Bin ich ein Antiamerikaner?

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Helmut S. - ADMIN
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Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Bin ich ein Antiamerikaner?
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Bin ich ein Antiamerikaner?


von Prof. em Dr. Arno Klönne / Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky


Eine geopolitische »Führungsmacht«, deren Regierung immer wieder Feldzüge unternimmt, um andere Staaten zu ruinieren; die geheimdienstlich einen weltweiten Big-Brother-Betrieb unterhält, sich massenmediale Beihilfe für ihre Operationen 'out of area' kauft, zerstörerische »Revolutionen« anzettelt, per Drohne illegal Widersacher tötet, auch Folterungen nicht scheute – wenn ich dieser US-amerikanischen Politik widerspreche, ziehe ich mir hierzulande leicht den Vorwurf zu, ich sei »Antiamerikaner«, ein Feind der »westlichen Wertewelt«, vermutlich ideologisch infiziert von nazistischen Hinterlassenschaften.

Also habe ich daraufhin meinen Lebenslauf überprüft.

Erst mal die Jugendjahre in der Nachkriegszeit: US-Besatzungssoldaten hatten meine Sympathie – jedenfalls die Schwarzen; auf sie war Verlaß, wenn wir als Tramper um Mitnahme baten. Radio AFN brachte für uns Entdeckungen: Endlich Jazzmusik! Upton Sinclair wurde einer meiner Lieblingsautoren, bei ihm war nachzulesen, daß es so etwas wie Klassenkämpfe gibt. Ich erfuhr, daß der 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung seine Herkünfte in der Geschichte der USA hat. Die Historie der »Wobblies« lernte ich kennen, der radikalen US-amerikanischen »Industrial Workers of the World«. Meinen Abituraufsatz habe ich (damals konnte man das Thema noch frei wählen) über Ernest Hemingways Roman »Wem die Stunde schlägt« geschrieben, zum Ärger deutschtümelnder Lehrer, »muß es denn ein Amerikaner sein«, monierten sie.

Dann die Zeit der politischen Opposition gegen den westdeutschen Obrigkeitsstaat und seine Militärsucht: Aus der US-Gesellschaft gewannen wir Impulse, aus der Bürgerrechtsbewegung, aus dem dortigen Protest gegen den Vietnamkrieg. Joan Baez holten wir zum westdeutschen Ostermarsch. Angela Davis wurde ein Vorbild. Und was wären unsere Waldeck-Festivals gewesen ohne den Transfer aus der US-amerikanischen, widerständigen Folklore; die Lieder von Pete Seeger klingen mir bis heute in den Ohren.

Immer noch bin ich begierig auf die Lektüre US-amerikanischer Sozialwissenschaftler, Noam Chomsky beispielsweise oder David Harvey. Da ist viel zu lernen. Und jetzt kommen Berichte aus den USA, wie eine selbstorganisierte Kampagne der Gegner von Rassismus und Gewalt wieder an Kraft zunimmt, sich ausbreitet ...

Bin ich »Antiamerikaner«?

»Die« westliche Wertewelt, politisch präsentiert von den USA und über »Atlantikbrücken« ausgedehnt, Staatsraison auch der Bundesrepublik? Zu welchen »Werten« in der US-amerikanischen Gesellschaft wird mir da ein Bekenntnis abverlangt?

Nationen haben keine kollektive Identität. Keineswegs in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nur in der Propaganda von Machteliten.

»Antiamerikaner«? Bin ich nicht.

Arno Klönne

 


 

kurzes Interview mit Arno Klönne zur Erinnerungskultur 1. Weltkrieg: (Dauer: 4:02 Min.)



Arno Klönne, Ostermarsch 2015, Bielefeld - Wandel braucht Unruhestiftung! (Dauer: 11:21 Min.)


 



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 1/2015 > zum Artikel

 

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

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► Bild- und Grafikquellen:

 

1. Prof. em Dr. Arno Klönne / Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky und Verfasser zahlreicher Bücher, Broschüren und Artikel. Foto: © Arno Klönne privat. Quelle: linkesforum-paderborn.de/


2. Pete Seeger (*3. Mai 1919 - †27. Jan. 2014) während der Eröffnungsfeier zu Barack Obamas Amtseinführung am Lincoln Memorial Washington, D.C., 18. Jan. 2009. Foto: Donna Lou Morgan, U.S. Navy Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Bild ist das Werk eines Seemanns oder Angestellten der U.S. Navy, das im Verlauf seiner offiziellen Arbeit erstellt wurde. Als ein Werk der Regierung der Vereinigten Staaten ist diese Datei gemeinfrei.