Alpträume: Und grausig gutzt der Golz

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Helmut S. - ADMIN
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Alpträume: Und grausig gutzt der Golz
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Und grausig gutzt der Golz


von Wolfgang Eckert


Eines Morgens erwachte ich schweißgebadet aus Alpträumen. Sie saßen mir auf der Brust wie dicke Kröten. Wahrscheinlich, weil ich am Abend vorher Morgensterns »Gruselett« gelesen hatte: »Der Flügelflagel gaustert durchs Wiruwaruwolz, die rote Fingur plaustert und grausig gutzt der Golz.« Überall hörte ich ihn gutzen, diesen Golz, und hinter mir herlaufen. Er hatte mir mit seiner verdrehten Sprache auch die Welt verdreht, und sie war auf seltsame Weise in meine Alpträume gekommen.

Durch die großen Städte der Bundesrepublik sah ich endlose Menschenmassen ziehen, und sie riefen in Sprechchören: »Erich! Erich! Erich!« Und Erich Honecker hangelte sich drüben an der Mauer hoch, winkte ihnen freudig mit einem Grußelement, einem schwarzrotgoldenen Papierfähnchen, zu und wies seine Volksarmisten an, die Mauer abzureißen, damit Walter Ulbricht endlich sein Recht bekam mit seinem Satz: »Keiner hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
 

Wandbild der Künstlerin Birgit Kinder aus 15537 Erkner, südöstl. von Berlin. Bitte besucht ihre Webseite: http://www.birgit-kinder.de/

 

Dies alles sah ich, und der Schweiß perlte mir auf der Stirn, und es vollzogen sich weiterhin die seltsamsten Dinge. Der alte Schalck-Golodkowski kaufte Thyssen und Krupp und die gesamte Autoindustrie für einen Apfel und ein Ei, und sie durften sich nun VEB nennen. Alle Bundesbürger mußten ihre Westmark in den DDR-Sparkassen umtauschen. Eine Westmark war jetzt zwanzig Ostpfennige wert. Die Büroräume des BND und des Verfassungsschutzes wurden gestürmt, und die Bundesbürger verlangten Einsicht in ihre Akten. Listen wurden öffentlich gemacht mit den Namen westlicher Informanten.

Helmut Kohl bat um Asyl in Texas. Angela Merkel beteuerte, sie sei unter Zwang Bundestagsabgeordnete geworden, erfuhr ihre Rehabilitation und durfte nun doch noch Erste Sekretärin des FDJ-Zentralrates werden. Überall bildeten sich Parteilehrjahre, geführt von DDR-Genossen, welche die Bundesbürger umschulten und sie zu dem Geständnis brachten, mitschuldig an der bösen Entwicklung der Bundesrepublik gewesen zu sein und daß sie bisher falsch gelebt hätten. Wenn ein Bundesbürger doch einmal zaghaft einwandte, es sei nicht alles schlecht gewesen, wurde er der Nähe zur CDU bezichtigt.

Die Künstler mußten ebenfalls umdenken. Um überleben zu können, sang Heino, auf einem Klappstühlchen sitzend und einen Teller vor sich, an den Straßenecken »Auferstanden aus Ruinen ...« Den erfolgsgewohnten Finanzminister Schäuble rettete seine graue Eminenz, und er mußte lernen, wie man den Fünf-Jahres-Plan nicht erfüllt, aber als Erfolg meldet. Scharen von DDR-Psychologen entnazifizierten alle NPD-Mitglieder und schulten sie um zu Mitgliedern der Nationalen Front.

Auf den Müllhalden türmten sich Berge der ausgemusterten westlichen Literatur. In den leer gewordenen Regalen standen nun Werke von Marx, Engels und Lenin. An den Straßenrändern winkten die DDR-Bürger, ihre Trabis unter dem Arm, den befreit zu ihnen herüber rollenden Westautos zu. Allmählich setzten sich in der westlichen unterentwickelten Sprache Begriffe wie Druschba, Subbotnik, Datsche, dawai [Los. Beeil dich!] und Komsomol durch. Anstelle der Werbung lasen jetzt regelmäßig Pittiplatsch und Schnatterinchen Ausschnitte aus dem Schwarzen Kanal.

Die Regale in den Supermärkten lichteten sich zusehends und wurden dürftig mit Waren des täglichen Bedarfs und der Reihe »Gesunde Ernährung« ersetzt. Das hieß, die Brötchen schmeckten nun wieder. Ab sofort mußten alle aufgehört habenden Bundesbürger die Maxime der DDR-Bürger befolgen: »So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!« Das verbreitete große Unruhe unter der westdeutschen Bevölkerung, denn man hatte ihnen pausenlos erzählt, daß die DDR-Bürger gar nicht richtig arbeiten können.

Aufrecht saß ich in meinem Bett und hörte draußen Feuerwehrautos mit ihren Martinshörnern zu den zahlreichen Brandstiftungen rasen, hörte, wie Polizeiwagen zu ihren Tatorten unterwegs waren, las in der Morgenzeitung, auf welche Weise man sich gegen Einbrecher sichern kann, las von Überfällen und Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und fühlte, wie ich ruhig wurde.

Endlich hatte alles wieder seine Ordnung. Die Welt kam vom Kopf auf die Beine. Erich lag in seinem chilenischen Grab und Margot begoß seine Blumen. Frau Merkel sang nicht im Blauhemd »Bau auf, bau auf ...«, sondern trug ihre Hosenanzüge aus. Wir hatten unsere liebgewordenen Kriegsschauplätze wieder, über die sich Herr Gauck freute. Und Frau von der Leyen träumte von Tarnkleidung für unsere kleinen Kinderchen in den Militärtagesstätten. Und irgendwo im Wiruwaruwolz gutzte mir Morgensterns Golz mit seinen furchterregend blickenden Augen zu.

Wolfgang Eckert

 



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 4/2015 > zum Artikel

 

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

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1. Trabant heißt die ab 1958 in der DDR im VEB Automobilwerk Zwickau, später VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau, in Serie gebaute Pkw-Baureihe. Als zur Zeit seiner Einführung moderner Kleinwagen ermöglichte er die Massenmotorisierung in der DDR. Während seiner langen Bauzeit wurde er nur im Detail weiterentwickelt, sodass er in späteren Jahren letztlich die Erstarrung der DDR-Wirtschaft widerspiegelte. Relativ große Stückzahlen erreichte von 1964 bis 1991 insbesondere der Trabant P 601, der 1989/1990 zu einem Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands wurde. Ähnlich wie der VW Käfer entwickelte sich auch der Trabant zu einem Kultfahrzeug mit umfangreichem Freundeskreis. (Text: Wikip.)

Wandbild der Künstlerin Birgit Kinder aus 15537 Erkner, südöstl. von Berlin. Bitte besucht ihre Webseite: http://www.birgit-kinder.de/

Foto: Deningures / F. Castiñeira. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

2. Gauckzitat: "Ich hab das Gefühl, daß unser Land eine Zurückhaltung, die in den vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen sollte." Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein". Plakat fotografiert während "Friedenswinter 2014/2015, Berlin". Foto: © arbeiterfotografie.com