Élisée Reclus - "Wählen heißt entsagen"
Auszug aus einem Brief an Jean Grave, 26.09.1885
[....] Wählen heißt entsagen; indem man sich einen oder mehrere „Führer“ für eine kürzere oder längere Zeitperiode wählt, verzichtet man auf die eigene Souveränität. Ob er nun ein absoluter Monarch, ein konstitutioneller Prinz oder nur ein einfacher Mandatar ist, mit dem kleinsten Teil einer Würde betraut, der Kandidat, dem Ihr zu einem Thron oder einem Parlamentssitz verholfen habt, er steht jetzt „über“ Euch. Ihr ernennt Männer, die „über den Gesetzen stehen“, weil sie es unternehmen, dieselben zu machen, und ihr Bestreben wird sein, Euch nun auch gehorsam zu machen.
Élisée Reclus (* 15. März 1830, † 4. Juli 1905)
Ein Wähler sein, heißt ein Narr sein. Es heißt glauben, daß Menschen wie Ihr selbst plötzlich durch das Gebimmel einer Glocke die Fähigkeit erhalten, alles zu wissen und alles zu verstehen. Eure Mandatnehmer machen Gesetze über alles; von Lucifer-Streichhölzern bis zu Kriegsschiffen, von der Vernichtung der Raupen an den Bäumen bis zur Austilgung von Völkern, ob roten oder schwarzen. Es muß für Euch den Anschein haben, daß ihre Intelligenz gerade durch die Unendlichkeit ihrer Aufgaben immer größer wird. Die Geschichte lehrt, daß das Gegenteil der Fall ist. Macht hat immer nur ihre Besitzer eitel und albern gemacht, vieles Reden stets verdummend gewirkt. In den regierenden Körperschaften herrscht die Mittelmäßigkeit fatalistisch vor.
Wählen heißt Verrat heraufbeschwören. Zweifellos glauben die Wähler an die Ehrlichkeit derjenigen, die sie wählen, und sie mögen am ersten Tage, wenn die Kandidaten in der ersten Hitze sind, Grund dazu haben. Aber wenn des Menschen Umgebung sich ändert, dann ändert er sich selbst auch. Heute verneigt sich der Kandidat vor Euch — vielleicht etwas zu tief. Morgen wird er sich wieder aufrichten und vielleicht zu hoch. Derselbe, der um Eure Stimme bettelte, er wird Euch jetzt Befehle erteilen. Kann der Arbeiter, der Werkmeister geworden ist, derselbe bleiben, der er vorher war, ehe ihn die Gunst des Unternehmers beförderte? Lernt nicht der lärmende Demokrat sein Rückgrat biegen, wenn der Bankier sich herabläßt, ihn in sein Kontor einzuladen, wenn die Diener von Königen ihm die Ehre antun, sich mit ihm in den Vorzimmern zu unterhalten? Die Atmosphäre der gesetzgebenden Körperschaften ist zum Atmen ungesund. Ihr schickt die Mittelmäßigen von Euch nach einer Stätte der Korruption, wundert Euch nicht, wenn sie verdorben herauskommen.
Deshalb entsaget nicht. Vertraut Euer Schicksal nicht Menschen an, die unvermeidlich unfähig und künftige Verräter sind. Wählt nicht! Anstatt, daß Ihr Eure Interessen anderen anvertraut, verteidigt Euch selbst. Anstatt daß Ihr Euch einen Anwalt nehmt, der Euch Ratschläge über zukünftige Handhabungen gibt, handelt selbst. Gelegenheit dazu ist immer für diejenigen, die sie wollen. Auf einen anderen die Verantwortung für sein eigenes Betragen abwälzen, heißt Mangel an Mut zeigen.[…]
Elisée Reclus - Clarens, Vaud, dem 26. September 1885.
Quelle: Anarchismus.at – hier bitte klicken
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3-teiliger Scan des Briefes hier unten im Anhang
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[quote=Elisee Reclus]
Ihr schickt die Mittelmäßigen von Euch nach einer Stätte der Korruption, wundert Euch nicht, wenn sie verdorben herauskommen.
Deshalb entsaget nicht. Vertraut Euer Schicksal nicht Menschen an, die unvermeidlich unfähig und künftige Verräter sind. Wählt nicht! Anstatt, daß Ihr Eure Interessen anderen anvertraut, verteidigt Euch selbst. Anstatt daß Ihr Euch einen Anwalt nehmt, der Euch Ratschläge über zukünftige Handhabungen gibt, handelt selbst. Gelegenheit dazu ist immer für diejenigen, die sie wollen. Auf einen anderen die Verantwortung für sein eigenes Betragen abwälzen, heißt Mangel an Mut zeigen.[…]
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Dieser Text von Élisée Reclus von 1885 (!!!) besitzt wahre Weisheit und deckt die Schwächen der Demokratie schonungslos auf. Die Neigung vieler Menschen zur Konformität, Machtausnutzung und Korruption ist ein Grundübel und hat die Angewohnheit, daß sie sich gerade in gehobenen Positionen noch steigert.
Wie Élisée treffend formuliert, sind es besonders die Mittelmäßigen und Charakterschwachen, die im politischen System ihre Heimat finden und sich dort entweder buckelnd oder skrupellos den Weg frei machen. Es ist die Struktur der Partei- und Staatsbürokratie sowie die von den Kapitaleignern in den Unternehmern vorgeschriebene Untertänigkeit, die es intelligenten Menschen mit Rückrat, ethischen Prinzipien sowie Ecken und Kanten quasi verunmöglicht, in die verantwortlichen Ränge aufzusteigen, weil sie vorher gemobbt und verdrängt werden. Ich bin zwar überzeugt, daß wir eine Menge gefestigte Charaktere und kluge Köpfe in unseren Reihen besitzen, aber diese Menschen ziehen sich lieber zurück, weil sie wissen, daß sie keine Chance haben.
Der Appell, mit dem der Text von Élisée Reclus schließt, enthält jedoch auch Hoffnung und läßt Resignation nicht zu. Ganz im Gegenteil: er ruft zur Selbstinitiative und Verantwortungsübernahme auf.
Peter A. Weber
Wir dürfen ruhig konkret werden. Reclus war Anarchist: "Anarchie ist die höchste Form der Ordnung". Dieses verschämte Um- den- Anarchismus- Herumreden offenbart eine bürgerlich- verklemmte Haltung, die nur noch bei jenen begreifbar erscheint, die sich mit Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Stellung und der damit verbundenen Verlustängste in den Fesseln der Feigheit befinden.
Nu pogodi!
René L. Wolf
Schreckgespenst Anarchie
Eine Kommunalwahl mit nur 5% Wahlbeteiligung wird einer Stadt zum dramatischen Verhängnis. Die demokratisch gewählten Politiker in den anderen Kommunen und der Staatsregierung wittern eine Verschwörung gegen die Demokratie, die natürlich umgehend beendet werden muß. Sämtliche, dem Staatsapparat zur Verfügung stehenden Mittel, wie Geheimdienst, Folter und Mord werden eingesetzt. Bestrafung durch Abzug der örtlichen Verwaltung und Polizei brachte nichts. Die Bürger organisierten sich selbst und sogar die Kriminalität ging zurück. Die Belagerung der Stadtgrenzen mit Zutrittskontrolle und Aushungern schweißten die Menschen nur noch mehr zusammen. Gelebte Anarchie wurde Wirklichkeit.
Wie die Staatsmacht dem Einhalt gebot und welche Dramen sich in den Ministerien abspielten, hat José Saramago in seinem Roman „Die Stadt der Sehenden“ auf bedrückende traurige Weise herausgearbeitet. Wer dieses Meisterwerk gelesen hat, ist einen wesentlichen Schritt weiter bei der Frage: Wie funktioniert Demokratie? Er wird zum Nichtwähler, auch, wenn ihm das einstweilig das Leben kostet. Zumindest kommt er der Anarchie etwas näher.
Es ist sicher kein utopischer Roman. Die beschriebenen Mittel und Werkzeuge haben unsere Regierungen bereits parat, wenn wir nicht weiterhin brav unsere alternativlosen Parteien wählen. Nur so können diese (Mittelmäßig wäre eine Beleidigung für das Mittelmaß) am unteren Ende der Menschlichkeit stehenden Psychopathen ihren Status noch behaupten.
Wie also aus den Zwängen unserer „Dämonkratie“ ohne Lebensgefahr ausscheren, oder in H4 getrieben, fertiggemacht zu werden?
Ist unser jetziges Schicksal also doch alternativlos und systemrelevant? Das bittere Ende in seinem Roman läßt den Schluß zu. Dennoch ein Buch, das Hoffnung macht. Es zeigt schonungslos die Machenschaften und Gefahren unseres politischen Systems und wie wir „Demokraten“ unter- und unten gehalten werden. Wer diese Gefahr kennt, kann eher ausweichen oder neue Wege suchen.
Das Vorgängerbuch „Stadt der Blinden“, auf das in manchen Passagen Bezug genommen wird, ist nicht weniger lesenswert, jedoch für das Verständnis hier nicht unbedingt notwendig.
Die Hölle ist überwindbar. (Hermann Hesse)