Die Macht der Bedürfnisse. Überfluss und Knappheit.
Autorin: Marianne Gronemeyer
Verlag: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; (2. Auflage, 8/2009) - zur WBG- und Verlagsseite [4]
ISBN-13: 978-3-534-23107-2
gebunden, 222 Seiten, 19,90 EUR
"Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen." (Friedrich Nietzsche)
Marianne Gronemeyer setzt sich in ihrem neuen Buch kritisch mit den 'Grundbedürfnissen' des modernen Menschen auseinander. Ihr Fazit: Das kaum mehr hinterfragte Streben nach Zeit, Sicherheit, Anerkennung und Bequemlichkeit ist weder natürlich noch selbst gewählt. Es wurde in den Köpfen installiert, um ein Machtverhältnis zu schaffen - einer Macht von Produzenten über die Konsumenten. Denn eines macht gerade diese Bedürfnisse so lohnenswert: Sie sind unersättlich, in ihrem Verlangen nach immer mehr Waren und Dienstleistungen unbegrenzt.
Wer sich mit den menschlichen Bedürfnissen beschäftigt, sieht sich in lauter Widersprüche verwickelt: Wir glauben, die Welt werde nach unseren Bedürfnissen eingerichtet, tatsächlich richten sich unsere Bedürfnisse nach der Welt. Wir sind überzeugt, dass wir Macht über unsere Bedürfnisse haben, in Wahrheit sind die Bedürfnisse das Einfallstor der Macht, die über uns ausgeübt wird. Wir halten die Bedürfnisse für den Ausdruck unseres ureigensten Wollens, aber sie sind ein Verhängnis, das über uns kommt. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, aber: Je größer der Überfluss, desto bedürftiger die Menschen.
Marianne Gronemeyer kommt zu einem ernüchternden Fazit: "Was den Konsumzwang so verderblich macht und den (falschen) Bedürfnissen ihre teuflische Macht verleiht, ist nicht nur der Umstand, dass Menschen über Gebühr mit Unnützem und Überflüssigem in Betrieb gehalten werden; sondern, dass sie dafür ihre Seele verkaufen. Die 'falschen' Bedürfnisse werden nicht nur angedreht, um die Produktionsmaschinerie auf Hochtouren zu halten, sondern um die 'wahren' Bedürfnisse auszurotten." Das Buch ist eine fundamentale Kritik am Konsumismus und den Werbestrategien.
► Inhalt:
Vorwort
Macht und Bedürfnis
Der Mensch, das bedürfnisbegabte Wesen?
- Bedürfnisse machen vermögend
- Bedürfnisse machen einzigartig
- Bedürfnisse machen gemeinschaftsfähig
- Bedürfnisse schaffen Heimat
Sind die Bedürfnisse schlechter als ihr Ruf?
Die Eleganz der Macht
- Die Besitzmacht
- Die Macht der Diagnose
- Die Macht der Risikoverteilung
Macht – Bedürfnis – Knappheit: eine unheilige Allianz
Die Bedürftigkeit der Macht
- Das Sicherheitsbedürfnis
- Das Zeitbedürfnis
- Das Bequemlichkeitsbedürfnis
- Das Anerkennungsbedürfnis
- Knappheit und Unersättlichkeit
Der Widerstand gegen elegante Macht
- Gegenmacht
- Ohnmacht
- Partizipation
Bedürfnisse und Wünsche
Der bedürfnisbegabte Mensch als Kollaborateur
- Bedürfnisse machen bedürftig
- Bedürfnisse sind gleichmacherisch
- Bedürfnisse machen wölfisch
- Bedürfnisse machen die Erde unbewohnbar wie den Mond
Gibt es eine Überflussgesellschaft?
Bedürfnisse – Gegenbedürfnisse – Bedürfnislosigkeit
Eine Typologie der Bedürfnisse
- Bedürfnis nach Aktivität versus Bedürfnis nach Belieferung
- ualitative versus quantitative Bedürfnisse
- Materielle und nicht-materielle Bedürfnisse
Haltungen gegenüber der Knappheit
Eine Typologie der Bedürfnislosigkeit
- Bedürfnislosigkeit
- Nicht-Bedürftigkeit
- Sättigung
- Resignation
- Verzicht
Jenseits der Bedürfnisse: Das Leben-in-Daseinsbedingungen
Kultur als Nachahmung der Natur
Leben-in-Natur
Leben-in-Tätigkeit
Leben-in-Gemeinschaft
- Kooperation und Teilen
- Teilen statt Neiden
- Neid und Knappheit
Leben-in-Zeit
- Die Aussperrung der Toten
- Wesen und Unwesen: das gespaltene Sein
- Ausweg: Zeitersparnis?
Das Leben-mit-Fähigkeiten
Fähigkeit contra Bedürfnis
Brüchige und wuchernde Zusammenhänge
Über die Fähigkeiten
Vom Nutzen und Schaden der Dinge
- Das Ding, das unbekannte Wesen
- Die Gebrauchsgegenstände
- Vom Ding zum Unding
- Die Verbrauchsgegenstände
Das infektiöse Unwesen
Vom Paradies zum Supermarkt
O dass wir unsere Ururahnen wären
Vom Mängelwesen zum Systemmodul
Anmerkungen
Literatur
Register
► Leseprobe:
»Die Versuchung, darüber nachzudenken, wie denn nun der Kriegszustand der Knappheit, die den Zweifrontenkrieg erstens gegen die Natur und zweitens aller gegen alle auslöste, in die Welt kam, ist groß. Die Frage nach den präzisen Entstehungsursachen von Knappheit und nach den einzelnen konkreten Stadien ihres Siegeszuges, mit dem sie nun fast alles, was lebt und nicht lebt, unter ihr Gesetz gezwungen hat, ist genauso bohrend wie die jahrhundertelang gestellte Frage nach der Genealogie der Macht – und genauso unbeantwortbar.
Mit meiner Definition von ›Macht‹ ist für die Beantwortung dieser Frage nichts hinzugewonnen. Die doppelte These, Knappheit schaffe Bedürfnisse, wie auch umgekehrt Bedürfnisse Knappheit schaffen, macht die Frage, was zuerst da war, die Macht oder das Bedürfnis nach ihr, ebenso unentscheidbar wie die nach der Originalität von Huhn oder Ei. Die Inbrunst, mit der dieser Frage nachgegangen wird, erklärt sich ja wohl aus der Hoffnung, dass man dem Übel ein Ende setzen könnte, wenn man nur wüsste, wie es begann.
Ich werde mich also damit begnügen, Bedingungen für ein gesellschaftliches Leben jenseits von Knappheit und Bedürfnis zu erkunden und auch Möglichkeiten des Widerstandes gegen Knappheit inmitten der Knappheitsgesellschaft abzuschätzen versuchen, ohne ihre Geschichte vom Ursprung her nachzeichnen zu können.«
► Rezension von Margarete Wais:
"Es gibt eine Geschichte: Es war einmal ein Mann, der lebte in Armut. Nach vielen Abenteuern und einer langen Reise durch die ökonomische Wissenschaft traf er die Überflussgesellschaft. Sie heirateten, und sie hatten viele Bedürfnisse." (J. Baudrillard, 1970)
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Problematik unserer modernen Überflussgesellschaft und mit dem damit verbundenen Phänomen der Knappheit. Diese Knappheit ist nach Gronemeyer die Macht, die das Leben vieler Menschen beherrscht. Indem die Macht Knappheit schafft, erzeugt sie Bedürfnisse nach eben diesen knappen Gütern. Durch die menschliche Rivalität bekommt die Knappheit zusätzlich Bedeutung, da gerade die knappen Güter am meisten begehrt werden. Demzufolge entsteht die Knappheit aus dem Gefühl des Neids, der früher als Laster verdammt wurde, heute aber als wichtiger Motor der Wirtschaft gilt. Interessant erscheint, dass viele klassische Kulturkreise dieses Problem nicht kannten, obwohl sie keineswegs über diese Auswahl an Gütern, wie unsere heutige Gesellschaft sie kennt, verfügten. In den Jäger- und Sammlergesellschaften war das in der gegenseitigen Rivalität wurzelnde Problem der Knappheit nicht vorhanden, da Mängel durch Solidarität und Hilfe auf Gegenseitigkeit ausgeglichen wurden.
Marianne Gronemeyer stellt in diesem Buch auch die Fragen "Hat Macht ein Gesicht?" und "Wie kommt Macht über uns?". Hier zeigt sich ganz klar ein Nord-Süd-Gefälle. Im Süden der Welt zeigt sich die Macht immer noch offensichtlich als Diktatur und Ausbeutung der Entwicklungsländer. Im Norden hingegen, quasi als Privileg der westlichen Länder, ist die Macht elegant geworden, allgegenwärtig, verborgen und unauffällig. Perfekt ist Macht dann, wenn die Untertanen sagen "Ich bin frei". Dafür ist die Demokratie wunderbar geeignet - alle glauben, was sie sollen, und fühlen sich dabei noch frei. Die Macht rechtfertigt sich als Dienerin der Bedürfnisse ihrer Untertanen, doch sind diese Bedürfnisse die eigenen und somit Garant einer Selbstbestimmung? Oder sind die Bedürfnisse wie das trojanische Pferd - werden von der Wirtschaft vorgegaukelt und wir glauben, es wären unsere ureigensten Bedürfnisse? Viele Fragen, die in diesem Buch aufgeworfen werden und die dem kritischen Leser sicher zu denken geben müssen.
Gronemeyer beschreibt zwei zentrale Formen der Macht. Einerseits die Besitzmacht, deren Ursprung in der Einzäunung und Privatisierung des Landes liegt und die gemeinsame Nutzung beendet. Hier fand eine Beraubung der Allgemeinheit und ein Entzug der Lebensgrundlage statt. Wer sich nicht selbst erhalten kann, muss sich verdingen. Die Landbesitzer nahmen mit dem Land auch die Leute in Besitz. Diese wurden ihrer Selbsterhaltungskunst beraubt, konnten sich nicht mehr nehmen, was die Natur gewährt. Rivalität tritt ein. Menschen, die, um ihr Leben zu fristen, etwas kriegen müssen - sind auch Krieger. Auf der anderen Seite die diagnostische Macht. Diese Macht geht vom Expertentum aus, sie befähigt sogenannte Experten, über Normalitätsfragen zu entscheiden. Dadurch bleibt Bildung an Schule und Universität gekettet wie Gesundheit an Ärzte und Krankenhäuser.
Vielleicht noch ein berührender Gedanke, der der Reflexion wert erscheint: "Überflüssige Güter machen das Leben überflüssig". Überfluss hat immer den Beigeschmack von Ungenießbarem, Verschwendung, Verschleiß und Nutzlosigkeit. Gerade diese Erkenntnis sollte zu denken und Anstoß geben, die eigenen Bedürfnisse zu hinterfragen und zu erkennen: Wo sind meine ureigenen Bedürfnisse und wo diejenigen, die aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse entstanden sind, die installiert wurden, um Machtverhältnisse zu schaffen? Aus diesem Grund sollten die Konsumenten bereit sein, die entstandene Struktur zu überdenken und das Vergrößern der Macht der Produzenten zu verhindern, denn das Teuflische an diesen kreierten Bedürfnissen ist, dass sie unstillbar sind in ihrer Begierde nach immer mehr Produkten und Dienstleistungen.
Doch gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Marianne Gronemeyer bietet uns einiges an. Jedenfalls eine kategorische Absage an den Versuch, die Macht mittels Gegenmacht in die Knie zu zwingen, sie propagiert die Ohnmacht und das "Nichtbegehren" und bietet in ihrem Buch zwei Arten der Vermeidung von Knappheit an, die jedenfalls überlegenswert, wenn nicht sogar erstrebenswert erscheinen und zur Auseinandersetzung unbedingt empfohlen werden können.
Dieses Werk der Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer ist ein Muss für jeden kritisch denkenden Menschen, ein Aufruf zu mehr Selbstreflexion, ein Aufschrei, die versteckter denn je gewordene Macht der Knappheit zu entlarven und wieder selbstbestimmt zu leben.
-Text: Margarete Wais, veröffentlicht auf www.sandammeer.at [5]
► Die Macht der Bedürfnisse – Tagungsvortrag, gesprochen von Prof. Dr. Marianne Gronemeyer - klick [6] (Dauer: 74 Min.)