Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft: Im Zweifel für Täter, gegen Opfer

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Ulla Jelpke
Ulla Jelpke
Offline
Verbunden: 17.05.2015 - 13:45
Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft: Im Zweifel für Täter, gegen Opfer
DruckversionPDF version

Im Zweifel für Täter, gegen Opfer


von Ulla Jelpke / Ossietzky


Ein wichtiger Gradmesser für den Stand der Aufarbeitung der NS-Herrschaft ist die Frage der Entschädigung. Die Bundesregierung selbst gibt sich exzellente Noten: »Alle Bundesregierungen seit 1949 waren sich ihrer Verantwortung gegenüber Opfern der NS-Gewaltherrschaft bewußt und haben sich nach Kräften und mit Erfolg bemüht, für das von den Nationalsozialisten begangene Unrecht zu entschädigen«, teilte sie im März 2012 auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion mit. Für eine solche Selbstzufriedenheit gibt es keinerlei Anlaß.

Gerne verweist die Bundesregierung auf das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das eine »Wiedergutmachung« auf individueller Ebene regelte. Es blieb aber beschränkt auf NS-Verfolgte, die ihren Wohnsitz im (früheren) Reichsgebiet hatten – eine Einschränkung, die beim besten Willen nicht der räumlichen Dimension des NS-Terrors entspricht. Leistungen gibt es zudem nur für »NS-typisches« Unrecht, etwa »aus Gründen politischer Gegnerschaft oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung«. Im Behördenalltag der 1950er Jahre waren damit Zehntausende NS-Opfer ausgeschlossen: Sinti und Roma etwa, die das KZ überlebt hatten, bekamen zu hören, daß »Delikte« wie Landstreicherei oder »asoziales Verhalten« ja in jedem Fall bestrafenswert seien, mit Faschismus habe das nichts zu tun. In der Kontinuität antiziganistischer Ressentiments waren sich BRD und DDR, leider, einig. Auch Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Opfer der Wehrmachtsjustiz und so weiter wurden aus dem BEG ausgeschlossen.

Seit den 1980er Jahren hat sich diese Sicht zwar geändert – aber zu spät: Anträge nach dem BEG konnten nur bis 1969 gestellt werden. Danach gab es allenfalls noch »Härteleistungen«, die bis vor wenigen Jahren von einer wirtschaftlichen Notlage abhängig gemacht wurden. Maximal gibt es eine Einmalzahlung von knapp 2500 Euro oder Monatsleistungen von maximal 291 Euro (bis vor wenigen Jahren nur 120 Euro) – für ein von den Nazis verpfuschtes Leben gewiß mehr Symbolik als reale Wiedergutmachung. Von mehreren zehntausend in Gefängnisse und KZ eingesperrten »Asozialen« haben nach Angaben der Bundesregierung lediglich 205 eine »Härteleistung« erhalten.

Wesentlich großzügiger waren deutsche Behörden da bei der Versorgung ehemaliger Wehrmachts- und SS-Soldaten. Die bekommen, wenn sie eine Kriegsverletzung geltend machen, Versehrtenrenten. Erst Ende der 1990er Jahre wurde gesetzlich festgelegt, daß Kriegsverbrecher ausgeschlossen werden. 940.000 Versehrte, darunter 10.000 SS-Freiwillige, wurden geprüft – aber, wie die Bundesregierung einräumte, nur oberflächlich: Der Arbeitsaufwand wäre sonst zu hoch gewesen. Im Ergebnis wurden 99 Personen die Leistungen entzogen. Im Zweifel für die Täter, im Zweifel gegen die Opfer – auch das ist eine Quintessenz der deutschen Entschädigungspolitik.

Entschädigungszahlungen ins Ausland zielten von Anfang an auf das außenpolitische Ziel der »Westintegration« der BRD. Deswegen gingen schon ab 1952 über drei Milliarden DM an Israel und 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference. In den 1960ern folgten Pauschalbeträge an westliche Staaten in Höhe von zusammen 971 Millionen DM. Osteuropäische Staaten – in denen Wehrmacht, SS und deutsche Zivilverwaltung die meisten Verbrechen begangen hatten – kamen als letzte an die Reihe, sie erhielten in den 1990ern sogenannte Versöhnungsstiftungen, die mit 1,6 Milliarden DM ausgestattet wurden. All diese Summen stehen in keiner Relation zum begangenen Unrecht – sie sind Ergebnisse von Verhandlungen und damit Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse. Deswegen zahlt die BRD bis heute die Griechenland von den Nazis abgepreßte Zwangsanleihe nicht zurück, im Gegenwert von mehreren Milliarden Euro.

Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter konnten ab 2001 »freiwillige« Leistungen aus Deutschland erhalten (eine Rechtspflicht will Deutschland partout nicht anerkennen). Hierfür war ebenfalls deutsches Eigeninteresse, vor allem die Exportorientierung, ausschlaggebend: Es gelte, so die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft damals, »Sammelklagen in den USA zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und seiner Wirtschaft den Boden zu entziehen«. Die Antragsmöglichkeiten waren befristet, wer zu spät davon gehört hatte, ging leer aus.

Komplett ausgeschlossen wurden an die 100.000 italienische Militärinternierte. Bis heute ohne Entschädigung sind überlebende sowjetische Kriegsgefangene, nach Jüdinnen und Juden die größte Opfergruppe des Nazi-Rassenwahns. Deutsche Kriegsgefangene hätten von den Russen ja auch nichts bekommen, man wolle hier keine »Einseitigkeiten«, argumentiert die Bundesregierung in schlechtester Totalitarismusdoktrin. Überlebende der unzähligen Massaker, die Wehrmacht und Waffen-SS im Rahmen der »Partisanenbekämpfung« verübten, beziehungsweise Angehörige erhalten ebenfalls nichts – sie haben nach behördlicher Lesart nur ein etwas ruppiges »Kriegsschicksal« erlitten, sind aber keine »typischen« NS-Opfer. Richtig ist: Sie haben keine Lobby, die erfolgreich Druck ausüben kann. Bestenfalls spendiert die Bundesregierung ihnen ein Denkmal – um dann damit anzugeben, wie fabelhaft sie angeblich die NS-Geschichte aufarbeitet.

Ulla Jelpke

 



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 17/2014 > zum Artikel

 

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

Redaktionsanschrift:


Redaktion Ossietzky
Haus der Demokratie und Menschenrechte

Greifswalderstr. 4

10405 Berlin

redaktion@ossietzky.net

http://www.ossietzky.net/


 

► Bild- und Grafikquellen:

 

1. Ursula "Ulla" Jelpke. Von 1990 bis 2002 gehörte sie dem Bundestag (parteiloses Mitglied der PDS-Abgeordnetengruppe). Von 2002 bis 2005 war sie Ressortleiterin für Innenpolitik bei der jungen Welt. Seit 2005 gehört sie für die PDS bzw. Linke wieder dem Bundestag an. Ulla ist Mitherausgeberin des Magazines OSSIETZY. > ihre Webseite.