Das britische Referendum: Ein großer Tag in der europäischen Geschichte

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Kai Ehlers
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Das britische Referendum: Ein großer Tag in der europäischen Geschichte
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Ein großer Tag in der europäischen Geschichte

von Boris Kagarlitzki / Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau

Aus dem Russischen von Kai Ehlers

Niemand hatte an diesen Sieg geglaubt. Sogar die, die die Kampagne für Großbritanniens Auszug aus der EU angeführt hatten, hatten nicht erwartet, dass am Morgen des 24. Juni 2016 verkündet werden würde, dass die Mehrheit für den Bruch mit der Brüssel’schen Bürokratie und der Politik des vergangenen Viertels des Jahrhundert gestimmt haben würde.

Die britische Entscheidung, sich zurückzuziehen, schickte Sturmwellen über den Kontinent. Die Eliten der Staaten waren verwirrt, die Märkte gerieten in Panik. Euro, Pfund und Öl stürzten ab, die Börsen-Spekulanten waren fassungslos. Die Griechen fühlten sich gerächt für die Art wie sie von der EU behandelt worden waren. Menschen in den benachbarten Staaten diskutierten die Möglichkeit, die britischen Erfahrungen selbst zu wiederholen. Das Bewusstsein der Massen ist an einem Wendepunkt: Was undenkbar schien, was definitiv außerhalb jeder Sphäre der Möglichkeiten zu sein schien, war plötzlich Realität geworden.
 

Die EU-Gegner hatten gewonnen trotz der Tatsache, dass alle herrschenden Eliten vereint für die Erhaltung der herrschenden Ordnung gestimmt hatten. Schottische Nationalisten, irische Republikaner, sogar die Labour Party schlossen sich den regierenden Tories an und argumentierten, dass das Land bei einer falschen Wahl vor einer Katastrophe stünde. Die Mainstream-Medien, nahezu die gesamte politische Klasse, die bekanntesten Intellektuellen und Schriftsteller und die Stars im Sport machten Kampagnen gegen den Exit. Die vertrauten Gesichter im Fernsehen schienen zu einem zu verschmelzen. Und dieses eine verschwommene Gesicht log auf die verschiedenste Weise, überredete, schüchterte ein und schmeichelte den Wählern. Leider stimmte in letzter Minute auch noch Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour Party in diesen Chor mit ein, allerdings mit Vorbehalt. Angesichts einer drohenden Spaltung der Partei gab er unter dem Druck des rechten Flügels nach und sprach vage davon, „in der EU bleiben zu wollen, um sie von innen zu reformieren“.

Solche Aufrufe – und es gab eine Menge davon – sind leer: Jedem ist klar, dass nichts Konkretes hinter den Aussagen steht: Die EU-Institutionen sind exakt dafür geschaffen worden, um sicher zu stellen, das die Grundsätze des Neoliberalismus die verfassungsrechtliche Grundlage der Union bleiben. Wenn man in diese Grundsätze eingreifen würde, würde die Union auseinanderfallen. Die EU-Strukturen sind im Rahmen dieser Logik geschaffen worden und die grundlegenden Verträge von Maastricht und Lissabon beruhen darauf. Zu einer Zeit, in der der Gedanke von einem „Vereinigten Europa“ bedeutete, dass Multis, das Finanzkapital und autoritäre Bürokratie ihre Vorstellungen verwirklichten, waren es nicht Voltaire, Diderot, Garibaldi oder sogar de Gaulle, sondern die Funktionäre der Europäischen Zentralbank (EZB), die die europäischen Werte festlegten.

Aber wie es immer geschieht, arbeitete das System gegen sich selbst. Offensichtlich hat die harte Linie der Politik, der die Bürokratie und die Finanzeliten zustimmten, letztlich das System untergraben.
 

Die Bedeutung dessen, was geschah war für den durchschnittlichen Wähler schon lange bevor die Intellektuellen und die Analysten es realisierten, klar. Auch wenn die meisten nicht alles verstanden, sie fühlten es. Die meisten Briten zeigten, dass sie ihrer sozialen Erfahrung mehr vertrauten, als einem Fernsehbild und Demokratie herrschte über dieser „Spektakelgesellschaft“.

Als die Ergebnisse der Abstimmung zusammengefasst wurde, hat Lexit (Left Leave Campaign), eine Koalition von linken Gruppen, eine Erklärung veröffentlicht: „Es wäre ein großer Sieg für die Labour-Party gewesen, hätte sie beschlossen die Revolte der Arbeiterklasse gegen die Politik der EU zu führen. Aber die Anhänger von Tony Blair haben Jeremy Corbin gezwungen, auf seinen langen Widerstand gegen die EU zu verzichten“.

Im Ergebnis kann man die Abstimmung für den Brexit als Erfolg der Nationalisten sehen und als Rache des englischen Provinzialismus oder einem Versuch, Europa den Rücken zuzukehren. Man kann darauf hinweisen, dass die einzige Partei, die standhaft das Verlassen der EU unterstützt hat, die rechtskonservative UK Independence Party (UKIP) war. Aber gemäß optimistischsten Schätzungen unterstützt nicht mehr als ein Viertel der Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, diese Partei. Mehr noch, als der Exit Tatsache wurde, hatte die UKIP keinen Handlungsplan, kein Programm und keine Parolen.

Die Tatsache, dass viele der Menschen, die in Opposition zur EU stehen, sich entschieden für den Brexit zu stimmen – nachdem die Brüsseler Bürokratie Griechenland am Boden zerstört und gedemütigt hat – wurde bewusst ignoriert. Sie waren gegen die EU, weil sie verstanden, dass die Beseitigung des neoliberalen Monsters die einzige Chance ist, Europa auf den Weg des sozialen Fortschritts und der Demokratie zurückzubringen.
 

Allerdings lautet die Frage nicht, wer von den Linken den Brexit befürwortet hat und wer Geisel des Establishments geblieben ist. Viel wichtiger ist, dass der Mann auf der Straße, der nicht zu den Linken zählt, Klassenbewusstsein meist mehr Fremden gegenüber als Intellektuellen zeigt. So seltsam es klingen mag, die meisten Brexit-Anhänger haben bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Anhängern von Novorussia (abtrünnige Region in der Ostukraine). Bei beiden hier und dort sehen wir einen bizarren Mix von Patriotismus, lokalen Interessen und dem Wunsch nach Wiederbelebung des Wohlfahrtstaates, was alles vor lokalen Eliten und äußeren Bedrohungen beschützt werden muss. In beiden Fällen würden die Menschen eher fühlen als verstehen, dass sie nicht immer die richtigen Worte finden und oft Opfer von Vorurteilen sind.

Es ist jedoch die Aufgabe für Intellektuelle in Volksbewegungen, den Menschen zu helfen, ihre Vorurteile zu überwinden und von einem Fühlen ihrer Interessen zu einem bewussten Verstehen zu bringen. Inzwischen wenden sich in Grossbritannien, wie auch in Novorussia, viele der Linken in Ekel von den „falschen“ Menschen ab, anstatt mit ihnen zu revoltieren. Die Bourgeoisie und die liberalen Eliten sind – sagen wir mal – weit besser gebildet und weit besser mit den Feinheiten eines politisch korrekten Diskurses vertraut als Arbeiter, Bauern und Kleinunternehmer, die kämpfen, um die Marktreformen zu überleben. Früher oder später muss jeder wählen.

Das britische Referendum markiert den Beginn einer neuen Politik in Europa, einer Politik der neuen Möglichkeiten, in denen die Massen eine eigenständige Rolle zu spielen beginnen. Gestern war die Idee, aus der Europäischen Union auszutreten, bewusst aus der Liste der „ernsten“ Möglichkeiten ausgeschlossen, die Anhänger dieser Idee wurden verspottet und ausgegrenzt. Die Tatsache, dass diese „Randerscheinung“ sich der Unterstützung der Gesellschaft erfreut, zwingt uns, unsere Idee darauf zu überprüfen, was möglich oder unmöglich ist in dieser Welt.

Neoliberale Reformer – von Maggie Thatcher zu Anatoli Tschubais – haben immer darauf bestanden, dass die Maßnahmen, die sie durchgeführt haben unumkehrbar sind. Es spielte keine Rolle, was die Leute dachten und wie die Institutionen funktionierten. Entscheidungen seien irreversibel, Reformen unwiderruflich. Jede politische, soziale, wirtschaftliche und gegebenenfalls persönliche Strategie musste von nun an in diesen engen Grenzen ausgebaut werden. Die meisten „seriösen“ linken Intellektuellen und Politiker haben nun ein und dieselbe Denkweise angenommen, weil das Establishment sie sonst nicht als seriös betrachtet hätte. Die Manipulation des Massenbewusstseins durch Propaganda ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Ordnung. Trotz der Intensität der Debatte bleiben aber die wirklich wichtigen Themen außerhalb des öffentlichen Diskurses.

Die Anhänger eines Verbleibens Großbritanniens in der EU beschränkten sich auf schöne Worte über die „Europäische Einheit“ und darauf, die Bürger einzuschüchtern. Die Engländer, die Schotten, die Waliser und die Nordiren wurden von einer Welle der Propaganda erschlagen. Die Anhänger der EU konnten nichts anderes anbieten, als den Status quo beizubehalten.

Die Menschen akzeptierten den Zustand jeden Tag weniger. Das System häufte Probleme an und weigerte sich trotzig, sie zu lösen, weil jeder Versuch, etwas durch Änderung der Entwicklungsrichtung wirklich zu beheben, zu einem bedeutenden Präzedenzfall, zu einem Umkippen des Grundsatzes der Unumkehrbarkeit geführt hätte.

Die britische Abstimmung war ein Wendepunkt, der den Zusammenbruch der kulturellen und psychologischen Barrieren, die die Unveränderlichkeit der neoliberalen Ordnung gewährleisten, kennzeichnen. Dies ist der Beginn einer Veränderung, nicht nur für Großbritannien, sondern für den ganzen Kontinent. Nun ist es unmöglich, die Kritik an der bestehenden Ordnung zurückzuweisen, indem man unterstellt, Alternativen seinen unbedeutend und frivol. Umgekehrt, es wurde festgestellt, dass das, was viele Jahre galt und als Mainstream betrachtet wurde, in Wirklichkeit von der Gesellschaft zurückgewiesen wurde.

Ein erheblicher Teil der Bevölkerung Europas begrüßt nicht nur die Entscheidung der Briten, sondern wird versuchen, sie zu wiederholen. Aufgrund der Maastricht- und Lissabon-Verträge war die EU für lange Zeit zu einem „Gefängnis der Nationen“ geworden und der Brexit hat den Menschen gezeigt, dass es einen praktischen Weg und eine echte Möglichkeit gibt, die EU zu verlassen.

Wie auf einem Plakat zur Unterstützung des Brexit geschrieben steht „Ein anderes Europa ist möglich, eine andere EU nicht.


Boris Kagarlitzki
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Über Boris Kagarlitzki

Autor dieses Textes, Boris Kagarlitzki, ist der heute im Westen bekannteste russische Reformlinke. Seine Stimme hat Perestroika von ihren Anfängen unter Gorbatschow, durch das Chaos bei Jelzin bis in die heutige Putinsche Restauration hinein kontinuierlich begleitet. Er wurde 1958 geboren, schloss sich als Student einer ‚Marxistischen Gruppe’ an, wurde noch unter Breschnjew verhaftet. Er saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Mit einsetzender Perestroika wurde er freigelassen. Seitdem ist er aus sowjetkritischer Position heraus um eine Erneuerung des Sozialismus auf marxistischer Grundlage bemüht. Mit diesen Positionen ist er nicht mehr nur politischer Dissident der UdSSR, sondern unter verdrehten Vorzeichen auch im postsowjetischen Russland.

1990 bis 1993 war Boris Kagarlitzki Mitglied der ‚Sozialistischen Partei Russlands’ und Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets, später Mitbegründer einer ‚Partei der Arbeit’ und Berater des Vorsitzenden des russischen Gewerkschaftsbundes.  Er ist Autor einer Reihe von Büchern, in denen er die Transformation der Sowjetunion im Prozess der globalen Neuordnung von heute analysiert.[siehe Buchtipps weiter unten]

Sein Weg führt ihn dabei von der Analyse der sowjetischen Krise aus der Sicht des kritischen Beobachters (‚Gespaltener Monolith’), über die Dokumentation praktischer Versuche Perestroika von unten her zu demokratisieren (‚Farewell Perestroika’) zu der Erkenntnis, dass Perestroika nicht zur Reform des Sozialismus, sondern zur Restauration kapitalistischer Verhältnisse geführt hat – und sogar führen musste. Mit seinem neuesten Buch ‚Aufstand der Mittelklasse’, das in deutscher Übersetzung zeitgleich und im gleichen Verlag mit dem Buch erschienen ist, das Sie in Händen halten, kommt er zur Erörterung der ‚Mittelklassen’ als möglicher zukünftiger Entwicklungskräfte. Das Buch bringt die Erfahrung aus der Restauration des sowjetischen Sozialismus in die Suche nach einem generellen sozialistischen Neuanfang ein.

Boris Kagarlitzki ist heute Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau, Initiator und verantwortlicher Herausgeber des in Moskau erscheinenden Monatsbulletins ‚Linke Politik’ und Redakteur an der Internetplatform www.RABKOR.ru’ Er schreibt regelmäßig für die ‚Moscow Times’ [1] und ‚Eurasian Home’[2] und ist Mitarbeiter im ‚Transnationalen Institut’(TNI)[3]

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
 


 



Quelle:  veröffentlicht am 29.06.2016 auf meinem Blog www.kai-ehlers.de > Artikel.

[1] ‚Moscow Times’ – die englischsprachige Tageszeitung erscheint seit 1992 in Moskau - weiter.

[2] ‚Eurasian home’ – Webseite für Austausch, Analysen über politisch-ssoziale Veränderungen im eurasischen Raum - weiter.

[3] ‘Transnational Institute’, internationaler ‘think tank’ für progressive Politik, 1973 in Amsterdam gegründet - weiter.

 

       


Bild- und Grafikquellen:

1. GOODBYE: Die britische Entscheidung, sich zurückzuziehen, schickte Sturmwellen über den Kontinent. Die Eliten der Staaten waren verwirrt, die Märkte gerieten in Panik. Die Griechen fühlten sich gerächt für die Art wie sie von der EU behandelt worden waren. Menschen in den benachbarten Staaten diskutierten die Möglichkeit, die britischen Erfahrungen selbst zu wiederholen. Das Bewusstsein der Massen ist an einem Wendepunkt: Was undenkbar schien, was definitiv außerhalb jeder Sphäre der Möglichkeiten zu sein schien, war plötzlich Realität geworden.

Urheber: MIH83 / Maret Hosemann  •  Wietmarschen / Deutschland. Quelle: Pixabay. Alle bereitgestellten Bilder und Videos auf Pixabay sind gemeinfrei (Public Domain) entsprechend der Verzichtserklärung Creative Commons CC0. Das Bild unterliegt damit keinem Kopierrecht und kann - verändert oder unverändert - kostenlos für kommerzielle und nicht kommerzielle Anwendungen in digitaler oder gedruckter Form ohne Bildnachweis oder Quellenangabe verwendet werden.

2. BREXIT TEA: NNOW PANIC AND FREAK OUT. Foto: frankieleon. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

3. TIME TO REVOLT! Foto: Christian Mayrhofer, Wien/A. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

4. FIGHT OR BEG - KÄMPFE ODER BETTLE! Foto: Teacher Dude. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0)

5. NO EU! Die EU ist ein antidemokratisches, bürgerfeindliches und korruptes Regime. Europa ist weit mehr als die EU! JA zu EUROPA! - NO EU! The EU is an undemocratic, resident-unfriendly and corrupt regime. Europa is not merely EU, but rather! YES to EUROPE! Bildidee: Helmut S. Techn. Umsetzung: Wilfried Kahrs.

6. Boris Yulyevich Kagarlitzki, Leiter des Moskauer Instituts für die Erforschung  der Globalisierung und sozialer Bewegungen (IGSO) in Moskau. Foto: Bogomolov.PL Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

7. Buchcover "25 Jahre Perestroika, Bd.1. Gespräche mit Boris Kagarlitzki". Von Kai Ehlers. Gorbatschow and Jelzin. 83 – 96/97: Perestroika, Putsch, Revolte, Übergang in die Restauration. Laika Verlag, ISBN: 978-3-944233-28-4

Welche Lehren zieht die russische Linke aus dem Kollaps des realen Sozialismus? Welchen Einfluss hat sie auf die Entwicklung nehmen können? Welche Alternativen entwickelt sie heute? Für Russland? Über Russland hinaus? "Zehn Monate nach dem tatsächlichen Einsetzen des 500-Tage- Programms wird das ideologische Klima das vollkommene Gegenteil zu dem sein, was es jetzt ist. Liberalismus und Kapitalismus werden verhasster sein als jetzt der Kommunismus."

Das erklärte Boris Kagarlitzki, profiliertester Reform-Marxist des heutigen Russland im September 1990 angesichts des Übergangs von Gorbatschows Reform des Sozialismus zu Jelzins Kurs der Zwangsprivatisierung. In welchem Auf und Ab sich die Verhältnisse tatsächlich entwickelten, zeigen die Gespräche, die Boris Kagarlitzki und der deutsche Russlandforscher Kai Ehlers über einen Zeitraum von 25 Jahren miteinander geführt haben. Sie vermitteln, begleitet von einer vergleichenden Chronologie, einen authentischen Einblick in die inneren Abläufe und die Grundfragen der nachsowjetischen Transformation.

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8. Buchcover "25 Jahre Perestroika, Bd.2.: Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Jelzins Abgang, Putin und Medwedew - ISBN: 978-3-944233-29-1, erschienen August 2015.

Der zweite Band führt mitten in die Krise der Jelzinschen Modernisierung – Separationstendenzen in der russischen Föderation, Tschetschenienkrieg, Aufkommen sozialer Verwüstungen, angesichts derer die Mehrheit der Bevölkerung um ihr Überleben kämpfen muss. Dann Wladimir Putins Ansage, eine »Diktatur des Gesetzes« einführen zu wollen. Das Dilemma einer Opposition, die zwischen Zustimmung zu Putins Ordnungspolitik und Kritik an dem von ihm praktizierten autoritären und zugleich neoliberalen Führungsstil einen Weg zu finden sucht.

Als roter Faden schließlich zieht sich durch die Gespräche die Frage, welche Lehren aus dem Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftsaufbaus für die Zukunft einer sozialistischen, zumindest aber gemeinwohlorientierten, solidarischen Gesellschaft zu gewinnen sind.

97 – heute: Stabilisierung, restaurative Normalisierung, Eintritt in die globale Krise

Wohin brachte uns Perestroika? Was waren ihre Ziele? Wer waren ihre Aktivisten? Wer waren ihre Gegner? Wer war Gorbatschow? Wer Jelzin? Wer ist Putin? Wie liest sich linke Kritik dieser Jahre? Welche Lehren zieht die russische Linke aus dem Kollaps des realen Sozialismus? Welchen Einfluss hat sie auf die Entwicklung nehmen können? Welche Alternativen entwickelt sie heute? Für Russland? Über Russland hinaus?

„In zehn Monaten nach dem tatsächlichen Einsetzen des ‚500-Tage-Programms’ wird das ideologische Klima das vollkommene Gegenteil zu dem sein, was es jetzt ist. Liberalismus und Kapitalismus werden verhasster sein als jetzt der Kommunismus.“ Das erklärte Boris Kagarlitzki, profiliertester Reform-Marxist des heutigen Russland im September 1990 angesichts des Übergangs von Gorbatschows Reform des Sozialismus auf Jelzins Kurs der Zwangsprivatisierung.

In welchem Auf und Ab sich die Verhältnisse tatsächlich entwickelten, ist den Gesprächen zu entnehmen, die über einen Zeitraum von 25 Jahren zwischen Boris Kagarlitzki und dem deutschen Russlandforscher Kai Ehlers geführt wurden. Sie vermitteln, begleitet von einer vergleichenden Chronologie, einen authentischen Einblick in die inneren Abläufe und die Grundfragen der nachsowjetischen Transformation.

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9. Buchcover: "Die Kraft der »Überflüssigen«. Der Mensch in der globalen Perestroika". Pahl-Rugenstein, 2013, ISBN 978-3-89144-463-4

Wir leben in einer paradoxen Zeit: In einer Welt des Überflusses und der globalen Entgrenzung werden immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet oder fühlen sich sogar selbst so. Ein globaler Verwertungsprozess reißt uns aus unseren lokalen familiären, wirtschaftlichen und geistigen Verankerungen und spuckt uns am Ende als menschlichen Müll wieder aus.

Nur wenige Profiteure sind die Nutznießer dieses Vorganges, eine wachsende Mehrheit sieht sich als »überflüssig« ins Abseits gedrängt. Millionen der heute sieben Milliarden Menschen schaffen nicht einmal den Sprung in die Verwertung. Sie bleiben gleich auf den Müllhalden der Zivilisation stecken. Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch lang angelegte strategische Selektion zwischen nützlichen und nicht nützlichen Menschen? Oder eine Revolte der »Überflüssigen«? Aber wie könnte diese Revolte aussehen?

Schauen wir genau hin: Die »Überflüssigen« sind nicht das Problem, das entsorgt werden müsste – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die »Überflüssigen« sind, welche Kräfte in ihrem »Überflüssigsein« liegen. Welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist. Welche Kraft die »Überflüssigen« bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.