Ach, Demokratie! – Die »Marke Demokratie«

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Ach, Demokratie! – Die »Marke Demokratie«
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Ach, Demokratie! – Die »Marke Demokratie«


von Georg Rammer


Es ist erstaunlich, wie viele Menschen als Selbstverständlichkeit akzeptiert haben, daß wir in demokratischen Verhältnissen leben. Wir können ja wählen gehen und ein unabhängiges Gericht anrufen. Wir haben viele Rechte und Freiheiten, um die uns Menschen in manchen Ländern beneiden. Allerdings: Formale Regeln garantieren noch keine Demokratie. Die Grenze der Rechte und Freiheiten im Land des Grundgesetzes liegt offensichtlich exakt da, wo Macht- und Besitzverhältnisse berührt sind – wo es also spannend wird, wenn es um das Funktionieren der Demokratie geht.

Dabei sind die allen demokratischen Grundregeln hohnsprechenden und manchmal auch menschenfeindlichen Machenschaften bekannt, etwa die tödlichen Produktionsbedingungen in armen Ländern für unseren Konsum oder Landraub oder Spekulation mit Nahrungsmitteln. Bekannt ist auch die personelle Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft: Kaum hat ein Politiker die Gesetze zugunsten der Versicherungswirtschaft (oder anderer Branchen) durchgesetzt, wechselt er in die Führung des begünstigten Versicherungskonzerns. Zahllose Gesetze, die von Lobbyisten der Banken und Konzerne formuliert werden. Heimliche Verhandlungen zwischen Regierung und Finanzbranche, mit den Spitzen der »systemrelevanten« Banken; allein der Lobbyist von Goldman Sachs hatte in den letzten Jahren 50 Termine mit Regierungsvertretern. Mit Steuergeldern werden reiche Gläubiger geschützt, nirgends müssen sie ihre Spekulationsverluste selbst tragen.

Damit das nicht allzu bekannt wird, werden die Machenschaften zum Staatsgeheimnis erklärt. Aber ohnehin pflegen auch politiknahe Spitzenjournalisten von Leitmedien beste Verbindungen zur Staatsspitze. Im Kampf »Elite gegen das Volk« (Uwe Krüger) stehen sie klar auf der Seite der Macht und nehmen Einfluß auf die Berichterstattung. Die so gestärkte Herrschaft einer wirtschaftlich-politischen Elite sichert ihr Macht und Besitz. Übrigens definiert die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Oligarchie als »das demokratisch bedenkliche Faktum, daß in manchen Staaten trotz demokratischer Verfassung politische Entscheidungen nur von einem kleinen Personenkreis getroffen werden.«

Längst hat die Ungleichheit den sozialen Rechtsstaat ausgehöhlt. Bei Ungleichheit und Niedriglohn ist Deutschland Spitze in Europa. Man kann nur schockiert die krasse, kalte Bereicherung einer winzigen Minderheit von Superreichen zur Kenntnis nehmen – wie auch die Tatsache, daß das durch die Politik ermöglicht und von den Menschen hingenommen wird. Psychologisch gesehen ist diese Hinnahme von Ungerechtigkeit ebenso erklärungsbedürftig wie die pathologische Gier der Reichen. Die totale Verfilzung von wirtschaftlicher und politischer Macht muß in der real existierenden Formaldemokratie vertuscht werden. Meinungen manipulieren, verheimlichen, lügen – all das ist in der Politik selbstverständlich geworden: TTIP und Kriegseinsätze, NSA und NSU, Bankenrettung und Atomendlager – Geheimhaltung, Vertuschung und Regieren gegen starke Mehrheiten sind in essentiellen Fragen die Regel.

Wie gelingt es den herrschenden Kräften in Politik und Wirtschaft, diese Ungerechtigkeit und Zerstörung als Demokratie zu verkaufen? Wären sie nicht so menschenfeindlich, müßte man es bewundern, wie es der »Elite« immer wieder gelingt, die offensichtliche, erfahrbare Zerstörung der Welt und ihrer sozialen Grundlagen, der Natur ebenso wie der Menschlichkeit, der Werte und der zwischenmenschlichen Gefühle mit »Demokratie« zu assoziieren und dem Ganzen eine positive Bedeutung zu geben. »Wenn man es schafft, eine ungehemmte und deregulierte freie Marktwirtschaft (…) sowie das Recht, sich militärisch oder anderweitig in die inneren Angelegenheiten zahlloser souveräner Staaten einzumischen – wenn man es also schafft, dies alles ›Demokratie‹ zu nennen, dann ist das schon ein echtes Kunststück«, schreibt die Professorin Kristin Ross, übersetzt von Frank Born. Allerdings: Je enger der neoliberale Kapitalismus mit »Demokratie« gleichgesetzt wird, desto grundsätzlicher wird auch die Ablehnung der Demokratie in Krisenzeiten.

Der Hauptgrund dieser »bewundernswerten« Leistung besteht darin, daß im neoliberalen Kapitalismus nicht nur eine marktradikale Ideologie verankert und von der Politik durchgesetzt wurde, sondern daß die ideologischen Grundlagen zu einer Lebensform geworden sind. Daß das Prinzip der kapitalistischen Verwertung nicht nur auf alles, auf Natur und Dienstleistungen und Menschen ausgedehnt wurde, sondern daß es sich in den Köpfen festgesetzt hat. Die meisten Menschen identifizieren sich mit den Regeln von Wettbewerb, Effizienz, Verwertbarkeit. Das neoliberale Ich-Ideal ist der erfolgreiche Markt-Mensch, der sich keiner staatlichen Einschränkung seiner Freiheit zur Bereicherung unterwirft. Steuerhinterziehung wird Bürgerpflicht, besonders für die Reichen. Konzerne und Banken müssen jede Möglichkeit zur Erpressung des Staates zum eigenen Vorteil nutzen.

Das ist die neoliberale Grundordnung, der sich die Spitzen der Politik und Wirtschaft verschrieben haben. Ein »Loser« ist, wer nicht so handelt. Grundrechte werden durch Verbraucherschutz ersetzt, autonome BürgerInnen des Grundgesetzes zu Verbrauchern degradiert. Und so wie sich Erwachsene und Kinder selbst vermarkten (müssen), so wird auch die Demokratie ihres emanzipatorischen Gehalts beraubt und zu einer Marke degradiert. Die halbe Wahrheit ist, daß Politik in den real existierenden Demokratien wie Konzernmanagement betrieben und nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien reguliert wird.

Die andere Hälfte der Wahrheit ist aber, daß die meisten Menschen das als Selbstverständlichkeit verinnerlicht haben. Sie glauben der Politik genauso oder genauso wenig wie der Public Relation eines Konzerns. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dem Statement eines Politikers in der »Tagesschau« und der Werbung für ein Produkt (oder ein Lebensgefühl). Die Glaubwürdigkeit ist in etwa gleich. Die Scheinwelt aus Beschönigung und Lüge, Emotionalisierung und Entpolitisierung ist für viele Menschen von Kindesbeinen an so selbstverständlich wie der Verkehr, das Geld oder Facebook.

Die Politologin Wendy Brown beschreibt, wie der Neoliberalismus die Grundlagen der Demokratie durch Marktkriterien wie Kosten-Nutzen-Verhältnis, Effizienz und Rentabilität ersetzt hat. Jeder Mensch und jede Institution wird nach Verwertungsgesichtspunkten taxiert und bei mangelnder Nutzbarkeit weggeworfen. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer faßt die Ergebnisse einer zehn Jahre dauernden Studie in Deutschland zusammen: In den letzten Jahren sind es gerade die Wohlhabenden, die gut situierten Bürger, die »verrohen«. Sie neigen zunehmend zu menschenverachtenden Auffassungen, denn sie bewerten die Menschen nach ihrer kapitalistischen Verwertbarkeit, nach ihrer Nützlichkeit und Effizienz. Und: »Die geballte Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von oben inszenieren« zeige, daß eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist.

Politik heute ist weitgehend PR für die Marke Demokratie. Genauer gesagt: Regierung und Parteien der »marktkonformen« Demokratie übernehmen die Aufgabe, die legale Basis für die Durchsetzung von Konzerninteressen zu schaffen und durch Geheimhaltung oder Verbrämung dafür zu sorgen, daß dies der Bevölkerung nicht auffällt. Derzeit können wir das besonders gut bei den geplanten Freihandels- und Investitionsschutzabkommen TTIP [hier und hier], CETA und TiSA [hier] verfolgen. Der Ausbau der Konzernherrschaft und die Geheimhaltung haben nicht einmal mehr der Form nach mit Demokratie zu tun.

Menschen ertragen Entwertung, Entrechtung und Entwürdigung nicht lange. Allerdings besteht die Gefahr, daß sie die Lage nicht durch demokratischen Widerstand verbessern wollen, um ihren Menschenrechten Geltung zu verschaffen; rechtsextreme, faschistische Ideologien versprechen eine kompensatorische Stärke und das trügerische Gefühl der Überlegenheit. Das ist die Grundlage des Erstarkens rechtsextremer Gruppen in Europa.

Die real existierende Demokratie schützt nicht Gesundheit und Würde, Freiheit und Integrität der Menschen. »Der Mensch wird als Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann«, schreibt Papst Franziskus im Evangelii Gaudium und fügt hinzu: »Diese Wirtschaft tötet.« Angesichts des Zustandes der Welt und der Demokratie, der Machtverhältnisse und der wilden Entschlossenheit der »Elite«, ihren Besitz und ihre Macht zu sichern, bleibt nicht viel Hoffnung auf eine rationale Lösung nach demokratischen Prinzipien, die endlich der Würde aller und den Menschenrechten zum Durchbruch verhilft. Dies wäre der einzige Weg zu einer Veränderung, die nachhaltig demokratische Verhältnisse garantiert. Gibt es genügend Menschen, die sich ungerechten, unwürdigen und undemokratischen Verhältnissen entgegenstellen? Gewaltfreier Widerstand kann heute eine Form praktizierter Demokratie darstellen.

Literaturempfehlungen:

  • Daniela Dahn: »Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt«, Rowohlt, 174 Seiten, 16,95 €;
  • »Demokratie? Eine Debatte«, mit Beiträgen von Giorgio Agamben, Alain Badiou u.a., edition Suhrkamp, SV, 137 Seiten, 14 €;
  • Karin Priester: »Europa jenseits der Demokratie« (Blätter 4/14);
  • Conrad Schuhler: »Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie« (isw-Report 96)

Georg Rammer

 

 



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 15/2014 > zum Artikel

 

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

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► Bild- und Grafikquellen:

 

1. "Ware" Demokratie ist, wenn Politker den Willen von Konzernen und deren Lobby politisch gesetzlich durchsetzen und sich zum Ausgleich dafür von den Bürgern wählen und bezahlen lassen!" Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress

2. Kapitalistische Demokratie. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

3. Mark Twain: "Es ist leichter die Menschen zu täuschen, als davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind." Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

4. "Ein Herz für Lobbyisten und ihre Günstlinge aus allen Parteien. Herzlichst . . . . die verarschten Wähler." Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

5. "Wenn die Reichen die Armen ausrauben, nennt man es Kapitalismus. Wenn die Armen die . . . ." Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de