Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.
Herausgeber: Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel
Verlag: Klett-Cotta – zur Verlagsseite [4]
Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Sonderheft Jahrgang 65, Doppelheft 748/749, Heft 09/10, September 2011
238 Seiten, broschiert mit Schutzumschlag, 21,90 EUR
ISBN-13: 978-3-608-97139-2 / ISSN: 0026-0096
Niemand will ein Konformist sein - aber warum gibt es dann so wenige Nonkonformisten? Weil es nicht damit getan ist, sich selbst für einen solchen zu halten. Und weil es etwas anderes ist, ob man sich als professioneller Tabubrecher und „mutiger Außenseiter“ in Talkshows feiern lässt oder ob man freimütig die Wahrheit sagt, seine Wahrheit. Denn dafür muss man womöglich einen Preis bezahlen: zu missfallen oder gar ausgestoßen zu werden aus dem Kreis derjenigen, die die richtigen, die guten, die hilfreichen Ansichten vertreten.
Im ersten Teil des Heftes werden Typen des Nonkonformisten analysiert, vom Künstler über den Exzentriker bis zum Dissidenten. Der zweite Teil versammelt Essays über die Bedeutung des Nonkonformen für Wissenschaft und Ästhetik, für Seele und Soziales mit dem Ziel, eine Art Manual für den zeitgenössischen Nonkonformisten vorzulegen.
Editorial
von Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel
Peter Bürger: Das Dilemma des Außenseiters
Jörg Lau: Die Republik der Außenseiter
Jürgen Kaube: Ein Denkmal für den unbekannten Innenseiter
Norbert Bolz: Der Reaktionär und die Konformisten des Andersseins
Gustav Seibt: Nicht mitmachen. Meine Außenseiter
Teil I.
Karl Heinz Bohrer: Der Mut zur Wahrheit: Hamlet
Henning Ritter: Der andere Rousseau
Ulrike Ackermann: Unkonventionelle Begehrlichkeiten. George Sand nimmt sich die Freiheit
Karin Westerwelle: »Verlust des Heiligenscheins«. Der Artist in der bürgerlichen Gesellschaft
Reinhard Steiner: Der Bravo. Erscheinung und Habitus der Verwegenheit
Gerhard Neumann: Die Pawlatsche. Kafkas Trauma
Rainer Hank: Mann vieler Eigenschaften. Doktor Arnheim will Unternehmer und Künstler sein
Lothar Müller: Der Konformist
Ute Frevert: Nonkonformität im Sozialismus. Der blinde Fleck des Jürgen Kuczynski
Adam Krzemiński: »Das tust du nicht!« Über Jacek Kuron und Adam Michnik
Siegfried Kohlhammer: Exzentriker sind ein gutes Zeichen, aber man sollte kein Gewese um sie machen
Teil II.
Hans Ulrich Gumbrecht: Paradigmawechsel und Nonkonformismus - mehr als eine Tautologie?
Jürgen Paul Schwindt: Nonkonformismus und Universität. Zur Katastrophe der Parrhesie an Deutschlands Bildungsanstalten
Christian Demand: Die Kunstakademie. Ein Lagebericht
Ingo Meyer: Ästhetische Innovation in der bildenden Kunst? Jongkind, Kippenberger, Eder
Joachim Fischer: Wie sich das Bürgertum in Form hält. Über den systematischen Nonkonformismus der modernen bildenden Kunst
Michael Rutschky: Die Erfindung des Ich. Vermischte Nachrichten
Harald Welzer, Sebastian Wessels:
Wie gut, dass auch die Nonkonformisten konform sind
Aus einem Forschungsprojekt zu Konformität und Autonomie
Heinz Bude: Die gesellschaftliche Rolle des Nonkonformismus
Kurt Scheel: Auslaufmodell Nonkonformismus? Eine Frontbegradigung
► Editorial: Zu diesem Heft
Anstoß zu unserem Thema gab Michel Foucault [5], nicht unbedingt ein Darling dieser Zeitschrift. In seinen 1983/84 gehaltenen Vorlesungen Der Mut zur Wahrheit charakterisiert Foucault die philosophische Form, die Wahrheit zu sprechen, mit dem altgriechischen Wort »parrhesia«. Dessen strukturelle Merkmale sind: Offenheit, Engagement, Risiko. Die Parrhesia [6] entwickelt sich seit dem Denken von Sokrates und Platon bis zur kynischen Lehre: Die freie, offene Rede, ohne Rücksicht auf die mögliche Reaktion des anderen, ist das, was Foucault den parrhesiastischen Pakt nennt, und er vollzieht sich in einem Zirkel von Wahrheit und Tapferkeit.
Die Pointe der Parrhesie ist, dass sie praktisch ins Leben tritt. Das ist Foucaults wichtigster Punkt: Wahrheit als eine Form des risikoreichen Lebens selbst. Es geht am Ende also nicht bloß ums Aussprechen der Wahrheit, sondern um die unumwundene Rede, wo alles Übliche ansonsten sehr gewunden ist. Erst dadurch lässt sich von der Wahrheitsrede als Mut sprechen.
In der Gestalt des Außenseiters und des Nonkonformisten finden wir zeitgenössische Varianten eines solchen Kynismus [7]. Doch wählt man die Rolle des Außenseiters? Wird man nicht vielmehr zu einem gemacht? Und wer kann sich in einem emphatischen Sinne einen Nonkonformisten nennen in einer Gesellschaft, die kaum etwas mehr fürchtet als Konformismus [8] und in der sich nahezu jeder als Nonkonformist imaginiert? Dieses Dilemma, um nicht von Dialektik zu sprechen, ist logisch nicht aufzuheben. Aber vielleicht in einer Tat, in einem Akt sprachlichen Handelns, der keine Gewissheit darüber hat, was denn die Wahrheit sei, die es auszusprechen gilt. Der aber darauf vertraut, dass diese seine Wahrheit in Gefahr steht, verschwiegen oder verfemt zu werden. Und der im Zweifel eher Unsinn spricht, als dass er sich, um des lieben Friedens willen, ins Bockshorn des nickenden Beipflichtens jagen lässt.
Die Aufforderung »Sag die Wahrheit!« bedeutet also keineswegs eine Sicherheit, dass dann auch die Wahrheit gesagt wird. Sie will auf einen existentiellen Nonkonformismus hinaus, der das Risiko des Aussprechens als Verpflichtung nimmt, nicht als Warnung. No risk, no fun. Womit auch klar ist, dass die gängigen Meinungen durchaus die richtigen und vernünftigen und hilfreichen sein mögen, dass also diejenigen, die prinzipiell das Gegenteil behaupten, weder einen privilegierten Zugang zur Wahrheit noch den Ehrentitel des Nonkonformisten für sich reklamieren können.
Nonkonformismus ist kein Geschäftsmodell. Und die »mutigen Tabubrecher«, die sich in den Talkshows dafür feiern lassen oder clever das liberale Juste-milieu in Erregung versetzen, indem sie sich als verwegene Unzeitgemäße geben und eine Lanze für den Papst, den Kommunismus oder irgendeine andere Orthodoxie (nur schrill muss es sein) brechen, diese blinzelnden Opportunisten des Zeitgeistes sind hier nicht gemeint: Sie sind, um ihr feuilletonistisches Frömmlertum aufzugreifen, eine blasphemische Verballhornung des existentiellen Nonkonformisten.
Das Heft wird eröffnet mit fünf Essays, die einen Überblick über das Thema geben und verschiedene Möglichkeiten vorführen, sich ihm zu nähern: akademisch, journalistisch, polemisch, persönlich. In der ersten Abteilung werden Typen des Außenseiters beziehungsweise Nonkonformisten vorgestellt: An ihnen wäre zu studieren, wo durch sich diese Figuren − es können historische oder fiktionale sein − als Archetypen der Verstörung und des Widersprechens ausgezeichnet haben und warum sie bis heute unsere Aufmerksamkeit, ja Phantasie fesseln. Die zweite Abteilung versammelt Beiträge, in denen der Bedeutung nonkonformen Denkens für Wissenschaft und Ästhetik, für die Psyche des Individuums und die Seele der Gesellschaft nachgegangen wird.
Das Ziel dieses Heftes wäre es, ein Manual, eine Art Gracíanisches Handorakel [9] für den zeitgenössischen Nonkonformisten vorzulegen. Dass es keine Gebrauchsanweisung werden kann, liegt in der Natur der Sache und der Gegenwart. Aber die Unmöglichkeit eines existentiellen Nonkonformismus im Spiegelkabinett unserer liberalen und permissiven Gesellschaft bedeutet ja umso mehr, mit Trotz und Treue, und sei es nur sich selbst gegenüber, das Wagnis der Wahrheit und des Freimuts einzugehen.
K.H.B. / K.S.
► Rezension von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer (ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim):
Wahrheit ist eine Form des risikoreichen Lebens
Wahr ist, was nicht falsch ist“, diese im Sinne des Aristotelischen Zweiwertigkeitsprinzips formulierte Aussage ist erst einmal logisch, also vernünftig. Der griechische Philosoph Aristoteles erklärt das in seiner Metaphysik so: „Nicht darum nämlich, weil unser Urteil, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten (A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 27). Es ist die ethische Tugend der Wahrhaftigkeit, die es den Menschen ermöglicht, ein gutes Leben anzustreben und zu führen.
„Eure Rede aber sei Ja, ja, nein, nein. Was darüber hinaus ist, das ist vom Übel“ (Matthäus 5, 37), gibt den Maßstab für das christliche Denken ab. Der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) hat in einer seiner letzten Vorlesungen am Collège de France den „Mut zur Wahrheit“ propagiert, indem er auf die Wahrheit als dem kritischen Anderen der bestehenden gängigen Lebenseinstellungen verweist „Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben“ (vgl.: www.socialnet.de/rezensionen/10053.php [10]; siehe auch: Barbara Birkhan, Foucaults ethnologischer Blick. Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne, Bielefeld 2010). [...]
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam [....]
Aufbau und Inhalt [....]
Fazit
„Der Mut zur Wahrheit“, als ethische, moralische und humane Forderung, ist eine Herausforderung für Menschlichkeit in der sich immer interdependenter, entgrenzender und verändernder (Einen?) Welt. Mit dem Hinweis, dass die im Heft formulierten und reflektierten Überlegungen zur heutigen Situation des Nonkonformismus keine Gebrauchsanweisung für einen Nonkonformisten sein kann, sondern eher ein „Graciánisches Handorakel“ sein möge, wird eine Replik darauf genommen, dass der Jesuit Baltasar Gracián die Auflistung seiner Aphorismen nach dem griechischen Vorbild als Orakel und Sprechstätte verstand, die Wahrheit zur Sprache brachte. Der Vergleich ist gut gewählt; geht es doch auch heute darum zu erkennen, dass heute, genau so wie zu allen Zeiten notwendig ist, „das Wagnis der Wahrheit und des Freimuts einzugehen“.
Wie immer: Die Institution MERKUR bietet erneut einen an- und aufregenden Diskurs zu einer bedeutsamen Frage des menschlichen Zusammenlebens an.
Quelle: socialnet.de – bitte weiterlesen [11]