Am Ende der Ideologien steht Politikmüdigkeit
. . . . . oder schöne, neue Gumbrecht-Welt
Zunächst verweise ich auf einen bei Frankfurter Allgemeine Blogs am 19.04.2013 veröffentlichten und von Hans Ulrich Gumbrecht verfassten Artikel „Am Ende der Ideologien steht Politikmüdigkeit“. Der Autor wurde 1948 in Würzburg geboren, ist Professor für Literatur an der Stanford University und amerikanischer Staatsbürger.
"Über nichts regt sich der anspruchsvolle Bürger mehr auf als über Politikmüdigkeit. Aber zeigt sie nicht nur, dass wir endlich vom Zeitalter der Ideologien erlöst sind? Wenn die Themen ausgehen in einer halb-privaten Konversation, kann man heute immer auf die Klage über Politikmüdigkeit zurückkommen — und das Gespräch wenigstens bis zum Schweigen nach dem dann schnell sich einstellenden Konsens weiterbewegen. Denn ganz ohne Problem bezieht ja der aufgeklärte Mittel-Bürger des einundzwanzigsten Jahrhunderts (und wer gehörte nicht zu dieser Mehrheit?) eine kritische Beobachterposition außerhalb der Gesellschaft, schreibt sich selbst all die zivilen Tugenden zu, die er leider den anderen absprechen muss – und zeigt sich besorgt.
Bezugspunkt der Sorge sind vor allem die international seit langem zurückgehenden Prozentzahlen der Beteiligung bei transnationalen, nationalen und regionalen Wahlen, aber man kann auch die alltäglichen Gespräche über Politik ins Visier nehmen, die tatsächlich eigenartig müde und sehr selten geworden sind – und (warum nicht?) auch gleich noch die eigene Unterhaltung, in der, wie sie so dahinplätschert, nichts so sehr fehlt wie eine Leidenschaft, an die man sich fast wehmütig erinnert. Vielleicht ist es aber gar nicht so, wie oft unterstellt wird, dass nämlich den Politikern der Gegenwart, die in Deutschland zum Beispiel Merkel, Westerwelle oder Schäuble heißen, eine Aura abgeht, über die ihre Vorgänger vor einigen Jahrzehnten, Brandt und Schmidt, Adenauer und Strauß, ganz natürlich zu verfügen schienen; vielleicht sind die Nachfolger “objektiv,” wenn man das Wort noch benutzen will, gar nicht so schlecht, sondern sehen nur in unseren Augen langweilig aus, in den matten Augen von denen, als deren Vertreter sie im Bundestag sitzen [...]".
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Von der Hypothese ausgehend, dass der „aufgeklärte Mittel-Bürger des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ ja nur eine kritische Beobachterposition außerhalb der Gesellschaft bezöge, fragt man sich, wen Gumbrecht mit „Mittel-Bürger“ meint. Er kann damit lediglich eine Gesellschaftsschicht meinen, die kaum etwas mit den politischen Konsequenzen zu tun hat. Da die gesellschaftliche Mitte ja nun auseinander bricht, scheint es sich eher um das Geplänkel Intellektueller oder Wohlhabender zu handeln. Immerhin zeige sich dieser „Mittel-Bürger“ besorgt. Etwas Reibung und Aufregung belebt ja nun auch die Sinne. Die individuellen Probleme würden sich laut dem anerkannten Professor auf wenige Bereiche beschränken: Krankenversicherung, Kosten und Inhalte der Ausbildung, Steuern, sowie Umweltschutz. Doch leider zeigen seit Jahrzehnten die Klagen in Foren, die zunehmenden politischen Gruppierungen und Statistiken ein anderes Bild.
Die individualisierte Gesellschaft, die durch Zweitarbeitsplätze, Lohndumping und mediale Verwirrungen auf sich selbst zurückgeworfen und mittlerweile überfordert ist, drückt ihre Sorgen und Nöte, ihre Ohnmachten auf verschiedene Weise aus - und in diesem ständigen Nicht-Ernst-Nehmen von politischer Seite liegt die Gefahr, dass neue oder alte Ideologien wieder aufkommen.
Da Gumbrecht die Überlegung ins Spiel bringt „keiner käme mehr auf den Gedanken, selbst Opfer einer Verschwörung zu sein“, fragt man sich, wie die Ignoranz der neoliberalen EU-Technokratie, die Aussprüche bekannter Grüner Politiker und legalisierten Gewalt in Arbeit und Pflege (Betreuermissbrauch, Mobbing, H 4) zu bewerten sind. Sicher ist es kein imaginärer Feind oder eine gezielte Verschwörung einer einzelnen Gruppe mehr, sondern konkreter Machtmissbrauch der sich aus wirtschaftpolitischen Zielen und juristischen Entscheidungen ergibt, sich natürlich im Miteinander spiegelt und somit durch die gesamte Gesellschaft zieht.
Spätestens bei seiner Interpretation „Im großen Ganzen aber sind wir schon zufrieden mit den Politikern, die wir wählen, und werfen ihnen nie vor, die Feinde bestimmter sozialer Gruppen oder gar der ganzen Gesellschaft zu sein… Mehr denn je sind aus der Politikerklasse “Menschen wie du und ich” geworden“, zweifelt man nicht mehr am eigenen Textverstehen, und wäre die Lage nicht so ernst, kann man zu dem Schluss kommen, dass Gumbrecht den ganzen Artikel ironisch provozierend dahingeschmettert hat.
Jeder kann durch die Lektüre eine Vorstellung davon bekommen, wie groß die Lücke der Wahrnehmung ist, die zwischen Intellektuellen, Politikern und Volk besteht. Durch zunehmende Willkür, mangelnde Partizipation (Volksentscheide) und politische „Alternativlosigkeit“ scheint sicher vielen auch ein Mitwirken an den Wahlen als aussichtslos. Die Mehrheit kann sich nur noch an ebenso zunehmender Ohnmacht abarbeiten und zahlt auf unterschiedliche Weise die Rechnungen für politische Entscheide, was die Zahlen der Krankenkassen über psychische Störungen, Statistiken über Mobbing, seit mind. 20 Jahren eine Arbeitslosenquote von 6 Mio., etc. belegen. Das dahinter jeweils ein Einzelschicksal steht, welches an die nächste Generation weitergegeben wird und ein soziales Konfliktpotential in sich birgt, wird komplett ignoriert.
Gumbrecht hingegen zeigt die Illusion einer große Familie, die sich „nur“ an zwei, drei Aspekten stößt. Doch der Eindruck der Politikmüdigkeit kann nur entstehen, wo der Mensch auf Dauer kein Gehör, kein Respekt erfährt und resigniert. Der Bürger ist entmenschlicht zur Zahl in volkswirtschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnungen verkommen „und fast alle sind damit zufrieden.“
Von Politikverdrossenheit kann aber nicht die Rede sein. Die zunehmenden Stimmen zeigen, dass das kritische Bewusstsein für gesellschaftliche Entwicklung nicht ermüdet ist. Im Gegenzug wird jedoch schnell medial und politisch gerade ideologisch gewertet und selbst konservative Ansichten geraten flugs in ideologisch extreme Interpretationen. Der Bürger, der Gedanken wie Sorgen zum Ausdruck bringt, mag den korrekten politischen Terminus nicht beherrschen, doch das mindert seine berechtigte Empörung nicht. Der Fehler der Politik ist es, dies zu ignorieren bzw. abzuwerten.
Eine überdauernde „kollektive Befreiung“ von Ideologien und historischen Wiederholungen wäre die Einführung von Volksabstimmungen auch endlich hier in Deutschland.
Es gibt kein Zeitalter ohne Ideologien
Politikverdrossenheit als hilflose Rückzugsreaktion
Es gibt kaum etwas außer der Gefühlswelt, das nicht politisch ist oder im weitesten gesehen nicht von Politik beeinflußt wird. Das Wort Politik stammt vom griechischen „Polis“ ab, was Stadt bedeutet – also ist Politik das, was die Gemeinschaft der Menschen in der Stadt oder Kommune betrifft. Im Lateinischen gab es den Begriff „res publica“, was öffentliche Dinge heißt – also alles, was sich in der Öffentlichkeit abspielt. Wenn sich das so verhält, dann ist und bleibt es für alle Zeit in der Verantwortung des Menschen, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern und damit politisches Interesse zu zeigen oder sogar politisch aktiv zu werden.