Armes Deutschland

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Peter Weber
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Armes Deutschland
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Armes Deutschland


Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Leserbrief, den ein hiesiges Regionalblatt vor kurzem veröffentlicht hat. Er ist eine Erwiderung auf einen Redaktionsbeitrag, der mit einer polemischen Infragestellung und Anzweiflung der Armutssituation in Deutschland quasi eine Verhöhnung der Betroffenen in die Welt gesetzt hat. Wenn man die Statistiken des Armutsberichtes der Bundesregierung kritisch hinterfragt und bezweifeln will, dann doch wohl in der Richtung, ob die tatsächliche Situation nicht schöngefärbt wurde.


© Klaus Stuttmann Karikaturen, Berlin - klick

 

Schließlich bestimmt meistens der Auftraggeber und Geldgeber bei einer Statistik das Ergebnis. Von herrschenden Regierungen werden daher Statistiken meistens so frisiert, daß sie die Fehler und Versäumnisse der Regierenden verschweigen und die Wirklichkeit in deren Interesse krummbiegen. Das zeigen alle vorliegenden bekannten Statistiken hinsichtlich Arbeitslosigkeit, Wachstumsraten, Inflationsraten, Einzelhandelsstatistiken etc. Bei solchen Erhebungen entfernt sich die Fiktion immer weiter von der Lebenssituation der Betroffenen.

Es geht eigentlich doch weniger um die Feilscherei, wie man mit den Anteilen der Vermögenden an der Gesamteinkommenlage rochiert und ob die prozentualen Anteile ein paar Punkte noch oben oder unten verschoben werden sollten -  sondern darum, wie es um die Zunahme der Armut in Deutschland und die Situation der Masse der bedrohten und betroffenen Menschen wirklich bestellt ist. Um dies festzustellen, benötigt man keine hochtrabenden Statistiken, sondern man braucht einfach nur die Augen zu öffnen und über den Tellerrand zu schauen, falls man noch zur Gruppe der glücklichen besser Situierten gehört. Ich habe mal gelesen, daß die Durchschnittsrente im hiesigen Landkreis Cochem-Zell unter 700 € liegt. Wenn ich mir dann noch die gegensätzliche Entwicklung in den letzten 15 Jahren bei Vermögenden und Kapitaleignern im Vergleich zur Einkommenslage des Rests der Bevölkerung betrachte, mir die Absenkung des Rentenniveaus und die systematische Zerstörung unseres Umlagerentensystems anschaue sowie obendrein auch noch die Entwicklung der Steuersätze berücksichtige, dann kann ich mir doch an den fünf Fingern meiner Hand ausrechnen, wohin der Hase läuft. Ganz bestimmt nicht in Richtung einer ausgewogenen, zufriedenen und gerechten Gesellschaft.

Die indirekten Steuern, also die Konsumsteuern wie die MwSt sind gestiegen, was bedeutet, daß die weniger Betuchten aufgrund ihrer wesentlich höheren Konsumrate als die Besserverdiener ständig prozentual höhere Abgaben bei gleichzeitiger Verringerung ihres verfügbaren Einkommens in Kauf nehmen mußten. Gleichzeitig wurden die Vermögenssteuern drastisch gesenkt oder sogar abgeschafft und z. B. der Steuersatz für Kapitaleinkünfte von 45 auf 25 % reduziert, also wesentlich unter den Einkommenssteuersatz, den man einem Normalverdiener abverlangt. Wenn man dann auch noch einbezieht, daß die Nominalsteuersätze von Unternehmen, Kapitaleignern und Reichen niemals in voller Höhe entrichtet werden, denn es gibt tausend Steuerschlupflöcher, die ganz legal ausgenutzt werden können, wird die Sachlage immer noch ungerechter. Aber auch diese ungerechte Privilegierung reicht den Gierigen immer noch nicht, dann sie transferieren einen Großteil ihrer Einnahmen illegal ins Ausland und waschen mit tatkräftiger Mithilfe der Großbanken ihre Gelder weiß. Diese Beispiele könnte ich noch endlos ausdehnen. Jedenfalls kann man aus dem Resultat nur schließen, daß unser Sozialstaat schon seit geraumer Zeit unter Beschuß steht und die Abrißbirne fleißige Arbeit leistet.

Wenn der Verfasser des Ausgangsartikels dann auch noch Äpfel-Birnen-Vergleiche unserer Lebenssituation mit der anderer Länder heran zieht, dann stößt mir das sauer auf. Wollen wir tatsächlich auf Lebensverhältnisse wie in Dritte-Welt-Staaten und im Endeffekt auf ein Wohnen auf Kral-Niveau gedrückt werden, nur weil eine Minderheit sich bereichern möchte? Wozu haben unsere Eltern und Großeltern sich seit über 100 Jahren abgemüht, um unsere Rechte zu stärken, unsere Arbeitssituation zu verbessern und den Lebensstandard anzuheben? Ich dachte immer, daß es unsere humane Aufgabe wäre, den Lebensstandard der Menschen in ärmeren  Regionen an den unseren anzupassen – und nicht umgekehrt. Aber wahrscheinlich bin da etwas naiv.

Als Gipfel der falschen Behauptungen werden dann noch die Klischees vom Sozialismus und Marxismus bemüht. Die Äußerung des Autors läßt erkennen, daß er von diesem Thema aber nicht die blasseste Ahnung besitzt und die Praktiken der ehemaligen kommunistischen Diktaturen mit marxistischem Gedankengut gleichsetzt. Marx war jedoch ein sozialistischer Humanist und hat mit diesen Regimen überhaupt nichts gemein.

Der Autor hat jedoch Recht mit der Aussage, daß jede Gesellschaft sich entscheiden muß, wie viel Ungleichheit sie aushalten will. Kein vernünftiger Mensch – auch keine realistischen Sozialisten, Kommunisten oder Marxisten – werden die Forderung nach einer Umsetzung völliger Gleichheit und Gerechtigkeit aufstellen. Diese ist niemals zu bewerkstelligen – diejenige nach totaler Gleichheit ist noch nicht einmal empfehlenswert, denn das heißt nichts anderes als Gleichmacherei. Wer will das schon? Höchstens die Lobby der Wirtschaftsfeudalisten, die die Masse der Bevölkerung zu einer Herde von Konformisten umerziehen möchten. Aber woran wir mit aller Kraft arbeiten sollten, das ist das Erreichen von relativer Gleichheit und Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft, die das versäumt, ist verloren. Zur Zeit ist allerdings Fakt, daß der Gerechtigkeit nicht genüge getan wird und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht – und das nicht nur bei uns sondern auf globaler Basis!

Zuletzt will ich noch einen Satz  über die rechtfertigende Bemerkung des Redakteurs verlieren, daß wir ja schließlich in einem „wirtschaftlich liberalen und demokratischen Land“ leben würden. Mit der Liberalität hat der Verfasser tatsächlich ein wahres Wort geschrieben, nur haben wir es hier mit einer reinen wirtschaftlichen Freiheit und Liberalität der Märkte zu tun, die auf dem Rücken der Bürger ausgetragen wird. Wer sich im Zusammenhang mit Freiheitsproklamationen ernsthaft die Frage stellt, für was und wen die angeblich vorhandene Freiheit benutzt wird, der wird leicht erkennen, wie es mit der Realität bestellt ist. Es sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, daß nur auf Profit ausgerichtete radikale Marktwirtschaft in Form des Neoliberalismus mit Demokratie nicht kompatibel ist! Nicht umsonst leben wir in Zeiten der Postdemokratie, in der die Strippenzieher mit allen Mitteln versuchen, die demokratischen Verhältnisse zu Gunsten wirtschaftlicher Hegemonie zu zerstören.

Als passende Ergänzung zu meinem Kommentar habe ich einen Aufsatz von Prof. Dr. Christoph Butterwegge auf dessen Webseite gefunden, von dem ich nachstehend einen Auszug bringe:


Ursula von der Leyen oder: Die Wiederentdeckung der Altersarmut
aus: Blätter für deutsche und internationale Politik – Ausgabe Oktober 2012
von Christoph Butterwegge


„Gegenwärtig droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat zu zerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürgerinnen und Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (beispielsweise „Riester-Produkte“ und Kapitallebensversicherungen der Assekuranz). Dagegen stellt der Staat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, überlässt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter.

Fest steht: Altersarmut stellt weder ein Zufallsprodukt noch ein bloßes Zukunftsproblem, sondern eine bedrückende Zeiterscheinung dar, die politisch erzeugt ist. Sie trifft hauptsächlich Opfer der neoliberalen Reformen und Menschen, die für den Wirtschaftsstandort „nutzlos“ sind, weil sie wirtschaftlichen Verwertungsinteressen nicht oder nur schwer zu unterwerfen sind. Armut ist für alte Menschen besonders deprimierend, diskriminierend und demoralisierend, weil ihnen die Würde genommen und ein gerechter Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten wird. Darüber hinaus wirkt Altersarmut als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument, das Millionen jüngere Menschen nötigt, härter zu arbeiten und einen wachsenden Teil ihres mühselig verdienten Geldes auf den Finanzmärkten anzulegen, um durch private Vorsorge einen weniger entbehrungsreichen Lebensabend verbringen zu können.

Lebensstandardsicherung und Armutsbekämpfung sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Nur wenn der Lebensstandard aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand halbwegs gewahrt bleibt, kann Altersarmut für Niedrigeinkommensbezieher verhindert werden. Dies kann am ehesten eine Weiterentwicklung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung integriert ist, sicherstellen.[16] Alle früheren Erwerbstätigen im Alter auf eine steuerfinanzierte Grundrente zu verweisen, hieße dagegen, den sozialen Abstieg vieler Millionen Menschen vorzuprogrammieren.“


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Peter A. Weber