Armes Deutschland: menschenwürdiges Altern kaum noch möglich

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Libra
Libra
Offline
Verbunden: 02.10.2012 - 10:47
Armes Deutschland: menschenwürdiges Altern kaum noch möglich
DruckversionPDF version


Armes Deutschland: "menschenwürdiges Altern" kaum noch möglich


Es ist wirklich entsetzlich, was man über die Organisation von Pflege und Betreuerwillkür lesen kann.

Abgesehen, dass bereits Denunziation durch Nachbarn, Kollegen oder Arztwillkür ausreichen kann, um potentiell zum Betreuungsfall zu werden (da werden Assoziationen zur Stasi- u. NS-Diktatur wach), können auch Missverständnisse zur teilweisen oder vollständigen Entmündigung führen. Der Begriff "Betreuung", wie vieles andere in diesem Bereich, ist nicht nur für Senioren oft irreführend und es scheint fraglich, ob man über Begriffe aufgeklärt wird. Im Allg. versteht man unter einem „Betreuer“ eher eine alltägliche Hilfestellung und vertraut noch auf alten Wertvorstellungen. Doch der geäußerte Wunsch nach einer Betreuung kann schon eine Entmündigung zur Folge haben. Der Begriff „gesetzlicher Vertreter“ wäre daher verständlicher. Entscheiden kann man, wenn man die Dinge richtig einzuordnen weiß. Umso wichtiger ist ein Betreuer, der Fürsprecher und Unterstützer sein kann. Und man kann nur hoffen, dass der Wunsch respektiert wird.

 

 

Es steht zwar geschrieben, dass auch persönlich vertraute Personen als Betreuer agieren können: "Die Bestellung eines Berufsbetreuers ist nicht gerechtfertigt, wenn eine geeignete ehrenamtliche Betreuung Person zur Verfügung steht, … und so die Angelegenheit des Betroffenen eigenverantwortlich rechtlich zu besorgen.“ (Quelle: Bundesanzeiger-Verlag )

"Schlägt der Betreute selbst einen Betreuer vor, so ist das Gericht hieran zunächst grundsätzlich gebunden. Dies gilt auch dann, wenn der Betroffene nicht geschäftsfähig ist, … Dem Gericht steht dann kein Auswahlermessen zu. Nur wenn eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen vorliegt, darf sein Betreuervorschlag vernachlässigt werden" (OLG München, Beschluss vom 06.06.07–33 Wx 73/07)

Doch scheint die Eignung in juristischem Ermessen zu liegen, bzw. ist davon auszugehen, dass diese jederzeit wieder entzogen werden kann. Man kann annehmen, dass dabei kinderlose, unverheiratete Personen schlecht dastehen. Dort könnte der Wunschbetreuer, evtl. ein langjähriger Freund oder entfernter Verwandter, mit fadenscheinigen Begründungen abgewiesen werden. - Dennoch scheint es sinnvoll, die derzeitigen Möglichkeiten zu nutzen und seine Vollmachten wenigstens beim Amtsgericht bzw. Anwalt zu hinterlegen sowie Bekannten davon zu erzählen, viel mehr kann man kaum tun.

Damit sind aber die juristischen, legalen Möglichkeiten der Entmündigung noch nicht ausgeschöpft. In manipulativen Situationen, z. B. Druck durch Juristen, Betreuer und Ärzte, die eine Betreuung initiieren und ausweiten können, sowie Angsterzeugung durch Pflege- und Liebesentzug, kann weiterhin dem Betroffenen leicht vermittelt werden, dass er abgeschottet werden müsse, daher keinen Besuch von Angehörigen, keine Post mehr bekommt oder nicht mal mehr telefonieren kann. Man könnte es auch als eine Form der „Sicherungsverwahrung“ bezeichnen. Ungenügende Empathie, Desinteresse, Antipathien, Zeitmangel sind ohnehin Faktoren, die psychische Grenzüberschreitungen begünstigen. Nicht umsonst haben sich Vereine wie Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter e.V. gegründet.

Zu Maßnahmen muss der Betroffene vorher vom Gericht angehört werden, § 319 FamFG. Doch hier mal ein kurzer Einblick, was hier in Deutschland alles möglich ist:

„Im vorliegenden Fall hat der BGH die Verurteilung eines Amtsrichters für Betreuungssachen wegen Rechtsbeugung bestätigt. Ein Richter hatte in 54 Fällen gegenüber in Pflegeheimbewohnern freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1906 BGB genehmigt und dabei entgegen der ihm bekannten gesetzlichen Vorschriften systematisch auf eine persönliche Anhörung verzichtet, stattdessen vorgefertigte Anhörungsprotokolle erstellt, sowie in 7 Fällen auf diese Weise Anhörungen bereits verstorbener Personen dokumentiert (FamRZ 2009, 1664).“  (Quelle: seniorenwissenschaften.de)

Rechtsbeugung des Betreuungsrichters wegen unterlassener Anhörung, freiheitsentziehende Maßnahmen, ohne sich von der Notwendigkeit zu überzeugen - sicher keine Einzelfälle in der deutschen Rechtsrealität. Als Gründe werden oft Zeitmangel der Juristen angegeben, was auf Grund der Betreuungsbedingungen und der Demographie noch zunehmen dürfte.

Interessant auch der Bericht „Willkür der deutschen Betreuungsmaschinerie“, erschienen 2008(!) bei heise.de: Immer wieder hat sich seit Bestehen des Betreuungsrechts in den letzten 21 Jahren gezeigt, dass die Kontrolle im gesamten Betreuungs- und Pflegebereich völlig unzureichend ist. Professor Volker Thieler, Münchner Anwalt, kämpft seit Jahren gegen das Betreuungsrecht.

"Der Mensch verliert im Betreuungsrecht seine Menschenwürde".

Man kann davon ausgehen, dass noch weitere Jahre ins Land gehen, „Betreute“ manipuliert und diskriminiert werden. Irgendwann wird es allerdings auch viele der heute noch fitten 40er treffen, die mangels Erfahrungen mit dem älter werden dies noch nicht realisieren, bzw. kann es diese Gruppe durch Schlaganfall oder Unfall auch schon früher treffen. Auf Grund der tatsächlichen oder untergeschobenen Defizite ist man dann jedoch nicht mehr im Stande, sich zu engagieren oder zu organisieren.

Etwas Hoffnung in Richtung mehr Respekt (Partizipation) im Allgemeinen. Der Bundesrat will das Wahlrecht behinderter Menschen verbessern - Der derzeitige Ausschluss vom Wahlrecht aufgrund einer Betreuung oder der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bedürfe dringend einer politischen Überprüfung. (Quelle: Bundesrat.de von Jan. 2013)
 



Weiterführende Informationen und Artikel:


TELEPOLIS bei Heise.de: "Willkür der deutschen Betreuungsmaschinerie" - weiter

FAZ.net: Frühkritik: "Wo Gesetze an ihre Grenzen stoßen" - weiter

Institut für Betreuungsrecht: "Wie schütze ich mich vor unliebsamen Betreuern" - weiter

Seniorenwissenschaften.de: Betreuung - weiter

Hauptstadtportal Berlin.de: Organisationseinheit Sozialamt - weiter

Online-Lexikon Betreuungsrecht: Betreuung - weiter