Industrie 4.0 – Was ist das eigentlich
Welche Auswirkungen auf Arbeitsplätze sind zu erwarten?
von Thomas Hagenhofer
Von 2000 bis zum Jahr 2015 stieg die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem – gesamtwirtschaftliche Produktivität – um 9,4%; je Erwerbstätigenstunde um 15,8%. In der Industrie wuchs die Produktivität weitaus schneller. Mit der Industrie 4.0 [3] ist ein weiterer Produktivitätsschub zu erwarten.
Unter Industrie 4.0 - ein Kürzel für die sog. vierte industrielle Revolution - wird die integrierte und vollständige Digitalisierung aller vertikalen und horizontalen Wertschöpfungsketten [4] in Vertrieb, Industrie und Logistik verstanden. Digitalisierung ist dabei eine sehr unscharfe Bezeichnung, weil dieser Prozess schon seit der Einführung der ersten Computersysteme in der Mitte des letzten Jahrhunderts vonstatten geht.
Es geht im Kern nicht um irgendeinen Einsatz digitaler Technik, es geht um die digitale Vernetzung aller Arbeitsbereiche, von Zulieferern und Kunden über das Internet mit den neuen Möglichkeiten mobil einsetzbarer Hardware und angetrieben durch Konzepte der Künstlichen Intelligenz. Das Unternehmen entsteht quasi neu als digitales Abbild der Wirklichkeit und nutzt dabei ein für die Industrie völlig neues Fabrikationsparadigma.
Nicht mehr die zentrale Steuerung steht im Zentrum der Architektur, sondern dezentrale, untereinander vernetzte und flexibel einsetzbare Fertigungseinheiten, sogenannte cyber-physische Systeme (CPS). Das zu bearbeitende Werkstück erhält durch digitale Informationsspeicher, z. B. RFID [5]-Chips, die Information, wie es in der jeweiligen Fertigungsstufe bearbeitet werden soll. Das jeweilige CPS liest die Daten aus und bearbeitet das Werkstück nach dieser Vorgabe. Es entsteht ein individualisierte Massenfertigung. In einer Produktionslinie können tausende verschiedene Güter produziert werden. Gekoppelt mit den Bestelleingängen soll nicht mehr auf Lager produziert werden, sondern erst dann, wenn die Ware genau in dieser Spezifikation bestellt wurde.
► Welche wesentlichen Auswirkungen wird die neue Digitalisierungswelle auf die Arbeitsplätze haben?
Alle Konzepte haben umfangreiche Produktivitätssteigerungen und Rationalisierungen zum Ziel. Viele der heutigen Berufsbilder, manche rechnen sogar mit der Hälfte, werden in 20 Jahren vermutlich nicht mehr existieren oder sich komplett verändert haben. Menschenleere Fabriken wird es nicht geben, weil die oben beschriebenen Systeme nur durch fortlaufende Innovationen durch die Beschäftigten am Markt konkurrenzfähig bleiben. Einfache Tätigkeiten – ob in der Industrie oder im Büro – sollen allerdings komplett automatisiert werden. Gering Qualifizierte werden noch weniger Chancen erhalten, ihre Arbeitskraft verkaufen zu können.
Die größten Arbeitsplatzverluste werden in den Bereichen der Angestellten in Büros und Verwaltung vorhergesagt. Ohne eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich dürfte es zu Arbeitsplatzvernichtung im großen Stil kommen, der auf Dauer nicht durch neu entstehende Arbeitsplätze z. B. im IT-Sektor kompensiert wird. Neuste Untersuchungen sprechen von 2 Mio. neuen Arbeitsplätzen und 7 Millionen, die in den kommenden fünf Jahren wegfallen. (⇒ s. FAZ-Artikel [6] v.17.01.2016). Die Qualifizierung von Beschäftigten wird zu einem zentralen Feld von Klassenauseinandersetzungen.
In allen Planungen spielt die Entgrenzung, die weitgehende Flexibilisierung der Arbeit eine wichtige Rolle, mit den bereits heute spürbaren negativen Begleiterscheinungen. Dabei könnte es sich als besonders fatal erweisen, dass flexible Regelungen von den meisten Arbeitenden durchaus als Vorteil angesehen werden und oftmals verlangt oder freiwillig angenommen werden. Die Langzeitfolgen sind oft nicht absehbar. Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung müssen also von Gewerkschaften und Betriebsräten stärker in den Blick genommen werden.
Gleiches gilt für die Wiederentdeckung des Prinzips von fabriknahen Arbeitersiedlungen: Arbeitende und ihre Familien werden bis zur Energieversorgung an das Unternehmen gebunden – mit allen negativen Folgen, die aus der Geschichte der Arbeiterbewegung bekannt sind. Strategische Bedeutung wird vor dem Hintergrund der Entwicklung virtueller, global verteilt produzierender Unternehmen der Kampf um die Ausweitung der Mitbestimmung haben.
Thomas Hagenhofer
► Quelle: Erstveröffentlicht am 23.03.2016 bei isw-München > Artikel [7]. Thomas Hagenhofer ist Gastautor bei isw-München.
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► Bild- u. Grafikquellen:
1. Industrie 4.0 [14] ist ein Zukunftsprojekt in der Hightech-Strategie der Bundesregierung, mit dem die Informatisierung [15] der klassischen Industrien, wie z.B. der Produktionstechnik [16], vorangetrieben werden soll. Das Ziel ist die intelligente Fabrik (Smart Factory [17]), die sich durch Wandlungsfähigkeit [18], Ressourceneffizienz und Ergonomie [19] sowie die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse auszeichnet.
Illustration of Industry 4.0, showing the four "industrial revolutions". Author: Christoph Roser at AllAboutLean.com [20] . Quelle: Wikimedia Commons [21]. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons [22]-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“. [23]
2. Zugeschnittenes Floatglas, welches im Kaltbereich automatisch von der Linie genommen und abgestapelt wird. Floatglas ist Flachglas [24], welches im Floatprozess, oder auch Floatglasverfahren, hergestellt wurde, ein endlos-kontinuierlicher Prozess, bei dem die flüssige Glasschmelze fortlaufend von einer Seite auf ein Bad aus flüssigem Zinn geleitet wird. Auf diesem schwimmt (engl. to float) das Glas. Das Verfahren wird seit den 1960er Jahren industriell angewandt, hat seither die meisten anderen Methoden zur Flachglasherstellung weitgehend verdrängt und liefert inzwischen etwa 95 Prozent des gesamten Flachglases aller Anwendungsbereiche wie Fensterglas, Autoscheiben und Spiegel.
Robotized Float Glass Unloading. Author: ICAPlants. Quelle: Wikimedia Commons [25]. Diese Datei ist unter der Creative-Commons [22]-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ [26].
3. Informationsmanagement: Industrie 4.0 [14] definiert die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine neu und fordert flexibel anpassbare Assistenzsysteme. Author: Dickdavid. Quelle: Wikimedia Commons [27]. Diese Datei ist unter der Creative-Commons [22]-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ [26] lizenziert.