Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin

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Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin
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Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin

Bertrand Arthur William Russell, 3. Earl Russell (* 18. Mai 1872 bei Trellech, Monmouthshire, Wales; † 2. Februar 1970 in Penrhyndeudraeth, Gwynedd, Wales) war ein britischer Philosoph, Mathematiker und Logiker. Sein Principia Mathematica gilt als eines der bedeutendstes Werke des 20. Jahrhunderts über die Grundlagen der Mathematik. Er gilt als einer der Väter der Analytischen Philosophie.

Als weltweit bekannter Aktivist für Frieden und Abrüstung war er eine Leitfigur des Pazifismus, auch wenn er selbst kein strikter Pazifist war. Russell stand sozialistischen Ideen grundsätzlich positiv gegenüber, war Atheist und Rationalist. Er verfasste eine Vielzahl von Werken zu philosophischen, mathematischen und gesellschaftlichen Themen. 1950 erhielt er für seine präzise wissenschaftliche Prosa den Nobelpreis für Literatur.

Aufgrund seines aktiven Pazifismus verlor Russell seine Dozentur und musste 1917 von Mai bis September eine Gefängnisstrafe wegen eines Zeitungsartikels verbüßen. Zwischen den Weltkriegen bereiste Russell China, Sowjetrußland und die Vereinigten Staaten. 1958 erfolgte die Gründung der "Campaign for Nuclear Disarment" unter der Präsidentschaft Russells, in der er aktiv für die atomare Abrüstung eintrat.

Noch als Achtundachtzigjähriger wurde er 1961 wegen "Aufhetzung der Öffentlichkeit gegen die Staatsgewalt" - er nahm an einem Sitzstreik teil - zu zwei Monaten Haft verurteilt. Nach öffentlichen Protesten wurde er nach einer Woche wegen ”ärztlicher Bedenken” entlassen. 1963 wurde die Bertrand Russell Peace Foundation gegründet. 1966 gründete er das Internationale Tribunal gegen Kriegsverbrecher, das ein Jahr später in Schweden als ‘Russell-Tribunal’ wegen des Vietnamkrieges verhandelte.

Bertrand Russell gehört zum Kreise meiner favorisierten gesellschaftskritischen Menschen, Autoren, Vor- und Querdenkern. Seine analytischen und fundierten Aussagen und Schriften begeistern auch nach vielen Jahrzehnten ihrer Erstveröffentlichung. Das Erlebnis des Krieges ließ diesen klar und tief denkenden Mann Mittel suchen, durch die Kriege fernerhin verhindert werden könnten. Er findet die einzige Möglichkeit in einer gänzlichen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse in den europäischen Ländern und hielt bereits 1915/1916 bemerkenswerte Vorträge, die 1916 in einem extrem selten zu findenden Büchlein mit dem Titel „Principles of Social Reconstruction“ / „Grundlagen für eine soziale Umgestaltung“ veröffentlicht wurden. Seine Aussagen dazu werden wir demnächst im Kritischen Netzwerk vorstellen.

Doch heute betrachten wir ein anderes, Bertrand Russell ebenso wichtiges Thema: Das Christentum. Russell hielt den nachfolgenden Vortrag am 6. März 1927 für die National Secular Society, South London Branch in der Battersea Town Hall unter der Schirmherrschaft der National Secular Society. Er wurde noch im selben Jahr als Aufsatz veröffentlicht. 1932 erschien erstmals eine deutsche Übersetzung, herausgegeben vom Kreis der Freunde monistischen Schrifttums in Dresden. 1957 gab Paul Edwards den englischen Text "Why I am Not a Christian", erweitert um einige Essays von Russell zum gleichen Thema und einen Anhang The Bertrand Russell Case (über die Probleme, die Russell nach seinem Eintreten für die Rechte von Homosexuellen in den Vereinigten Staaten entstanden, als er Anfang der 1940er Jahre dort lehren wollte), als Buch neu heraus. Diese erweiterte Fassung erschien 1963 im Münchner Szczesny-Verlag und ab 1968 in zahlreichen hohen Neuauflagen bei Rowolth unter dem Titel ‚Warum ich kein Christ bin und andere Aufsätze’.


Warum ich kein Christ bin

von Bertrand Russell

Wie Sie gehört haben, lautet das Thema, über das ich heute zu Ihnen sprechen möchte: "Warum ich kein Christ bin." Vielleicht sollte man zu allererst klarzustellen versuchen, was unter dem Wort "Christ" zu verstehen sei. Es wird heutzutage von sehr vielen Menschen in einer recht allgemeinen Bedeutung gebraucht. Manche verstehen darunter bloß eine Person, die sich bemüht, ein gutes Leben zu führen. In diesem Sinne gäbe es vermutlich in allen Sekten und Bekenntnissen Christen; ich glaube jedoch nicht, dass das die wahre Bedeutung des Wortes ist, und zwar schon deshalb nicht, weil das heißen würde, dass alle Menschen, die keine Christen sind - alle Buddhisten, Konfuzianer, Mohammedaner usw. -‚ nicht bemüht wären, ein gutes Leben zu führen.

Ich verstehe unter einem Christen nicht irgendeine Person, die sich entsprechend ihren geistigen Fähigkeiten bemüht, anständig zu leben. Nach meiner Ansicht muss man ein gewisses Mindestmaß an festem Glauben besitzen, bevor man das Recht hat, sich einen Christen zu nennen. Das Wort hat heute nicht mehr die gleiche lebendige Bedeutung wie zu Zeiten des heiligen Augustinus oder des heiligen Thomas von Aquino. Wenn in jenen Tagen jemand sagte, er sei ein Christ, so wusste man, was er meinte. Er erkannte eine ganze Reihe von genauestens festgelegten Glaubenssätzen an und glaubte an jede einzelne Silbe davon mit der ganzen Kraft seiner Überzeugung.

Was ist ein Christ?

Heutzutage ist das nicht ganz der Fall. Für uns hat Christentum eine etwas unbestimmtere Bedeutung. Ich finde jedoch, dass es zwei Punkte gibt, die für jeden, der sich einen Christen nennt, wesentlich sind. Der erste ist dogmatischer Natur - dass man nämlich an Gott und die Unsterblichkeit glauben muss. Wenn Sie an diese beiden Begriffe nicht glauben, so können Sie sich streng genommen nicht einen Christen nennen. Darüber hinaus muss man, wie schon der Name sagt, in irgendeiner Form an Christus glauben.

Die Mohammedaner glauben zum Beispiel auch an Gott und die Unsterblichkeit, und dennoch würden sie sich nicht Christen nennen. Ich meine, man muss wenigstens daran glauben, dass Christus, wenn schon nicht göttlich, so doch zumindest der Beste und Weiseste der Menschen war. Wenn Sie nicht einmal soviel von Christus glauben, haben Sie meiner Ansicht nach kein Recht, sich als Christen zu bezeichnen.

Natürlich gibt es noch eine andere Bedeutung, die Sie in Whitaker's Almanach und in Geographiebüchern antreffen, wo die Bevölkerung der Erde in Christen, Mohammedaner, Buddhisten, Fetischanbeter usw. eingeteilt wird; in ihrem Sinn sind wir alle Christen. Die Geographiebücher zählen uns alle dazu, doch hat das nur rein geographische Bedeutung, die wir übergehen können. Ich nehme daher an, dass ich Ihnen zweierlei berichten muss, wenn ich Ihnen sage, warum ich kein Christ bin: erstens, warum ich nicht an Gott und die Unsterblichkeit glaube, und zweitens, warum ich nicht der Ansicht bin, dass Christus der Beste und Weiseste der Menschen war, obwohl ich ihm einen sehr hohen Grad moralischer Vortrefflichkeit zugestehe.

Hätte es nicht die erfolgreichen Bemühungen von Zweiflern gegeben, könnte ich das Christentum nicht so dehnbar definieren. Wie ich schon sagte, hatte das Wort in alter Zeit eine viel lebendigere Bedeutung. So war beispielsweise darin der Glaube an die Hölle inbegriffen. Bis vor recht kurzer Zeit war der Glaube an das ewige Höllenfeuer ein wesentlicher Punkt in der christlichen Religion. Wie Sie wissen, ist er es in unserem Lande nicht mehr, und zwar kraft einer Entscheidung des Staatsrates, der der Erzbischof von Canterbury und der Erzbischof von York nicht zustimmten. Da hierzulande aber der Glaube durch Parlamentsbeschluss festgelegt wird, konnte sich der Staatsrat über Ihre Exzellenzen hinwegsetzen, und die Hölle war für einen Christen nicht mehr nötig. Ich werde daher nicht darauf bestehen, dass ein Christ an die Hölle glauben muss.

Die Existenz Gottes

Um nun zur Frage der Existenz Gottes zu kommen: sie ist eine umfangreiche und ernste Frage, und wollte ich versuchen, sie in angemessener Weise zu behandeln, müsste ich Sie bis zum Jüngsten Tag hierbehalten. Sie müssen mich daher entschuldigen, wenn ich sie nur kurz abhandle. Wie Ihnen bekannt ist, hat die katholische Kirche zum Dogma erhoben, dass sich die Existenz Gottes durch die Vernunft beweisen lässt. Dieses Dogma ist zwar etwas eigenartig, aber es ist immerhin eines ihrer Dogmen. Sie musste es einführen, als die Freidenker die Gewohnheit annahmen zu behaupten, es gebe diese und jene Argumente, die die reine Vernunft gegen die Existenz Gottes vorbringen könnte, aber natürlich seien sie durch ihren Glauben überzeugt, dass es Gott gebe. Die Beweise und Gründe wurden sehr ausführlich dargelegt, und die katholische Kirche erkannte, dass sie dem ein Ende machen musste. Daher behauptete sie, die Existenz Gottes lasse sich durch die menschliche Vernunft beweisen, und um diese Behauptung zu begründen, musste sie Argumente vorbringen, die sie für stichhaltig hielt. Natürlich gibt es davon eine ganze Anzahl, aber ich werde nur einige herausgreifen.

Der Beweis einer ersten Ursache

Das Argument, das wohl am einfachsten und leichtesten zu verstehen ist, ist das einer ersten Ursache. (Es wird behauptet, dass alles, was wir auf dieser Welt sehen, eine Ursache hat und dass man zu einer ersten Ursache gelangen muss, wenn man die Kette der Ursachen immer weiter zurückverfolgt, diese erste Ursache nennt man Gott.) Dieses Argument hat heute kaum noch Gewicht, vor allem, weil der Begriff der Ursache nicht mehr die gleiche Bedeutung hat wie früher.

Die Philosophen und Wissenschaftler haben sich darüber hergemacht, und der Begriff hat viel von seiner früheren Vitalität verloren. Aber auch unabhängig davon muss man einsehen, dass das Argument, es müsse eine erste Ursache geben, keinerlei Bedeutung haben kann. Ich muss zugeben, dass ich als junger Mann, als ich diese Fragen sehr ernsthaft erwog, lange Zeit das Argument der ersten Ursache gelten ließ, bis ich eines Tages, im Alter von achtzehn Jahren, John Stuart Mills Autobiographie las und darin folgenden Satz fand: »Mein Vater lehrte mich, dass es auf die Frage »Wer hat mich erschaffen?« keine Antwort gibt, da diese sofort die weitere Frage nahelegt: »Wer hat Gott erschaffen?« Wie ich noch immer glaube, machte mir dieser ganz einfache Satz den Trugschluss im Argument der ersten Ursache deutlich. Wenn alles eine Ursache haben muss, dann muss auch Gott eine Ursache haben.

Wenn es etwas geben kann, das keine Ursache hat, kann das ebensogut die Welt wie Gott sein, so dass das Argument bedeutungslos wird. Es liegt genau auf der gleichen Linie wie die Ansicht des Hindus, die Welt ruhe auf einem Elefanten und der Elefant stehe auf einer Schildkröte; als man ihn fragte: »Und was ist mit der Schildkröte?«, sagte der Inder: »Sprechen wir von etwas anderem!«

Das Argument ist wirklich um keinen Deut besser. Es gibt weder einen Grund dafür, warum die Welt nicht auch ohne eine Ursache begonnen haben könnte, noch, warum sie nicht schon immer existiert haben sollte. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Welt überhaupt einen Anfang hatte. Die Idee, dass alles einen Anfang haben müsse, entspringt nur der Armut unserer Vorstellungskraft. Deshalb brauche ich wohl keine weitere Zeit mehr auf das Argument der ersten Ursache zu verschwenden.

Der Beweis durch das Naturgesetz

Ferner gibt es das weitverbreitete Argument des Naturgesetzes. Es war im ganzen achtzehnten Jahrhundert besonders unter dem Einfluss von Sir Isaac Newton und seiner Weltentstehungslehre sehr beliebt. Man beobachtete, dass sich die Planeten nach dem Gravitationsgesetz um die Sonne bewegen, und glaubte, Gott habe ihnen befohlen, sich gerade auf diese Art zu bewegen, und das sei der Grund für ihr Verhalten. Das war natürlich eine einfache und bequeme Begründung, die den Menschen die Mühe abnahm, nach weiteren Erklärungen des Gravitationsgesetzes zu suchen.

Heute begründen wir das Gravitationsgesetz auf eine etwas komplizierte Weise, die Einstein entwickelt hat. Ich habe nicht vor, Ihnen eine Vorlesung über das Gravitationsgesetz, wie es von Einstein erklärt wird, zu halten; das würde auch zuviel Zeit beanspruchen. Für uns sind jedenfalls die Naturgesetze nicht mehr dieselben wie im Newtonschen System, wo sich die Natur aus irgendeinem Grund, den niemand verstehen konnte, einheitlich verhielt.

Jetzt erkennen wir, dass sehr vieles, was wir für ein Naturgesetz gehalten haben, in Wahrheit menschliches Übereinkommen ist. Sie wissen, dass noch in den entferntesten Tiefen des Weltraums ein Meter hundert Zentimeter hat. Das ist zweifellos eine bemerkenswerte Tatsache, aber man würde es kaum ein Naturgesetz nennen. Vieles, was für ein Naturgesetz gehalten wird, ist von dieser Art. Andererseits muss man, soweit man überhaupt in das wirkliche Verhalten von Atomen Einblick gewinnen kann, feststellen, dass sie viel weniger einem Gesetz unterworfen sind, als angenommen wurde, und dass die Gesetze, auf die man schließlich kommt, statistische Durchschnittswerte genau der gleichen Art sind, wie sie sich aus dem Zufall ergeben.

Es gibt bekanntlich ein Gesetz, dass sich beim Würfeln nur etwa jedes 36. Mal zwei Sechsen ergeben; aber das betrachtet man nicht als Beweis, dass das Fallen der Würfel planmäßig gesteuert wird. Im Gegenteil, wenn jedesmal zwei Sechsen kämen, würden wir dahinter eine Absicht vermuten. Viele Naturgesetze sind von dieser Art. Sie sind statistische Durchschnittswerte, die sich aus dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit ergeben, wodurch die ganze Frage der Naturgesetze viel weniger imponierend erscheint als früher.

Aber ganz abgesehen von diesen Überlegungen, die dem augenblicklichen Stand der Wissenschaft entsprechen, der sich schon morgen ändern kann, beruht die ganze Auffassung, dass Naturgesetze einen Gesetzgeber bedingen, darauf, dass Naturgesetze und menschliche Gesetze durcheinandergebracht werden. Menschliche Gesetze schreiben uns ein bestimmtes Verhalten vor, und wir können sie befolgen oder nicht; aber die Naturgesetze beschreiben das tatsächliche Verhalten der Dinge, und daher kann man nicht einwenden, dass es einen geben muss, der es ihnen vorschreibt; denn selbst angenommen, es gäbe einen, so drängt sich die Frage auf: "Warum hat Gott gerade diese Naturgesetze erlassen und keine andern?" Wenn Sie sagen, er tat es ohne jeglichen Grund, weil es ihm so gefiel, so müssen Sie zugeben, dass es etwas gibt, das dem Gesetz nicht unterworfen ist, und Ihre Kette von Naturgesetzen wird unterbrochen. Wenn Sie wie die orthodoxeren Theologen sagen, Gott habe bei all seinen Gesetzen einen Grund gehabt, gerade diese Gesetze zu erlassen und keine andern - wobei natürlich der Grund der ist, dass er das beste Universum erschaffen wollte, obwohl man das bei näherer Betrachtung nie annehmen würde -‚ wenn es also einen Grund für Gottes Gesetz gab, so war Gott selbst Gesetzen unterworfen, und es bietet Ihnen keinen Vorteil, Gott als Zwischenglied einzuschalten. Sie haben dann nämlich ein Gesetz außerhalb und vor dem göttlichen Gesetz, und Gott entspricht nicht Ihrem Zweck, da er nicht der letzte Gesetzgeber ist.

Kurz, dieser ganze Streit über das Naturgesetz hat bei weitem nicht mehr das Gewicht, das er früher hatte. Ich möchte die Beweise in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachten. Die Argumente, die für die Existenz Gottes angeführt werden, ändern mit der Zeit ihren Charakter. Zuerst waren es unumstößliche intellektuelle Argumente, die ganz bestimmte Trugschlüsse enthielten. Je mehr wir uns den modernen Zeiten nähern, um so unansehnlicher werden sie in intellektueller Hinsicht, aber dafür um so stärker von einer Art moralisierender Unklarheit angekränkelt.

Der teleologische Gottesbeweis

Der nächste Schritt in dieser Entwicklung bringt uns zum teleologischen Argument. Sie alle kennen es: Die ganze Welt ist genau so beschaffen, dass wir darin leben können, und wenn sie nur ein wenig anders wäre, könnten wir darin nicht leben. Das ist das Argument der zweckmäßigen Weltordnung. Manchmal nimmt es eine etwas eigenartige Form an. So wird zum Beispiel behauptet, Kaninchen hätten weiße Schwänze, damit man sie leicht abschießen könne. Ich weiß nicht, wie sich die Kaninchen zu dieser Auffassung stellen. Es ist ein Argument, das sich leicht parodieren lässt. Sie alle kennen Voltaires Äußerung, die Nase sei offenbar so geschaffen, dass darauf eine Brille passe. Es hat sich gezeigt, dass solche Parodien nicht annähernd soweit daneben treffen, wie es im achtzehnten Jahrhundert den Anschein haben mochte, weil wir seit Darwin viel besser verstehen, warum Lebewesen ihrer Umwelt angepasst sind. Nicht die Umwelt wurde so geschaffen, dass sie für die Lebewesen geeignet war, sondern die Lebewesen entwickelten sich so, dass sie für die Umwelt geeignet wurden. Das ist die Grundlage der Anpassung, und es ist keinerlei Absicht dabei erkennbar.

Wenn man das teleologische Argument näher betrachtet, ist es höchst erstaunlich, dass Menschen glauben können, diese Welt mit allem, was sich darin befindet, und mit all ihren Fehlern sei das Beste, was Allmacht und Allwissenheit in Millionen von Jahren erschaffen konnten. Ich kann das wirklich nicht glauben. Meinen Sie, wenn Ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu Jahrmillionen gegeben wären, um Ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen könnten? Wenn man die gewöhnlichen Gesetze der Wissenschaft gelten lässt, so muss man überdies annehmen, dass auf diesem Planeten das menschliche Leben und das Leben überhaupt zu einem gewissen Zeitpunkt aussterben werden: es ist nur ein Übergangsstadium im Verfall des Sonnensystems. In einem bestimmten Verfallsstadium ergeben sich jene Temperaturbedingungen und anderes, was dem Protoplasma zuträglich ist, und für eine kurze Periode in der Dauer des gesamten Sonnensystems gibt es Leben. Der Mond führt uns vor Augen, worauf die Erde zusteuert: auf etwas Totes, Kaltes und Lebloses.

Eine solche Ansicht sei deprimierend, sagt man mir, und manche behaupten, sie könnten nicht weiterleben, wenn sie daran glaubten. Glauben Sie es nicht, es ist alles Unsinn. In Wahrheit macht sich niemand viel Gedanken darüber, was in Millionen von Jahren sein wird. Selbst wenn die Leute glauben, sie machten sich deshalb Sorgen, so täuschen sie sich nur. Sie machen sich Sorgen über etwas viel Irdischeres, oder vielleicht leiden sie auch nur an schlechter Verdauung, aber der Gedanke an etwas, das in Millionen und Abermillionen von Jahren mit dieser Welt geschehen wird, macht keinen ernsthaft unglücklich. Obwohl es natürlich eine düstere Aussicht ist, wenn man annimmt, dass das Leben aussterben wird - wenigstens glaube ich, dass wir das so ausdrücken können, obwohl ich es manchmal, wenn ich so sehe, was die Menschen aus ihrem Leben machen, fast für einen Trost halte -‚ so ist die Aussicht doch nicht so düster, dass sie deshalb unser Leben elend machte. Sie veranlasst uns nur, unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden.

Die moralischen Gottesbeweise

Wir kommen jetzt zu einem weiteren Stadium der geistigen Entwicklung, wie ich es bezeichnen möchte, die die Theisten mit ihren Beweisen durchgemacht haben, und zwar zu den sogenannten moralischen Argumenten für die Existenz Gottes. Früher gab es bekanntlich drei Vernunftbeweise für die Existenz Gottes, die alle von Immanuel Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" entkräftet wurden; aber kaum hatte er sie abgetan, erfand er einen neuen, einen moralischen Beweis, und dieser überzeugte ihn vollkommen. Wie so viele Menschen war er in intellektuellen Fragen skeptisch, aber in Dingen der Moral glaubte er bedingungslos an die Maximen, die er auf dem Schoß seiner Mutter in sich aufgenommen hatte. Das veranschaulicht nur, was die Psychoanalytiker so sehr betonen - nämlich, wie unendlich stärker wir von unseren frühkindlichen Assoziationen beeinflusst werden als von denen späterer Altersstufen.

Wie gesagt, Kant erfand ein neues, moralisches Argument für die Existenz Gottes, das in verschiedenen Fassungen im neunzehnten Jahrhundert außerordentlich beliebt war. Man hört es in allen möglichen Versionen. Eine davon besagt, ohne die Existenz Gottes gäbe es weder Gut noch Böse. Im Augenblick befasse ich mich nicht damit, ob zwischen Gut und Böse überhaupt ein Unterschied besteht; das ist eine andere Frage. Das Problem, mit dem ich mich auseinandersetze, ist folgendes. Wenn man ganz sicher ist, dass zwischen Gut und Böse ein Unterschied besteht, sieht man sich vor folgende Frage gestellt: Besteht dieser Unterschied durch einen Machtspruch Gottes oder nicht?

Wenn er durch einen Machtspruch Gottes besteht, dann gibt es für Gott selbst keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, und es bedeutet nichts mehr, wenn man feststellt, Gott sei gut. Wenn man wie die Theologen sagt, Gott sei gut, so muss man auch sagen, Gut und Böse haben eine Bedeutung, die vom Machtspruch Gottes unabhängig ist; denn dass Gottes Befehle gut und nicht schlecht sind, ist unabhängig von der bloßen Tatsache, dass er sie gab. Dann muss man aber einräumen, dass Gut und Böse nicht durch Gott entstanden sind, sondern ihrem Wesen nach logisch vor Gott kommen.

Wenn man wollte, könnte man natürlich sagen, es gebe eine übergeordnete Gottheit, die dem Gott, der unsere Welt erschaffen hat, Befehle erteilt, oder man könnte sich die Auffassung einiger Gnostiker zu eigen machen - die ich oft ganz plausibel finde -‚ dass nämlich unsere Welt in einem Augenblick, als Gott nicht achtgab, vom Teufel erschaffen wurde. Man könnte für diese Auffassung eine ganze Menge Grunde anführen, und es ist nicht meine Aufgabe, sie zu widerlegen.

Das Argument der ausgleichenden Gerechtigkeit

Dann gibt es noch ein sehr eigenartiges moralisches Argument, nämlich die Behauptung, die Existenz Gottes sei nötig, um Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. In dem Teil des Universums, den wir kennen, herrscht große Ungerechtigkeit. Oft leiden die Guten, während es den Schlechten wohlergeht, und es ist schwer zu sagen, was ärgerlicher ist. Wenn jedoch im Universum als Ganzem Gerechtigkeit herrschen soll, muss man annehmen, dass ein zukünftiges Leben den Ausgleich zum irdischen Leben herstellen wird. So wird also behauptet, es müsse einen Gott geben und es müsse Himmel und Hölle geben, damit auf die Dauer Gerechtigkeit herrschen könne. Das ist ein sehr merkwürdiges Argument.

Wollte man die Angelegenheit vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachten, so müsste man sagen: "Schließlich kenne ich nur diese Welt. Ich weiß nicht, wie das übrige Universum beschaffen ist, aber soweit man überhaupt mit der Wahrscheinlichkeit argumentieren kann, muss man annehmen, dass diese Welt ein gutes Beispiel für das Universum ist, und dass, wenn es hier Ungerechtigkeit gibt, sie höchstwahrscheinlich auch anderswo vorhanden sein wird."

Nehmen wir an, Sie bekommen eine Kiste Orangen und beim Öffnen stellen Sie fest, dass die ganze oberste Lage Orangen verdorben ist. Sie würden daraus nicht schließen: "Die unteren müssen dafür gut sein, damit es sich ausgleicht." Sie würden vielmehr sagen: "Wahrscheinlich ist die ganze Kiste verdorben." Und so würde auch ein wissenschaftlich denkender Mensch das Universum beurteilen. Er würde sagen: "Hier in dieser Welt finden wir sehr viel Ungerechtigkeit, und das ist ein Grund anzunehmen, dass nicht Gerechtigkeit die Welt regiert; es liefert uns ein moralisches Argument gegen Gott und nicht für Gott."

Natürlich weiß ich, dass nicht solche verstandesmäßigen Argumente, wie ich sie Ihnen dargelegt habe, die Menschen wirklich bewegen. Was sie dazu bewegt, an Gott zu glauben, ist überhaupt kein verstandesmäßiges Argument. Die meisten Menschen glauben an Gott, weil man es sie von frühester Kindheit an gelehrt hat, und das ist der Hauptgrund.

Der zweitstärkste Beweggrund ist wohl der Wunsch nach Sicherheit, nach einer Art Gefühl, dass es einen großen Bruder gibt, der sich um einen kümmert. Das trägt sehr wesentlich dazu bei, das Verlangen der Menschen nach einem Glauben an Gott hervorzurufen.

Der Charakter Christi

Ich möchte nun ein paar Worte über ein Thema sagen, das meiner Ansicht nach von den Rationalisten nicht ausreichend behandelt wird. Es ist die Frage, ob Christus der beste und weiseste der Menschen war. Im allgemeinen wird es als selbstverständlich angesehen, dass wir alle darin übereinstimmen sollten. Ich selbst bin nicht dieser Ansicht. Es gibt, glaube ich, sehr viele Punkte, in denen ich mit Christus weit mehr einig bin als die Bekenntnischristen.

Ich bin nicht in allem mit ihm einig, aber ich stimme mit ihm weit mehr überein als die meisten Bekenntnischristen. Sie werden sich erinnern, dass er sagte: "Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin." Das ist kein neues Gebot oder Prinzip. Es wurde von Laotse und Buddha schon etwa fünf bis sechshundert Jahre vor Christus verkündet, aber es ist kein Grundsatz, den die Christen wirklich befolgen.

Ich zweifle beispielsweise nicht daran, dass der gegenwärtige Premierminister (Steven Baldwin) ein durch und durch aufrichtiger Christ ist, aber ich würde keinem von Ihnen raten, hinzugehen und ihn auf eine Wange zu schlagen. Sie würden wahrscheinlich feststellen, dass er der Ansicht ist, dieser Text sei in übertragenem Sinne gemeint.

Dann gibt es noch einen andern Punkt, den ich für ausgezeichnet halte. Sie werden sich erinnern, dass Christus sagte: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet." Ich glaube nicht, dass Sie feststellen könnten, dieses Prinzip sei an den Gerichtshöfen christlicher Länder sehr verbreitet. Ich habe zu meiner Zeit eine ganze Anzahl von Richtern gekannt, die eifrige Christen waren, und keiner von ihnen hatte das Gefühl, sein Tun stehe im Widerspruch zu christlichen Grundsätzen.

Ferner sagt Christus: "Wer dich um etwas bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, von dem wende dich nicht ab." Das ist ein sehr gutes Prinzip. Ihr Vorsitzender hat Sie daran erinnert, dass wir nicht hier sind, um über Politik zu sprechen, aber ich kann nicht umhin zu bemerken, dass der letzte Wahlkampf über die Frage ausgetragen wurde, ob es wünschenswert sei, sich von dem abzuwenden, der borgen will, so dass man annehmen muss, dass sich die Liberalen und Konservativen in unserem Land aus Leuten zusammensetzen, die der Lehre Christi nicht zustimmen, weil sie bei jener Gelegenheit sehr entschieden abwehrten.

Dann gibt es eine weitere Maxime Christi, in der meiner Ansicht nach seht viel steckt; aber ich kann nicht feststellen, dass sie bei einigen unserer Christenfreunde sehr beliebt ist. Er sagte: "Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib den Erlös den Armen." Es ist eine ausgezeichnete Maxime, aber wie ich schon sagte, wird sie nicht sehr häufig in die Tat umgesetzt. Das alles sind meiner Ansicht nach gute Grundsätze, wenn es auch ein wenig schwierig ist, sein Leben danach einzurichten. Ich behaupte nicht, dass ich selbst danach lebe, aber schließlich ist das für mich nicht ganz dasselbe wie für einen Christen.

Mängel in der Lehre Christi

Nachdem ich die Vortrefflichkeit dieser Maximen eingeräumt habe, komme ich zu gewissen Einzelheiten, bei denen man meiner Meinung nach Christus, wie er in den Evangelien geschildert wird, weder die höchste Weisheit noch die höchste Güte zuerkennen kann; und hier darf ich noch einfügen, dass ich mich nicht mit der historischen Frage befasse. Geschichtlich gesehen ist es ziemlich zweifelhaft, ob Christus überhaupt jemals gelebt hat, und wenn ja, so wissen wir nichts über ihn.

Deshalb beschäftige ich mich nicht mit der historischen Frage, die sehr schwierig ist, sondern mit Christus, wie er in den Evangelien auftritt, wobei ich die Erzählungen der Evangelien so nehme, wie sie geschrieben stehen. Da findet sich nun einiges, das nicht sehr weise erscheint. Zunächst einmal glaubte er gewiss, dass er noch vor dem Tode aller seiner Zeitgenossen in Wolken der Glorie wiederkehren würde. Es gibt viele Textstellen, die das beweisen. Er sagt beispielsweise: "Ihr werdet noch nicht fertig sein mit den Städten Israels, bis der Menschensohn kommt." Dann sagt er: "Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht kosten, bis sie den Menschensohn in seinem Reiche kommen sehen."

Und es gibt noch viele Stellen, in denen es ganz deutlich ist, dass er der Meinung war, er werde zu Lebzeiten vieler damals Lebender wiederkehren. Das war auch der Glaube seiner frühen Anhänger und die Grundlage eines großen Teils seiner Sittenlehre. Wenn er sagte: "Sorget nicht ängstlich für den morgigen Tag", und ähnliches, so größtenteils deshalb, weil er glaubte, er werde sehr bald wiederkehren und alle gewöhnlichen irdischen Angelegenheiten seien bedeutungslos. Ich habe tatsächlich einige Christen gekannt, die glaubten, seine Wiederkehr stehe kurz bevor.

Ein Geistlicher, den ich kannte, jagte seiner Gemeinde eine schreckliche Angst ein, indem er ihr sagte, die Wiederkehr Christi stehe wahrhaftig unmittelbar bevor; aber als sie sahen, dass er in seinem Garten Bäume pflanzte, waren sie wieder beruhigt. Die frühen Christen glaubten wirklich daran, und sie unterließen solche Dinge, wie in ihren Gärten Bäume zu pflanzen, da sie von Christus den Glauben übernahmen, dass die Wiederkehr nahe bevorstehe. In dieser Hinsicht war er eindeutig nicht so klug wie manche andere Menschen, und die höchste Weisheit besaß er ganz gewiss nicht.

Das moralische Problem

Wenden wir uns nunmehr moralischen Fragen zu. Christus hatte nach meiner Ansicht einen sehr schweren Charakterfehler, nämlich dass er an die Hölle glaubte. Ich meinerseits finde nicht, dass jemand, der wirklich zutiefst menschenfreundlich ist, an eine ewigwährende Strafe glauben kann. Christus, wie er in den Evangelien geschildert wird, glaubte ganz gewiss an eine ewige Strafe, und wiederholt findet man in ihnen eine rachsüchtige Wut auf jene Menschen, die auf seine Predigten nicht hören wollten - eine bei Predigern nicht ungewöhnliche Haltung, die aber die höchste Vortrefflichkeit etwas in Frage stellt.

Bei Sokrates beispielsweise findet man diese Einstellung nicht. Er ist gegenüber den Menschen, die nicht auf ihn hören wollten, höflich und verbindlich, und meiner Meinung nach ist diese Haltung eines Weisen viel würdiger als die der Entrüstung. Sie erinnern sich wahrscheinlich alle daran, was Sokrates vor seinem Tode sprach, und an jene Worte, die er im allgemeinen zu Leuten sagte, die mit ihm nicht übereinstimmten.

Christus sagte in den Evangelien: »Ihr Schlangen und Natterngezücht! Wie werdet ihr der Verurteilung zur Hölle entrinnen?«, und zwar sagte er es zu Leuten, denen seine Predigten nicht gefielen. Nach meiner Meinung ist das nicht gerade das beste Verhalten. Es gibt jedoch viele derartige Stellen über die Hölle, zum Beispiel den bekannten Ausspruch über die Sünde wider den Heiligen Geist: »Wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser noch in der künftigen Welt vergeben werden.» Diese Stelle hat in der Welt unaussprechliches Elend verursacht, denn alle möglichen Leute glaubten, sie hätten wider den Heiligen Geist gesündigt und es würde ihnen weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden. Ich finde wahrhaftig nicht, dass ein Mensch, dessen Natur ein rechtes Maß an Güte enthält, soviel Angst und Schrecken in die Welt gesetzt hätte.

Dann sagt Christus: »Der Menschensohn wird seine Engel aussenden. Diese werden aus seinem Reiche alle Verführer und Übeltäter sammeln und werden sie in den Feuerofen werfen. Da wird Heulen und Zähneknirschen sein." Und über das Heulen und Zähneknirschen spricht er immer wieder.

Es kommt in einem Vers nach dem andern vor, und deshalb ist es für den Leser ganz offenbar, dass ihm die Vorstellung des Heulens und Zähneknirschens ein gewisses Vergnügen bereitete. Dann erinnern Sie sich natürlich alle an die Stelle über die Schafe und Böcke, wie er bei seiner Wiederkehr zu den Böcken sagen wird: »Weicht von mir, all ihr Übeltäter, in das ewige Feuer." Er fährt fort: "Und sie werden in das ewige Feuer gehen." Dann wieder sagt er: "Wenn deine Hand dir Ärgernis gibt, so haue sie ab; es ist für dich besser, verstümmelt ins Leben einzugehen, als mit zwei Händen in die Hölle zu fahren, in das unauslöschliche Feuer, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt." Auch das wiederholt er immer wieder.

Ich muss sagen, dass diese ganze Lehre vom Höllenfeuer als Strafe für die Sünde eine grausame Lehre ist. Sie hat Grausamkeit in die Welt gebracht und für Generationen unbarmherzige Foltern. Und könnte man annehmen, dass der Christus der Evangelien auch in Wirklichkeit so war, wie ihn seine Chronisten darstellen, so müsste man ihn gewiss zum Teil dafür verantwortlich machen.

Es gibt aber noch andere Dinge von geringerer Bedeutung. Da ist die Begebenheit mit den Gadarener Säuen, wo es den Schweinen gegenüber ganz gewiss nicht sehr nett war, die Teufel in sie fahren zu lassen, so dass sie den Hügel hinab ins Meer stürmten. Sie müssen bedenken, dass er allmächtig war und die Teufel einfach hätte fortschicken können; aber er zog es vor, sie in die Säue fahren zu lassen. Sie erinnern sich sicher auch an die seltsame Geschichte vom Feigenbaum, von der ich nie wusste, was ich davon halten solle.

»Des anderen Tages aber, da sie von Bethanien weggingen, hungerte ihn. Er sah von ferne einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und ging hinzu, ob er wohl etwas an ihm fände. Als er aber hinzukam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht Feigenzeit. Da sprach er zu ihm: Niemals esse jemand wieder eine Frucht von dir in Ewigkeit! ... Und Petrus... sagte zu ihm: Meister, sieh, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt."

Das ist eine sehr eigenartige Geschichte, weil man dem Feigenbaum wirklich keinen Vorwurf daraus machen konnte, dass es nicht die rechte Jahreszeit für Feigen war. Ich meinerseits kann nicht finden, dass Christus an Weisheit oder Tugend ganz so hoch steht wie einige andere geschichtliche Persönlichkeiten. In dieser Hinsicht würde ich Buddha oder Sokrates noch über ihn stellen.

Das gefühlsmäßige Moment

Wie gesagt, glaube ich nicht, dass der wahre Grund, warum die Menschen einer Religion anhängen, etwas mit Beweisen zu tun hat. Sie sind religiös aus Gründen des Gefühls. Häufig ist zu hören, es sei unrecht, die Religion anzugreifen, weil sie die Menschen tugendhaft mache. So sagt man, ich selbst habe nichts davon bemerkt. Sie kennen wohl die Parodie auf dieses Argument in Samuel Butlers Buch "Erewhon Revisited".

Wie Sie sich erinnern werden, kommt in "Erewhon" ein gewisser Higgs vor, der in ein fernes Land verschlagen wird und nach einiger Zeit in einem Ballon aus diesem Land flieht. Nach zwanzig Jahren kehrt er zurück und findet dort eine neue Religion vor, in der er unter dem Namen "Sonnenkind" verehrt wird und die behauptet, er sei in den Himmel aufgefahren. Er erfährt, dass das Himmelfahrtsfest unmittelbar bevorstehe, und hört, wie die Professoren Hanky und Panky zueinander sagen, sie hätten den Mann Higgs niemals gesehen und hofften, ihn auch niemals zu Gesicht zu bekommen; sie sind aber die Hohenpriester der Religion des Sonnenkindes. Er ist überaus empört, geht auf sie zu und sagt:

»Ich werde diesen ganzen Schwindel entlarven und dem Volk von Erewhon sagen, dass es nur ich war, der Mann Higgs, und dass ich in einem Ballon aufgestiegen bin." Man erwidert ihm jedoch: "Das dürfen Sie nicht tun; die ganze Moral dieses Landes ist an diesen Mythos gebunden. Wenn die Leute erfahren, dass Sie nicht in den Himmel aufgefahren sind, werden sie alle schlecht werden."

Und so lässt er sich überzeugen und entfernt sich unauffällig.

Das ist der Grundgedanke: dass wir alle schlecht wären, hielten wir uns nicht an die christliche Religion. Mir scheint es, dass der größte Teil der Menschen, die sich daran gehalten haben, außerordentlich schlecht waren. Es ergibt sich die seltsame Tatsache, dass die Grausamkeit um so größer und die allgemeine Lage um so schlimmer waren, je stärker die Religion einer Zeit und je fester der dogmatische Glaube war. In den sogenannten Epochen des Glaubens, als die Menschen an die christliche Religion in ihrer vollen Ganzheit wirklich glaubten, gab es die Inquisition mit ihren Foltern, wurden Millionen unglückseliger Frauen als Hexen verbrannt und im Namen der Religion an unzähligen Menschen alle erdenklichen Grausamkeiten verübt.

Wenn man sich auf der Welt umsieht, so muss man feststellen, dass jedes bisschen Fortschritt im humanen Empfinden, jede Verbesserung der Strafgesetze, jede Maßnahme zur Verminderung der Kriege, jeder Schritt zur besseren Behandlung der farbigen Rassen oder jede Milderung der Sklaverei und jeder moralische Fortschritt auf der Erde durchweg von den organisierten Kirchen der Welt bekämpft wurde. Ich sage mit vollster Überlegung, dass die in ihren Kirchen organisierte christliche Religion der Hauptfeind des moralischen Fortschrittes in der Welt war und ist.

Wie die Kirchen den Fortschritt verzögert haben

Vielleicht sind Sie der Meinung, ich gehe zu weit, wenn ich behaupte, dass das noch immer so ist. Ich bin nicht dieser Ansicht. Nehmen Sie nur eine Tatsache als Beispiel. Sie müssen entschuldigen, wenn ich sie erwähne. Es ist keine erfreuliche Tatsache, aber man wird von den Kirchen dazu gezwungen, unerfreuliche Dinge auszusprechen. Nehmen wir an, dass in unserer heutigen Welt ein unerfahrenes Mädchen einen syphilitischen Mann heiratet. In diesem Fall sagt die katholische Kirche: »Das Sakrament ist unauflösbar. Ihr müsst bis an euer Lebensende zusammenbleiben." Und die Frau darf nichts unternehmen, um zu verhindern, dass sie syphilitische Kinder zur Welt bringt. So sagt die katholische Kirche. Ich aber nenne das eine unmenschliche Grausamkeit. Niemand, dessen natürliches Mitgefühl nicht durch das Dogma verkümmert oder dessen moralisches Empfinden nicht für alles Leiden vollkommen tot ist, kann behaupten, es sei recht und billig, dass dieser Zustand weiterhin bestehen bleibt.

Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele Methoden, mit denen gegenwärtig die Kirche durch ihr Beharren auf ihrer sogenannten Sittenlehre allen möglichen Menschen unverdientes und unnötiges Leiden zufügt. Und natürlich ist sie, wie wir wissen, zum größten Teil immer noch ein Gegner des Fortschritts und aller Verbesserungen, die das Leiden in der Welt verringern könnten, weil sie unter Moral eine Anzahl von Verhaltensregeln versteht, die mit menschlichem Glück überhaupt nichts zu tun haben. Wenn man sagt, dies oder jenes müsse geschehen, da es zum menschlichen Glück beitragen würde, so findet die Kirche, das habe mit der Sache überhaupt nichts zu tun. »Was hat menschliches Glück mit der Sittenlehre zu tun? Es ist nicht das Ziel der Sittenlehre, die Menschen glücklich zu machen.»

Angst als Grundlage der Religion

Die Religion stützt sich vor allem und hauptsächlich auf die Angst. Teils ist es die Angst vor dem Unbekannten und teils, wie ich schon sagte, der Wunsch zu fühlen, dass man eine Art großen Bruder hat, der einem in allen Schwierigkeiten und Kämpfen beisteht. Angst ist die Grundlage des Ganzen - Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Die Angst ist die Mutter der Grausamkeit, und es ist deshalb kein Wunder, dass Grausamkeit und Religion Hand in Hand gehen, weil beide aus der Angst entspringen.

Wir beginnen nun langsam, die Welt zu verstehen und sie zu meistern, mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich gewaltsam Schritt für Schritt ihren Weg gegen die christliche Religion, gegen die Kirchen und im Widerspruch zu den überlieferten Geboten erkämpft hat. Die Wissenschaft kann uns helfen, die feige Furcht zu überwinden, in der die Menschheit seit so vielen Generationen lebt. Die Wissenschaft, und ich glaube auch unser eigenes Herz, kann uns lehren, nicht mehr nach einer eingebildeten Hilfe zu suchen und Verbündete im Himmel zu ersinnen, sondern vielmehr hier unten unsere eigenen Anstrengungen darauf zu richten, die Welt zu einem Ort zu machen, der es wert ist, darin zu leben, und nicht zu dem, was die Kirchen in all den Jahrhunderten daraus gemacht haben.

Was wir tun müssen

Wir wollen auf unsern eigenen Beinen stehen und die Welt offen und ehrlich anblicken - ihre guten und schlechten Seiten, ihre Schönheit und ihre Hässlichkeit; wir wollen die Welt so sehen, wie sie ist, und uns nicht davor fürchten. Wir wollen die Welt mit unserer Intelligenz erobern und uns nicht nur sklavisch von dem Schrecken, der von ihr ausgeht, unterdrücken lassen. Die ganze Vorstellung von Gott stammt von den alten orientalischen Gewaltherrschaften.

Es ist eine Vorstellung, die freier Menschen unwürdig ist. Wenn man hört, wie sich die Menschen in der Kirche erniedrigen und sich als elende Sünder usw. bezeichnen, so erscheint das verächtlich und eines Menschen mit Selbstachtung nicht würdig. Wir sollten uns erheben und der Welt frei ins Antlitz blicken. Wir sollten aus der Welt das Bestmögliche machen, und wenn sie nicht so gut ist, wie wir wünschen, so wird sie schließlich immer noch besser sein als das, was die andern in all den Zeitaltem aus ihr gemacht haben.

Eine gute Welt braucht Wissen, Güte und Mut, sie braucht keine schmerzliche Sehnsucht nach der Vergangenheit, keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit von unwissenden Männern gesprochen wurden. Sie braucht einen furchtlosen Ausblick auf die Zukunft und eine freie Intelligenz. Sie braucht Zukunftshoffnung, kein ständiges Zurückblicken auf eine tote Vergangenheit, von der wir überzeugt sind, dass sie von der Zukunft, die unsere Intelligenz schaffen kann, bei weitem übertroffen wird.

Bertrand Russell, London, März 1927


Mehr über Bertrand Russell bei Wikipediaweiter

The Bertrand Russell Archives, McMaster University, Hamilton, Kanada (engl.) - weiter

THE BERTRAND RUSSELL SOCIETY, Windsor, CO 80550, USA - weiter

Bertrand Russell > Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stanford, CA 94305-4115, USA - weiter

Warum ich kein Christ bin englischer Sprache - weiter

Bildquellen:

1. Bertrand Arthur William Russell. Foto / Quelle: Webseite der von Russell 1963 gegründeten "Bertrand Russell Peace Foundation". Ihre Aufgabe liegt in der Fortführung der Arbeit des Philosophen und Aktivisten Bertrand Russell in den Bereichen Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte mit dem Schwerpunkt Gefahren eines Nuklearkrieges. - weiter

2. Buchercover, altes britisches Exemplar

3. Bertrand Russell mit seinen Kindern, 1935. Urheber: Ottoline Morrell (1873–1938), Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.

4. Buchercover, altes Exemplar des rororo Verlages, gelegentlich im Antiquariat zu bekommen, leider sehr teuer

5. Bertrand Russell mit Pfeife, aufgenommen am 17. Juni 1957 Foto: John Drysdale. Infos über den Fotografen von seiner Webseite (nicht mehr online verfügbar): "John Drysdale grew up in East Africa acquiring an early interest in both photography and animals. He trained at Guildford School of Art in England in the early 1950s and worked as an assitant to Cecil Beaton taking the official photos of the Coronation of Queen Elizabeth II. He has since worked in photo-reportage, advertising and industrial photography and won numerous awards. But perhaps his most memorable work has been in the field of humour, working with children and animals in real life situations which give a new slant on the world."

6. Buchercover, altes Exemplar des Münchner Szczesny-Verlages, gelegentlich im Antiquariat zu bekommen, leider sehr teuer

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WiKa
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Verbunden: 16.10.2010 - 23:42
Warum ich vielleicht doch ein Christ bin …


Warum ich vielleicht doch ein Christ bin …


… der erste Schritt dürfte sein, sich von der „Verkopfung“ dieses Themas zu lösen. Der ewige Machtmissbrauch der originären Botschaften durch und im Namen der Kirche(n), die inzwischen nachgewiesenen Fälschungen und Verfälschungen der Lehre, müssen zwangsläufig und bei einer „nüchternen“ Betrachtung in einem solchen Aufsatz oder auch Fiasko enden. Inhaltlich gibt es deshalb an Russels Einsicht nichts was „glaubwürdig” zu bestreiten wäre … ich wiederhole „glaubwürdig” und damit ist auch der Aufsatz womöglich nur eine weitere Irrlehre? Sicher, wissenschaftlich, humanistisch und sachlich „voll korrekt“ begründet, aber auch bewiesen? Solche voll korrekten und schlüssigen Begründungen können wir heute übrigens auch bekommen, wenn der Friedensnobelpreisträger seine diensttäglichen Todeslisten im mittleren Osten abdrohnen lässt.

Ach ja, wie war das noch? Elektrizität war zwar immer da. Manche Leute glaubten das womöglich schon viel früher, oh, oh ,oh aber sie glaubten es nur, also reines Ketzertum. Dasselbe passierte uns noch mit der Erde. Die war lange Zeit eine Scheibe, damit wir nicht runterfielen. Selbst heute ist die Murmel noch nicht ausgereift, derzeit eher im Kartoffelmodus angekommen. Nur richtig rund ist die Sache wohl noch immer nicht. Nun, unser modernistischer Religionsersatz ist nun einmal die Wissenschaft und das Credo heißt „Wissen”, denn wer wollte heute noch glauben. Blöd nur, dass viele Wissenschaftler mit einem einfachen „Glauben“ oder auch „Glaubenssatz“ bei ihren Arbeiten anfangen und wenn sie Glück dabei haben, erhaschen sie sogar Beweise für ihre Theorien. Manchmal bleibt es beim Glauben und dem daraus zwangsläufig abzuleitendem Ketzertum.

Natürlich darf man sich als modern(d)er Mensch nicht als Christ bezeichnen. Viel zu verhunzt und absolut nicht „En Vogue“ dieser Begriff. Wer wollte sich heute schon des „Glaubens” bezichtigen lassen, wo wir dank des heutigen, realexistierenden „Sodom und Gomorra“ viel schneller die garantierte Abwesenheit eines jeden Gottes beweisen können. Und man tut ohnehin gut daran, sich nie und nimmer Christ zu schimpfen oder schimpfen zu lassen, wird es doch sogleich als Beweis dafür angeführt, dass man in mittelalterlichen Denkmustern gefangen zu sein scheint, eine Schmach, der sich heute niemand mehr auszusetzen braucht.

Aber halt, da waren doch jetzt noch so einige Dinge zwischen Himmel und Erde, die so rein gar nicht von unserer Wissenschaft geklärt sind. So ähnlich wie mit der Elektrizität die es ja eigentlich auch nie gab, außer seit Urbeginn der Welt, uns aber erst seit kurzem erleuchtet. Das „Christ sein“ womöglich nur eine Erfahrung ist, etwas was mit „Spiritualität” im engeren Sinne zu tun hat, nur wirklich individuell erfahrbar und rein gar nicht beweisbar ist … (oh, Gott, jetzt wird der Kommentator auch noch ulkig bis blasphemisch) … das kommt natürlich niemanden in den Sinn?

Für diejenigen, deren Herz nur hüpft wenn der „Taler im Kasten“ klingt, dürfte es so sein. Treten wir doch einfach alle Kirchen, Sekten und Esoterikertrüppchen in die Tonne, die sich darum schlagen, die Menschen dergestalt zu dominieren, Wagen wir nur für uns mal den Blick nach innen. Bewerten nur für uns selbst die reinste Essenz dessen, was uns noch von der christlichen Lehre, in vielfältiger Übereinstimmung mit diversen anderen verbogenen Religionen, an Fragmenten hinterlassen wurde. Dann könnte das Rennen durchaus anders ausgehen. Ich erspare mir die vielen Hinweise und Verweise auf unbewiesene Phänomene / Denkanstöße die darauf hindeuten, dass der Mensch erheblich mehr ist als was er vor dem Spiegel zu sein scheint. Dass womöglich die Prioritäten Körper, Geist und Seele auf dem Kopf stehen und wir deshalb keine wissenschaftlich belastbaren Fortschritte in diese Richtung erzielen können - dank der allgemein anerkannten Verkopfung und Versachlichung und eines zutiefst eindimensionalen Blickwinkels.

Also gut, man kann gut begründen, warum man kein Christ ist. Fällt gar nicht schwer und ist argumentativ damit völlig sauber. Man muss übrigens auch kein bekennender Christ sein und kann sich dennoch an vergleichbaren Grundwerten orientieren. Da ist es dann ohnehin völlig egal wie wir das Kind benennen. Wir brauchen offenbar ein Ziel für unsere negierte Spiritualität, nennen wir es also „Christ oder Christentum”. Ahh … wir haben weltweit aber keine allgemeingültigen Grundwerte, fällt mir gerade ein. Wir haben zwar Grundrechte, die regelmäßig zum Scheitern verurteilt sind, weil es schon an besagten Grundwerten mangelt. Aber selbst dazu gebietet uns unsere Rationalität nur nicht in die Christen-Mottenkiste zu greifen, weil da alles völlig verbraucht zu sein scheint.

Ach nee, ich weiß nicht, ob ich da nicht doch lieber Christ sein möchte oder gar ein verkappter Christ bin, auch auf die Gefahr hin, damit endgültig für diese Welt verloren zu sein! Aber kann ich eine solche Welt - wie wir sie derzeit haben - überhaupt wollen? Wohl nur, wenn ich einem anderen Gott bis aufs Blut diene und zutiefst von dessen Evangelium überzeugt bin. Wenn ich also ein aufrechter Jünger der reinen Lehre des Mammon bin. Eine geistige „Leere“, die heute rein gar nicht hinterfragt wird, ist gelebte Realität und das Maß aller Dinge. Eben … was sollten wir auch mit diesem mittellosen Christus anfangen wollen, wenn doch seine Lehre, außer für die Missbraucher derselben, keine Profite abwirft.

Wenn ich mir den ganzen Hokuspokus jetzt noch einmal durch meine ganz persönliche rosarote Brille betrachte, durchaus in vertiefter Kenntnis der heiligen Schriften der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, dann werde ich mich doch lieber wieder dem mittellosen Jesus zuwenden und mit ihm mal einen entspannten Gang um den See unternehmen, weil das für mich, so glaube ich zutiefst (ohne es beweisbar zu wissen, sondern nur für mich) im Moment viel inspirierender, erlösender (nicht Erlös), kreativer und befreiender ist. Aber was ist in dieser Welt schon Geist und Seele wert? In einer Welt, in der man nur seinen Körper zu Markte tragen kann und für die anderen beiden Komponenten keine Marktpreise aufgerufen werden?

Es mutet ein wenig an wie der unwiderlegbare Beweis für die Existenz der Dunkelheit, dass sie real und unabwendbar ist. Darüber kann man ganze wissenschaftliche Buchbände füllen. Aber was passiert, wenn wir Licht ins Dunkel bringen? Dann ist es einfach nur vorbei mit der Dunkelheit. Sie ist einfach weg, obgleich wir sie doch gerade zuvor mühevoll bewiesen haben. Ergo: wir müssen auch weiterhin nur dafür sorgen, dass nichts ans Licht kommt und kein Licht unsere gerecht erdachtes Dunkel erhellt, dann wird uns die Dunkelheit auf ewig erhalten bleiben können. So einfach kann Wissenschaft sein … wem das reicht. Und wer nie in seinem Leben Licht gesehen hat, der wird sich auch locker mit der bewiesenen Dunkelheit abfinden und jede These vom Licht als Blasphemie entlarven können, besonders dann, wenn ihm noch erklärt wird, dass Licht ganz „böse“ sein kein, weil man daran entzünden und verbrennen kann.

Also Leute, schaltet mal den Kopf aus und versucht einmal mit dem Herzen zu denken … ja ich höre es schon: „das geht doch gar nicht“ … und schon gar nicht in dieser äußerst „aufgeklärten Zeit”, wir wissen doch schon alles, wie schon im Mittelalter. Genau, weil wir nicht in der Lage sind, aus unseren alten Denkmustern auszubrechen, bekommen wir immer neue Begründungen dafür, dass Christus „Scheiße“ sein muss und geistige Finsternis die Erlösung ist. Weil wir den erlittenen Missbrauch nicht von der Begrifflichkeit trennen wollen, lassen wir uns immer neue Anekdoten einfallen, die die Abwesenheit einer anderen Sphäre, Dimension oder was auch immer beweisen sollen. Also dann schimpft mich doch ruhig Christ, auch wenn ich nicht an den Methusalem mit dem langen Bart glaube (an die irdischen Vertreter dieser Himmelsrichtung allemal nicht) … aber daran, dass der Mensch einiges mehr ist als nur diese erbärmliche, vergängliche Gestalt, die sich nur vor dem Spiegel glaubt zu erkennen, in einer fragilen, vergänglichen materiellen Welt. Nennt mich Spinner, weil ich annehme, dass wir die Welt nichteinmal zu einem Bruchteil begriffen haben, aber lasst mich glauben was ich will und wisst was ihr wollt … und vor allem benennt doch die Dinge wie ihr wollt, nur an ihren Kern kommt ihr auf diese Art auch nicht ran, auch Bertrand Russell nicht, mit seiner zutiefst verkopft, korrekten Begründung seines Standpunktes.

Wilfried Kahrs

 

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Rene Wolf
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Verbunden: 19.05.2012 - 09:03
Bertrand Russell


Religion ist die Nebenwirkung einer lebenswichtigen Gehirnfunktion


Meine Kommentar bezieht sich alleinig auf den von Bertrand Russell verfassten Text. Wilfrieds Aussagen sind noch nicht berücksichtigt.


Der Beweis einer ersten Ursache

Der Mensch mag sich nicht vorstellen, dass etwas nicht gemacht, sondern nur "irgendwie" geworden ist. Dieses "Irgendwie" wurde durch Darwins Erkenntnisse zu etwas Konkretem. Die Natur besteht einerseits aus Zufällen, andererseits folgt sie einem strengen Auswahlprinzip. Was nicht zur Erhaltung und Verbreitung des Lebens taugt, wird ausgemustert. Wäre es nicht so, würde nichts werden und nichts würde, wenigstens über eine gewisse Zeit, bestehen.

Was nun die Natur blind schafft - und auch nicht blind, durch konkrete Selektion - das schafft der Mensch bewusst. Er schafft auch vieles unbewusst - etwa Umweltschäden, die ihm erst durch die Sichtbarkeit der Schäden bewusst werden. Doch selbst die Schäden meint er in den Griff bekommen zu können. Der Mensch befindet sich in einem naiv- kreationistischen Fortschrittsglauben. Wobei Fortschritt durchweg positiv besetzt ist.

Selbst die menschliche Erfindung und Herstellung von hochangereichertem Plutonium veranlasst den Menschen kaum, an der Positivität des Fortschritts zu zweifeln. Da nun der Mensch meint, alles machen zu können und zu müssen, da er glaubt, die Welt wäre lediglich ein Rohstoff, den erst der Mensch zum gebrauchsfähigen Produkt namens "Welt" machen muss, so geht dieser Mensch auch davon aus, das der Rohstoff selbst gemacht sein muss. Gemacht, nicht geworden.

Dieser Macher ist Gott. Der Mensch erschuf sich die Götter, um an sich selbst als Macher glauben zu können. Wer aber Gott gemacht haben soll, diese Frage bleibt unbeantwortet. Es fällt schwer, den alten Kinderglauben abzulegen, dass alles eine Ursache und einen Sinn haben müsse.  Wer glaubt, das alles einen Zweck hat - wie es eben Kinder glauben: "Der Stein ist dazu da, mir im Weg zu liegen" - der ist ein Teleologe. Auch ein Vater, der sein Kind angesichts einer dem Kind heruntergefallenen Tasse rügt: "Was hast du dir dabei gedacht?" ist ein Teleologe. Alles muss stets einen Zweck haben.

⇒ Hat es das?


Der teleologische Gottesbeweis

Die größte Erpressbarkeit des Menschen besteht in seiner Todesangst. Die Verheißung, nach oder vor oder neben dem Tod gäbe es noch etwas, ist verlockend. In Abwandlung eines Schlagers aus den 20er Jahren könnte man sagen: "Soll denn so was Schönes auf einmal vergehen? Der Mond und die Sterne doch ewig bestehen". Inklusive des Irrtums, alle Planeten gäbe es ewig. Sein und Nichtsein bedingen einander. Wenn alles einfach nur ist, wäre kein Platz für das Sein. Eine dichte Masse erstickt alles Leben.

Wir brauchen den Tod. Und ehrlich gesagt und zuende gedacht: wir haben keine Angst vor ihm. Wir wollen nur nicht leiden. Wir fürchten uns vor den Signalen im Gehirn, die uns warnen. Schmerz ist aber ein deutliches Lebenszeichen. Menschen, die keine Schmerzen spüren, sterben meist sehr jung. Die Bewusstlosigkeit im Schlaf erschreckt uns so wenig wie unser Totsein vor unserer Zeugung. Das Trostpflaster Religion legt sich über eine Wunde, die nie heilt. Diese Wunde heißt: Leben.


Die moralischen Gottesbeweise

Es erscheint logisch, dass ohne die Trennung von Gut und Böse alles egal wäre. Ob wir uns atomar zerstören oder nicht - dem Universum ist das (Stern- ) schnuppe. Lediglich unsere Gene hindern uns an dem "Experiment" der Selbsttötung. Wissenschaftlich interessant wäre es schon. Theologisch interessant allemal, denn dann könnten wir uns hinterher darüber unterhalten. Im Himmel oder in der Hölle.

Wieso hindern uns die Gene an diesem Experiment? Weil es uns sonst nicht gäbe. Sonst hätte wir uns beispielsweise schon selbst als Nahrung entdeckt. Bei Hunger einfach mal am Unterarm knabbern... Wir müssen uns aber erhalten. Und nicht nur uns selbst, sondern auch die anderen von unserer Art. Sonst wären wir nicht vorhanden. Deshalb prägte die Evolution unsere Empathie. Deshalb lächeln wir, wenn uns ein Baby anlächelt. deshalb gibt es das Lächeln.

Obwohl das Leben an sich - anderes zu behaupten wäre ja wieder nur Teleologie - keinen Zweck hat. Da das Leben aber nunmal (zufällig!) besteht, ist es daran interessiert, weiter zu bestehen. Es gibt einfach zu viele Belohnungen. Nicht nur beim Orgasmus. Was wir als gut empfinden, ermöglicht die Orgasmen, zu denen auch unsere Augenblicke der Begeisterung gehören. Verunmöglichungen von gehirnbelohnenden Botenstoffen dagegen sind für uns das Böse. Neurologen wissen das. Wir haben also ein genetisch eingepflanztes, sinnlich- konkret erfahrbares ethisches System.

Wozu braucht es da noch Religion?


Das Argument der ausgleichenden Gerechtigkeit

Für das Entstehen von Religionen gibt es verschiedene Thesen. Biologisch- evolutionär betrachtet steht das die hier auch von Russell erwähnte Beobachtung, dass ein Kind darauf angewiesen ist, den Erwachsenen zu glauben. Denn der Mensch ist nicht besonders instinktsicher beim Erkennen von Gefahren. Und so können die Erwachsenen den Kindern viel Unsinn erzählen, neben all dem Nützlichen und lebenserhaltendem, was sie den Kindern mitgeben.

Aber wie entstand nun überhaupt Religion? Es ist oft notwendig, einfach zu denken. Bedroht mich ein Tiger, muss ich meine Fähigkeit zu komplexem Denken ausblenden, um rasch zu handeln. Ich überlege nicht, wie die Muskeln des Tigers heißen oder welche Augenfarbe er hat. Ich muss verkürzt denken, um fliehen zu können. Ich brauche eine einfache Antwort. Ich muss das Ding, das mir gegenübersteht, nach seinem äußerlichen Schein bewerten. Ich muss ihm einen Namen geben. Diese Fähigkeit zu temporärer Idiotie, oder, wen das als Mensch beleidigt, zu rein instinktivem, irrationalem Bewerten ist lebenswichtig. Man musste Gott benennen, als Synonym für alles, was nicht erklärt werden konnte. Gott ist kein Forschungsgegenstand, sonst wüssten wir heute wahrscheinlich schon, wie er aussieht.

Religion ist die Nebenwirkung einer lebenswichtigen Gehirnfunktion. Diese heißt Vereinfachung, Verkürzung, vorübergehende Verblödung zwecks rascher Handlungsmöglichkeit zur Abwehr von Gefahr. Wir nehmen einen "intentionalen" Standpunkt ein, folgen der Intention und nicht dem Verstand. In Gefahr oder bei Erschöpfung begnügen wir uns mit der Bildzeitung der Evolution. Schlagzeilen ohne Storys.

Ähnlich wie bei Motten. Sie orientieren sich am Licht. So finden sie wieder nach Hause. Gewöhnlich haben sie also die Sonne und nachts den Mond und die Sterne. Offene Flammen gehören nicht in ihr natürliches Orientierungsschema. Motten sind keine Kamikaze- Flieger. Sie erliegen nur dem Irrtum, die Flamme sei eine Art Kompass und nicht eine Gefahr. Was der Motte die Flamme ist, bedeutet für den Menschen die Religion.

Dabei wollen wir doch eigentlich nur bestehen, und nicht verblöden, oder?

Diese mitunter lebenswichtige angeborene Fähigkeit zu völliger Irrationalität zeigt sich auch, wenn wir uns verlieben. Es ist im Sinne der Arterhaltung, wenn wir nicht nur mit einer beliebigen PartnerIn kopulieren, sondern wenn wir uns an sie tatsächlich gebunden fühlen, psychisch und physisch.

Dafür tun wir viel "dummes Zeug". Anstatt wie Hunde nur ein wenig herumzuschnüffeln und dann handfest zu werden, um hernach das Ganze wieder zu vergessen, pflegen wir allerlei Riten, Bewegungen und Aufmerksamkeits- Versicherungen bis hin zu jahrelanger Treue. Eigentlich unlogisch, denn auch durch Polyamorie würde die Menschheit weiter bestehen. Aber nein, wir sind verliebt, wir stehen unter Drogen.

Warum?

Weil es die Evolution als sinnvoll "erachtete", dass wir an der Aufzucht unserer Brut interessiert sind. Das geschieht auch bei einigen Tierarten, etwa bei Störchen. (Ich setze "erachtete" bewusst in Anführungszeichen, um mich gegen Kreationisten zu wappnen.) Und so ist auch die Liebe eine irrationale, aber lebensnotwendige Erscheinung, die es uns ermöglicht, andere irrationale Verhaltensmuster auszubilden - auch dann, wenn diese überhaupt nicht lebenswichtig sind. Religion etwa. Oder Patriotismus. Wir sind anfällig für alle möglichen geistigen Viren. So kommt es zu Geistes- Krankheiten. Diese werden besonders von denen befördert, die davon profitieren.

 

Nu pogodi!

René L. Wolf

 

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Rene Wolf
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Verbunden: 19.05.2012 - 09:03
Wie hilfreich ist Religion?


Wie hilfreich ist Religion?


Wilfried Kahrs bemängelt, dass WIR „weltweit keine allgemeingültigen Grundwerte“ haben. Deshalb wäre Religion hilfreich.

Wer ist „wir“? Dieses Wort beinhaltet meist eine rhetorische Falle. Eine Gleichmacherei und oft auch ein mehr oder weniger bewusster Eurozentrismus. Obwohl die Übernahme des ökonomischen Begriffs „Wert“ in die Ethik problematisch ist: „Werte“ haben gerade jene, die von sogenannten „zivilisierten“ Menschen gern als „Primitive“, „Wilde“ oder „Barbaren“ bezeichnet werden. Dazu der deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Psychologe und Psychoanalytiker Dr. Arno Gruen:


„Gene Weltfish (1965), Anthropologin und Schülerin von Franz Boas, beobachtete über dreißig Jahre lang die amerikanischen Pawnee-Indianer. Hier ihr zusammenfassender Bericht: »Weder persönliche Beziehungen noch die Personen innerhalb einer Gemeinschaft waren durch festgelegte Familienstrukturen eingeengt. Die individuelle Persönlichkeit wurde nicht beschnitten, um sie Sippenstrukturen anzupassen, sondern umgekehrt. Die Sippenstruktur wurde genutzt, um die individuelle Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Die gesellschaftliche Struktur der Pawnee war weder in einem Gesetzbuch zu finden, noch hatte sie den Status einer Doktrin, noch existierte eine Kommandostruktur, um sie zu erzwingen. Die Sittenstrukturen waren weder eingefroren noch den Menschen einfach auferlegt. Sie wurden von ihnen implizit getragen, um ihnen zu dienen, wenn sie diese für richtig hielten. Da existierte keine eingebaute Schuld, die als Stellvertreter für einen Mächtigen wirken konnte und ihr Leben einengte. Sie wirkten in jeder persönlichen Beziehung kreativ. Ihre Welt war roh und ihr Leben hart, aber es war auch freier als unseres. Keine religiöse oder übernatürliche Billigung erzwang die sozialen Formen. Die einzige mögliche Strafe für das Überschreiten der Sippenformen war die entgegenwirkende öffentliche Meinung. Diese war ein wichtiges Abschreckungsmittel, aber es hatte eine ganz andere Qualität als religiöse, militärische oder politische Sanktionen.“


Der Neurobiologe / Hirnforscher und Autor Prof. Gerald Hüther erwähnt eine Studie, nach der bewiesen wurde, dass uns Empathie angeboren, Konkurrenzdenken dagegen erlernt ist. Babys sind kooperativ. Sie brauchen keine Religion. Versteht man „Religion“ als tatsächliche „Rückbindung“ oder besser „Rückbesinnung“- Letzteres schließt eine mögliche Freilegung unserer sinnlichen Fähigkeiten ein- dann allerdings käme ein Sinn zustande. Dieser hat rein gar nichts mit Geistern und Göttern zu tun.
Es gibt keine „religiösen Gefühle“, die verletzt werden können. Wenn ich jemanden sage, dass ich seine Gottgläubigkeit für Unsinn halte, verletze ich ihn nicht. Ich sage nur „Du erzählst Quatsch“. Problematisch wäre, wenn ich sagte „Du bist dumm“.



Gläubige und ihre Selbst- Ergriffenheit: Egozentrik als Altruismus

Interessant bei Religions- Verfechtern ist, dass sie sich selten- und hier bei Wilfried Kahrs gar nicht- auf Quellen beziehen. Ihr Bauchgefühl reicht ihnen, sie sind von nichts so ergriffen wie von ihrer eigenen Meinung. Oder sollte man sagen: Hilflosigkeit? Wie anders sollte man verstehen, was Wilfried da sagt: „Also Leute, schaltet mal den Kopf aus und versucht einmal mit dem Herzen zu denken …“ ?

Um meine Sinne zu gebrauchen, muss ich nur gut hören, riechen, schmecken, tasten, sehen. Empathie inklusive. Den anderen zuhören, zusehen, sie riechen, Küsse schmecken, sie berühren. Das ist das Einzige, was wirklich bedeutet, „mit dem Herzen zu denken“. Welches meiner Körperteile ist für Religion zuständig? Vielleicht mein Rücken, mein „Kreuz“?

Welche praktischen Nachweise gibt es für die höheren „Werte“ von Gläubigen? Der britische Zoologe, theoretische Biologe, Evolutionsbiologe und Autor Richard Dawkins spricht in seinem Buch „Der Gotteswahn“ von einer Studie zur Kriminalität in den USA. Dabei wurden mehr und weniger religiös geprägte Großstädte verglichen. Ergebnis: Verbrechen traten in den eher religiösen Städten nicht in geringerem Maß als in weniger religiös geprägten auf. Im Gegenteil.



Die Suche nach dem Osterei: wo ist Gott?

Richard Dawkins zu Religion und Sinn- oder „Werte“- Suche:


„ [...]Es muss einen Gott geben, denn wenn er nicht existieren würde, wäre das Leben leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungslosigkeit.<< Warum muss man überhaupt darauf hinweisen, dass diese Logik schon über das erste Hindernis stolpert ? Vielleicht ist das Leben leer. Vielleicht sind unsere Gebete für die Toten tatsächlich sinnlos. Doch wenn man das Gegenteil annimmt, setzt man bereits die Wahrheit der Schlussfolgerung voraus, die man überhaupt erst beweisen will. Der angebliche Beweis ist ganz offenkundig ein Zirkelschluß. Das Leben ohne die Ehefrau kann durchaus unerträglich, öde und leer sein, aber das verhindert leider nicht, dass sie tot ist.

Die Annahme, jemand anders (bei Kindern die Eltern, bei Erwachsenen Gott) habe die Aufgabe, unserem Leben Sinn und Bedeutung zu geben, hat etwas Kindisches. Es ist die infantile Haltung dessen, der mit dem Fuß umknickt und sofort jemanden sucht, den er deswegen verklagen kann. Jemand anders muss für mein Wohlergehen verantwortlich sein, und wenn ich mir wehtue, ist ein anderer daran schuld. Steht die gleiche infantile Haltung in Wirklichkeit nicht auch hinter dem »Bedürfnis« nach einem Gott ? ... Die wirklich erwachsene Einstellung dagegen lautet : Unser Leben ist so sinnvoll, so ausgefüllt und großartig, wie wir selbst es gestalten. Und wir können es wirklich großartig gestalten.“


Der letzte Satz mag Einigen zu euphemistisch klingen. Habe ich mir damit ein rhetorisches Ei gelegt und damit mich selbst vergessen? Tatsächlich ist der Satz „Wir können unser Leben großartig gestalten“ vor allem auf materiell wohlversorgte Menschen anwendbar. Sie können arm sein- solange sie nicht elend sind- nicht jeglicher Daseinsmächtigkeit beraubt und mittellos, physisch existenzbedroht also- so lange dürfen sie sich die Hoffnung auf sinnvolle Lebensgestaltung berechtigt bewahren. Auch ohne Religion.

Ein Beispiel: kennen wir niemanden, der sich mit verschiedenen kleinen Jobs über Wasser hält, gepaart mit gelegentlichem Sozialbetrug und weitgehendem Konsumverzicht? Und der zudem recht glücklich zu sein scheint? Ich lebe so. Kein Auto raubt mir meine eigene Mobilität, keine Vollzeit- Arbeitsstelle verdinglicht mich, keine Gesundheitsexperten führen mich zu meiner Gesundheit. Maximal 15 Stunden erwerbsarbeite ich pro Woche- und reise dennoch mehrmals im Jahr in andere Länder. Lesen, Schreiben, Radfahren, Gespräche. Engagement für arme Afrikaner. Handwerkliche Hilfe für andere. Kreative Basteleien. Ich habe nicht viel. Ich bin arm- selig.



Glaubens- Begriffe

Wilfried Kahrs verwendet in seinem Beitrag eine Sprache, die mit vielen seltsamen und doch geläufig- modernen Begriffen durchwoben ist. Eine Kopfsprache nenne ich sie. Und doch fordert Wilfried: „Vergesst den Kopf, denkt mit dem Herzen!“ Ich versuche das jetzt mal. Ein gutes Mittel gegen allzu trockene Logik ist allemal die Unlogik. Ich versteige mich sogar zu der Behauptung, dass meine folgenden Ausführungen Humor haben.

Einige Kahrs´sche Begriffe aus seinem Beitrag seien hier tabellarisch zusammengestellt:

 

originäre

Religions

Botschaften

nachgewiesene

Lehren

Verfälschung

zwangsläufige

Glaubwürdigkeits

Beschränkung

voll

korrekte

Begründung

gläubiges

Kartoffelmodus

Ketzertum

modernistischer

Glaubens

Ersatz

wissenschaftliche

Christen

Spiritualität

mittelalterliche

Denk

Muster

moralische

Sinn

Werte

real

existierender

Gott

grundsätzlicher

Vergleichs

Beweis

individuell

erfahrbare

Blasphemie

dominierende

Esoterik

Existenz

weltlicher

Seelen

Preis

zutiefste

Erlösungs

Inspiration

unwiderlegbare

Herzens

Dunkelheit

 

Diese Tabelle dient nun als Grundlage für meine Entgegnung im Kahrs´ schen Sinne- also mit viel Herz- und mit Kahrs´scher Begrifflichkeit, die W. Kahrs selbst daher leichter konsumieren und im besten Fall sogar „glauben“ kann. Mitunter lassen sich Wörter außerhalb der Kahrs´schen Kanons als Sinnfüllsel nicht vermeiden, Verzeihung.



Moralische Glaubens- Blasphemie

Zur mittelalterlichen Seelen- Verfälschung gehörte es, scheinbar real korrekte Begründungen für die Existenz eines Gottes zu erfinden. Doch da herrschte noch nachgewiesene Denk- Dunkelheit.

Unsere zwangsläufige Seelen- Erlösung findet ihre modernistisch- moderne Inspiration durch tägliche Spiritualitäts- und Religions- Erfahrung. Entgegen der scheinbar dominierenden Blasphemie finden wir unsere spirituelle Glaubens- Begründung in käuflich erwerbbarer Esoterik; in Werten, die ihren auch moralischen Wert eben darin finden, dass sie einen Preis haben. Profitorientierte Herzens- Beschränkung wird durch halb- wissenschaftliche Seelenbotschaften kompensiert. Solche sind: Wachstum, Wohlstand, Demokratie. Real Existierendes wird durch Medienvermittlung als unterhaltendes Unernstes reflektiert. Dagegen wird eigentlich Lächerliches zum Ernsten erhoben. Religion, Spiritualität und Esoterik gerieren ihren Sinn aus ihrem Unsinn. Wer mit dem Herzen denkt, schein- erlöst sich selbst aus verordneter Überlast des Kognitiven- einer Art rationaler Schlagseite- wodurch die Rückbindung (Religion) zum Primitiven gelingen soll. Als moderner Kartoffelmodus erweist und beweist sich zugleich rückbindend an Geschichtliches die outgesourcte Lebensmittel- Industrie.

Grundsätzlich erfahrbar ist dies vorrangig für hungernde Halb- Existenzen in erlösungsbedürftigen Drittwelt- Ländern. Was ihnen dunkel ist, etwa ihre Haut und ihre Zukunft, erhellt- und erhält- uns. Wir geben ihnen Sinn im Kampf um tägliche Existenz, die wir ihnen streitig machen. Unser Preis für diese globale Sinnvergabe ist der reale Sinnverlust unserer eigenen Seelen. Wir geben her, was uns mangelt. Unsere Existenz ist gesichert durch Existenzbedrohung der anderen. Sinnlosigkeit ersetzen wir durch Herzigkeit, die eine eigentlich Halbherzigkeit des Kitsches ist. Der Fernseher kriecht in uns und frisst uns aus. Vorgefertigte Muster- Werte ersetzen individuelles Denken. Dass dies gut und natürlich sei, glauben wir. Unsere Erlösung ist der monetäre Erlös. „Und erlöse uns von den Börsen“ verhallt ungehört in den Plastikverkleidungen der Computer, welche die Börse bestimmen.

Dies ist die voll korrekte Begründung unseres modernistischen Glaubens, welcher in seiner unglaublich musterhaften Wertemoral besteht. Alles wird zum Mittel für keinerlei Zweck. Wie lange werden wir unsere globale Existenz- Dominanz noch behaupten können?
 

Nu pogodi!

René L. Wolf

 

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