Phase war die spannendste: Sehen wir Möglichkeiten, unser Leiden zu überwinden? Es war die Phase, in der wir unserer Phantasie freien Lauf lassen, in der wir träumen konnten. Es war die Phase, in welcher neue Energieszenarien, neue Verkehrskonzepte, neue Formen der Landwirtschaft, ein anderes Verhältnis zur Dritten Welt, neue Formen des Wohnens und des Zusammenlebens entwickelt wurden. Es war die Phase, in der E.F. seine Vorschläge für eine Veränderung unserer Gesellschaft entwickelte, von denen ich eingangs einige erwähnt habe. Sie betrafen alle nur denkbaren Bereiche und reichten von der Bildung von hunderttausenden von Nachbarschaftsgruppen über die radikale Abkehr vom Patriarchat bis zum garantierten jährlichen Mindesteinkommen.
Wir befinden uns längst in der vierten Phase, in welcher es notwendig gewesen wäre, unsere Lebenspraxis bzw. die Realität in Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern, um unser Leiden zu überwinden, mit anderen Worten: die Ursachen unseres Leidens zu beseitigen. Und genau das ist nicht geschehen. In Wirtschaft und Gesellschaft hat sich nichts das geringste verändert – höchstens an einige Symptomen. Unter dem Strich ist alles schlimmer geworden.
Weshalb geschieht eigentlich nichts? Ein Journalist sagte kürzlich zu mir, E.F. sei doch im Grunde genommen ein arger Pessimist gewesen. Sah er schon damals, als er seine Vorschläge entwickelte, daß sie nie zu realisieren sein werden, da ein System nie über das System selber zu verändern ist? Es tönt wirklich fast resigniert, wenn E.F. feststellt: „Die Chancen sind gering, daß es zu den notwendigen menschlichen und gesellschaftlichen Veränderungen kommt.“ Diese oder jede Form vorzuschlagen, ohne das System von Grund auf zu erneuern, ist auf lange Sicht gesehen sinnlos. Die Schwierigkeiten, eine neue Gesellschaft aufzubauen, sind nahezu unüberwindbar.
Die Vorstellungen von E.F., wie die Veränderungen ablaufen sollten, sind widersprüchlich. Auf der einen Seite der Glaube an den Willen des einzelnen Menschen, sich zu verändern, auf der anderen Seite der Hinweis auf den blinden Gehorsam, auf den wir in dieser Gesellschaft gedrillt werden. Auf der einen Seite die Überzeugung, daß es möglich sein werde, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in welchem der Übergang von der Selbstsucht zum Altruismus leicht sein werde, auf der anderen Seite das Wissen um die verheerenden Einflüsse der kommerziellen und politischen Methoden, der Gehirnwäsche, um wieder einen seiner Ausdrücke zu gebrauchen.
Auf der einen Seite die Hoffnung auf die Macht militanter Verbraucherorganisationen, auf der anderen Seite das Eingeständnis, daß die Wünsche des Konsumenten durch den Produzenten erzeugt werden und daß wir „Gesellschaft satter, nicht denkender Roboter“ verkommen werden, wenn es nicht gelingt, die Macht der multinationalen Konzerne zu brechen.
Auf der einen Seite der Glaube an die Möglichkeit, unser System menschlicher zugestalten, auf der anderen Seite der Hinweis, daß die ganze „westliche Geschichte eine Geschichte der Eroberung, Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung ist.“
Was ist zu tun? Was bleibt übrig? Resignieren? War E.F. also doch ein Pessimist, und zwar zu Recht? Konvertieren? Mitmachen? Die eigene Überzeugung aufgeben? Hoffen auf den großen Quantensprung, den Paradigmenwechsel, das Wassermannzeitalter, wie es New Age verheißt?
E.F. nannte bereits die Vorläufer von New Age, ein „spirituelles Smorgasbrod“. Alles leicht lernbar, ohne Anstrengung, der Erfolg tritt sofort ein. „Erreicht wird nur eine vorübergehende Besserung der Symptome oder bestenfalls ein Zuwachs und Energie oder etwas Entspannung. Im Grunde sind diese Techniken ein Mittel, um sich besser zu fühlen und sich der Gesellschaft besser anzupassen“.
Warten auf ein neues System? Aber ist nicht jedes System wieder Ideologie, Dogmen, Abhängigkeiten, Hierarchien? Führte nicht jedes System zu jener Unselbständigkeit des Menschen, die für E.F. die Hauptursache allen Übels ist?
Wenn ich mich mit einem System in keiner Weise mehr identifizieren kann, wenn ich andererseits weiß, daß das System über das System nicht veränderbar ist und daß es Unsinn wäre, das bestehende System durch irgendein anderes ersetzen zu wollen, was bleibt mir dann anderes übrig, mich dem System zu verweigern? Es braucht „die kompromißlose Kritik und die Weigerung, das Spiel in einem System der Täuschung mitzumachen.
Gibt es dann etwas anderes, als zu versuchen, mich mit allen Kräften diesem System zu entziehen, um mein Leben meiner Überzeugung gemäß leben zu können?
Ist es nicht interessant, daß im jüngsten Buch aus dem Nachlaß von E.F. „Vom Haben zum Sein“ [4] kein Wort mehr von Gesellschaftsveränderung und Systemkritik oder gar von Vorschlägen zur Veränderung unserer Wirtschaftsordnung mehr zu finden ist? Es geht nur noch um den einzelnen Menschen und seine Einstellung, seine Grundhaltung dem eigenen Leben und dem Mitmenschen gegenüber.
„Ich bin was ich bin“ – ist das entscheidende Credo von E.F. Es ist das vorbehaltlose Bekenntnis zum Individuum in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit. „Das einzig realistische Ziel ist die totale Befreiung; das ist das Ziel des radikalen (oder revolutionären) Humanismus“. „Ein freier Mensch schuldet nur sich selbst, seiner Vernunft, seinem Gewissen eine Erklärung, und vielleicht noch einigen wenigen, die einen berechtigten Anspruch auf Erklärung haben“. „Nichts außer uns selbst gibt dem Leben Sinn“.
Es ist der Glaube an die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung, die Autonomie des Menschen, an seine Bereitschaft und Fähigkeit, bewußt zu leben, sein Leben selber zu gestalten und für sich die objektiven Möglichkeiten zu schaffen, sich den Zwängen und Wertmaßstäben dieses Systems entziehen zu können.
Die Schwierigkeiten sind gigantisch. Es beginnt schon bei der Bereitschaft, autonom sein zu wollen. „Wie können sich Sklaven so ändern, daß sie sich nach Freiheit sehnen? Der versklavte Mensch hat keine Vorstellung von der Freiheit – und doch kann er ohne diese Vorstellung von Freiheit nicht frei werden“.
Beginnt die Freiheit tatsächlich mit der Fähigkeit des Menschen zu leiden, wie E.F. meint? Leidet der Mensch körperlich und geistig, wenn er unterdrückt wird? Wann fühle ich mich unterdrückt? Schreibt nicht E.F. selber, daß „die Gesellschaft und die Familie als deren psychosoziale 'Agentur' ein schwieriges Problem zu lösen haben: wie breche ich den Willen eines Menschen, ohne daß dieser es merkt?“ Und wie steht es mit dem Wunsche des Menschen, möglichst nicht aufzufallen, zu sein wie andere, sich anzupassen und einzuordnen?
„Die Menschen neigen in einem viel größeren Maße von sich aus zur Konformität als sie dazu gezwungen werden. Die meisten Menschen sind sich nicht einmal ihres Bedürfnisses nach Konformität bewußt“.
Fragen über Fragen. Noch weit schwieriger ist es, wenn es um die Fähigkeit des Menschen geht, selbst bestimmt sein zu können. „Unabhängigkeit bedeutet das Durchschneiden der Nabelschnur und die Fähigkeit, sich im Leben allein auf sich selbst zu stellen“. „Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Menschen ist, daß er die primären Bindungen an sein Vaterland, seine Sippe und Vater und Mutter durchtrennt. Zur Freiheit gelangt nur der, dem es gelingt, sich von den primären Bindungen zu befreien, welche Sicherheit verleihen, aber den Menschen verkrüppeln“.
Es sind riesige Anforderungen. Das Buch „Vom Haben zum Sein“ [4] ist nichts anderes als eine Hilfestellung in diesem Versuch des Menschen, zu sich selber zu finden. E.F. ist ein grenzenloser Optimist.
Ob wir damit die Gesellschaft verändern? Lebst du, um die Gesellschaft zu verändern oder um dein Leben zu leben? Glaubst du nicht, daß du dadurch, daß du dich diesem System verweigerst, letztlich auch das System veränderst, indem du es untergräbst? (H.A.P.)