Das Weihnachtswunder von Regensburg: Domspatzen bringen etwas Licht ins Dunkel des Doms

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Wolfgang Blaschka
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Das Weihnachtswunder von Regensburg: Domspatzen bringen etwas Licht ins Dunkel des Doms
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Das Weihnachtswunder von Regensburg


Domspatzen bringen etwas Licht ins Dunkel des Doms


Ein Christmetten-Besucher kam am 24. Dezember 2015 doch sehr ins Staunen, als er in den Programmheften wie von Geisterhand eingelegte Informationsblätter fand, die er in der gotischen Kathedrale nie vermutet hätte. Offenbar gab es heimliche Unterstützer der Aufklärung über dunkle Seiten der Domspatzen-Geschichte, von denen die beiden Flugblatt-Verteiler vor dem Dom nichts ahnten. Es wird wohl auf immer ein Geheimnis bleiben, wem sie diese unerwartete Hilfe zu verdanken hatten. Hier ihre Weihnachtsgeschichte:

Was machen zwei ehemalige Domspatzen ohne familiäre Verpflichtungen, denen man in düsteren Kindheitstagen ihren Glauben gründlich ausgeprügelt hat, an Heiligabend, wenn sie das Bedürfnis haben sich mit den dunkelsten Kapiteln ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen und eine Debatte darüber anzustoßen? Sie bereiten sich selbst eine Weihnachtsüberraschung und stellen sich dem lebenslangen Schmerz, indem sie nach Regensburg fahren, zurück an den Tatort, um die Aufklärung zu befördern. Ihr Plan war so schlicht wie bescheiden, die Christmetten-Besucher mit der traurigen Wahrheit über die trüben Traditionen des Domchors zu konfrontieren und zu informieren über den gegenwärtigen Stand der Aufdeckung jahrzehntelanger Verbrechen an dessen Sängern.
 
Lehrer Helmut Sachenbacher hatte ihnen bereits in der vierten Klasse der Domspatzen-Vorschule in Etterzhausen beigebracht, wie man seine Erlebnis-Schilderung gliedert in Einleitung – Hauptteil – Schluss, und für die Einleitung gab er uns einige weidlich abgegriffene Floskeln an die Hand wie etwa: "Wollt Ihr wissen, wie es mir dabei erging? So höret!" – Also lest und staunt:
 
Es begab sich zu jener Zeit, dass Weihnachten zumindest wettermäßig gar nicht stattfand. Strahlendblauer Himmel wölbte sich über der Domstadt, die sich an diesem Tag von ihrer unwirtlichsten Seite zeigte: Alle Kneipen waren verrammelt, kein noch so verirrtes Schneeflöckchen fiel vom Himmel hoch, und die milden Temperaturen ließen die Verteilung von Flugblättern ohne klamme Finger problemlos zu. Die waren bereits zuvor an langen, dunklen Winterabenden in größerer Anzahl liebevoll kopiert worden, und einer der beiden hatte sich sogar die Mühe gemacht, mit leichten Laubsägearbeiten im Sitzen die adventliche Vorfreude sinnvoll zu steigern, indem er Pressspanplatten für Umhängeschilder zurecht schnitt und sie akkurat mit Löchern für Schnüre versah. Darauf waren unsere Forderungen schon von weitem deutlich zu erkennen: "Ehemals geschlagene Domspatzen fordern: Aberkennung des Monsignore-Titels für den sadistischen Direktor Meier" beispielsweise.
 
Bereits beim Eintreffen am Dom wurden wir misstrauisch beäugt. Ein hemdsärmliger Herr auf den Domstaffeln sprach eifrig in sein Handy, und kurz darauf traf ein Wagen einer Security-Firma ein, dessen Fahrer sich einen Flyer aushändigen ließ und wieder wegfuhr. Das kann freilich alles Zufall gewesen sein, doch an den misstrauischen Reaktionen mancher Besucher der Nachmittags-Vesper konnten wir ablesen, dass es nicht allen gefiel, was wir da taten. Sie wollten von dem Thema nichts wissen, viele andere allerdings sehr wohl. Einer sagte, sein Glauben hätte mit dem Finanzgebaren der Kirche nichts, aber auch rein gar nichts zu tun; er sei bereits vor Jahren ausgetreten aus dem Verein. Seine Frau pflichtete ihm bei. Ein anderer fragte: "Soll ich mich melden?" Er war ein geschlagenes Heimkind, das offenbar wenig Vertrauen ins Bistum setzte. Wir rieten ihm zu, sein Anliegen endlich vorzubringen.
 

 

Schließlich gesellte sich ein "Beinahe-Ettaler" zu uns, der das Glück hatte, dass seine Eltern im letzten Moment davor zurück schreckten, ihn bei den dortigen Mönchen in Obhut zu geben, die ähnlich wie unsere Direktoren und Präfekten ihre Schützlinge auf das Übelste misshandelten. Zumindest ging die Aufarbeitung in Ettal seit 2010 deutlich zügiger voran als im Bistum Regensburg.
 
Während wir uns unterhielten, kam von weither aus dem Domgarten eine Gestalt mit flatternder purpurroter Schärpe in weit ausholend eiligen Schritten in schwarzer Soutane auf uns zu. Ihre wallende Silhouette zeichnete sich vor der Kulisse der beschienenen Fassade von St. Ulrich ab wie die eines hastig getriebenen Zuspätkommers, der jedoch nicht in den Dom zur öffentlichen Chorprobe von "Stille Nacht" stapfte, sondern aus dem Dom heraus und in den grellen Tag hinein – direkt auf uns zu. Wir erkannten ihn zuerst kaum, so forsch er da auflief: Es war der Bischof, Rudolf Voderholzer, der auf uns zustach und uns per Handschlag namentlich begrüßte. Er müsse nun schnurstracks zur Armenküche ins fürstliche Schloss, dort gäbe es eine Verköstigung für Bedürftige. Sprach's und entschwand.
 

 

Wie anders hatte sich doch zu unseren Kindertagen sein Vor-Vor-Vorgänger, auch ein Bischof Rudolf, der totenköpfig anmutende Graber gebärdet! Ihm wäre es niemals in den Sinn gekommen, allein ohne seinen Kastellan, einen würdevoll vor ihm herschreitenden Livree-Träger mit silbern funkelndem Marschallstab, durch die Straßen zu rennen; der kam seinerzeit gesetzten Schleichgangs aus dem Nordportal, sich huldvoll den Bischofsring küssen zu lassen von bigotten alten Damen mit schwarzen Schleiern überm Hütchen.
 
Nachdem wir einen Schwung Zettel an die Herausströmenden verteilt hatten, begaben wir uns auf einen Rundgang durch die wie leer gefegte Altstadt und gingen schließlich über die eingerüstete Steinerne Brücke nach Stadtamhof auf der Suche nach einer Lokalität, die noch geöffnet haben könnte. Tatsächlich fanden wir neben vielen unerleuchteten Kneipenfenstern ein kleines Licht: "Die Klappe".
 
Der Speisenkarten-Aushang schien viel versprechend, doch als wir drin waren, gab es nur Würstel mit Kraut, diese aber umsonst als kleine Weihnachts-Entschädigung für unentwegte Gäste, die erst nach Küchenschluss eingetrudelt waren. Es schmeckte durchaus, reichte jedoch längst nicht hin, die Zeit bis zur 22-Uhr-Mette zu überbrücken. So schlenderten wir durch das abendliche Regensburg, hinter dessen warm erleuchteten Fenstern die Vorbereitungen zur Kinderbescherung längst begonnen haben mussten. Über den menschenleeren Gassen stand ein heller Vollmond hinter schlierigen Wolkenstreifen, die einen Regenbogen-Hof um ihn zauberten.
 

 

Wäre es anfangs der 60-er Jahre nach der CSU gegangen, wäre die westliche Altstadt von einer breiten Verkehrsschneise entlang des Weißgerbergrabens durchschnitten worden. Nur chronischer Geldknappheit und der unermüdlichen Widerstands-Arbeit meines Zeichenlehrers, des Architekten und Stadtrat-Veteranen Klaus Caspers und seiner Mitstreiter von den "Freunden der Altstadt" war es zu verdanken, dass Regensburg heute so stolz seinen zurecht verliehenen Titel "Weltkulturerbe" der UNESCO tragen kann. In Dresden reichte schon die deutlich elbaufwärts situierte Waldschlösschen-Brücke, um die entsprechende Würdigung zu vereiteln.
 
Der gleißende Christbaum vor dem Alten Rathaus lockte ein Pärchen, sich vor ihm zu fotografieren – im Auto sitzend: Christmas to go! Schließlich kamen wir zum Emmeramsplatz, von dem aus wir einen kurzen Abstecher zum Schloss unternahmen. Und siehe da, sie war noch in Betrieb, die "Notstandsküche" des Hauses Thurn und Taxis, von der Bischof Voderholzer gesprochen hatte. Davor stand ein Grüppchen Raucher. Waren wir nicht auch Bedürftige? Wir traten ein, und auch hier gab es wieder Würstel mit Kraut. Am Kopf des Saales wurde "Der dritte Mann" gezittert, und wir genossen Plätzchen und Kinderpunsch. Bald war es soweit.
 
Am Westportal des Doms wartete bereits ein Pulk von Einlass-Suchenden vor verschlossener Tür, die Treppe wimmelte schwarz von Menschen. Wir verteilten wieder unsere Flyer. Viele bedankten sich freundlich, einzelne ganz ehrlich erfreut mit aufmunternden Worten. Wieder andere sahen sich zu Unrecht in Haftung genommen als Eltern derzeitiger Domspatzen.

Wir diskutierten geduldig mit einer Mutter. Als der Andrang nachgelassen hatte, kam plötzlich ein Bäckerdutzend Chorröcke um die Ecke des Südturms. Sie stellten sich als Angehörige des Männerchores zunächst geschlossen gegen unsere Aktion, da doch heute alles ganz anders sei. Wir suchten ihre Befürchtung, Leser unseres Flugblatts könnten nicht unterscheiden zwischen Damals und Heute, zu zerstreuen, doch gelang das nur ansatzweise. Einige kamen ins Grübeln. Sie schienen sich in ihrem Domspatzen-Stolz angekratzt zu sehen. Sie mussten allerdings so eilig wie sie gekommen waren zurück zum Einsingen, das in einer Minute beginnen würde. Schade.
 
Als nur noch Einzelne und auffällig zahlreich englischsprachige Besuchergruppen eintrudelten, wollten wir uns schon auf den Weg zum Bahnhof machen, da kamen abermals zwei Chorrockträger auf uns zu gelaufen und waren deutlich freundlicher. Offenbar als Emissäre vom Domkapellmeister gesandt, luden sie uns ein, zu ihrem Probenraum mitzukommen. Wir sollten uns dort "als Gäste willkommen fühlen" und sogar mitsingen, wenn wir wollten. Das verkniffen wir uns, denn wir wollten dem Wohlklang nicht schaden.
 
Die Orlando-di-Lasso-Messe war uns beim besten Willen nicht mehr geläufig. Domkapellmeister Roland Büchner begrüßte uns herzlich und tat sein Bestes, den Knabenstimmen einen letzten Schliff zur Artikulation zu geben. Er hatte uns bereits einige Tage zuvor zum Weihnachtskonzert in München eingeladen und danach ausführlich mit uns gesprochen. Offenbar brauchte es seine Anweisung, um autoritätsgläubigen Domspatzen die Angst vor uns Ehemaligen zu nehmen. Damit hatten wir nicht gerechnet. Nach zwei Minuten entschwanden wir unauffällig und eilig in die "heilige Nacht", um den Zug nach München nicht zu verpassen, denn Herberge hatten wir keine in petto.
 
Lehrer Sachenbacher wäre zufrieden mit uns gewesen, diese Episode festgehalten zu haben, illustriert sie doch möglicherweise einen Wendepunkt im Verhalten der heutigen Verantwortlichen zu den Vorkommnissen der Vergangenheit. Vielleicht beginnt 2016 eine neue Phase der Offenheit in Regensburg und endlich die Bereitschaft, auf die dunklen Flecken an und unter den Chorröcken zu blicken, ohne von vornherein abwehren und pauschal verdrängen zu müssen.

Vor wenigen Tagen hat Rechtsanwalt Ulrich Weber zur Pressekonferenz geladen, um einen ersten unabhängigen Zwischenbericht zur bisherigen Aufklärungsarbeit des Bistums anzukündigen, das sich in den Jahren 2010 bis 2015 so schwer damit getan hat. Dazu soll sich ein paritätisch besetztes Kuratorium konstituieren aus Vertretern der von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt Betroffenen einerseits und andererseits des Bistums zusammen mit den aktuellen Leitungs-Verantwortlichen der Domspatzen aus Gymnasium, Vorschule, Internaten und Chor.
 
Mal sehen, wieweit Licht ins Dunkel zu bringen ist und die früheren Domspatzen angemessen zu entschädigen sein werden. Ohne deren traumatisiertes Schweigen wären die damaligen Straftäter zweifellos vor Gericht und ziemlich sicher ins Gefängnis gewandert, die Domspatzen-Internate wären möglicherweise polizeilich geschlossen worden. Dann gäbe es den Domchor heute gar nicht mehr.
 
Das wäre gewiss ein kultureller Verlust gewesen, den sich kaum jemand von den ehemals Betroffenen tatsächlich gewünscht hätte. Umso wichtiger ist, dass die Fakten umfassend und rückhaltlos auf den Tisch kommen. Dann muss niemand mehr die ansonsten immer wieder auftauchenden "Gespenster" jener so lange unterdrückten Wahrheit aus einer unaufgedeckten Vergangenheit fürchten.

Wolfgang Blaschka, München
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Der Dom, die Spatzen und der Pfaff

Vergewaltigungen und Prügelstrafen bei den Regensburger Domspatzen - weiter.

Katholische Kirchenkriminalität: Stockschläge und Stoßgebete

Persönliche Erfahrungen eines Regensburger Domspatzenweiter.

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Das Bistum Regensburg steht an der Schwelle zur Aufklärung - weiter.

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Wird das Bistum auch Buße tun? - weiter.


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Informationen über die Ökumenische Arbeits- und Selbsthilfegruppe. Wer sind die "Christinnen mit Gewalterfahrungen"?  - weiter.

 



Sünden an den Sängerknaben - Die Akte Regensburger Domspatzen – SWR (Dauer 44:35 Min.)

 



Bild- und Grafikquellen:

1.  Ehemals geschundene Domspatzen fordern: Aberkennung des Monsignore-Titels für den sadistischen Haupttäter Direktor Meier. Foto: © W-B.  

2. Verbrechen an Schutzbefohlenen durch schwere Körperverletzung in Serie, Stockschläge, sexuelle Ausbeutung, Freiheitsberaubung, Nötigungen, Beleidigungen und Erniedrigungen.

Bildidee: Helmut Schnug. Bildbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de. Bei Verwendung bitte unbedingt Hinweis auf www.Kritisches-Netzwerk.de. Originalfoto: Piers Nye, Oxford/UK. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0). Diese Lizenz gilt auch für das digital veränderte Bild.

3. Rudolf Voderholzer (* 9. Oktober 1959 in München) ist ein deutscher Theologe, Dogmatiker und römisch-katholischer Bischof von Regensburg. Foto: © P-W.

4. Kirchenkriminalität - in der katholischen Kirche erwiesenermaßen seit Jahrhunderten angewandte Methode durch zahllose verhaltenssgestörte Priester und Würdenträger. Auch beim weltberühmten Knabenchor der Regensburger Domspatzen herrschte jahrzehntelang Angst und Furcht vor Prügelstrafen und sexuellen Übergriffen. Bildbearbeitung: WiKa.

5. Regensburg (von lateinisch Castra Regina, auch lat. Ratisbona) ist eine kreisfreie Stadt in Ostbayern. Sie ist Hauptstadt des Bezirks Oberpfalz und Sitz der Regierung der Oberpfalz sowie Sitz des Landrats des Landkreises Regensburg. Seit dem 13. Juli 2006 gehört die Regensburger Altstadt mit Stadtamhof zum UNESCO-Welterbe. Die Stadt hat 142.292 Einwohner (31. Dezember 2014) und steht damit nach München, Nürnberg und Augsburg an vierter Stelle unter den Großstädten des Freistaates Bayern. Foto: © Wolfgang Blaschka (WOB), München.

6. Ehemals geschlagene Domspatzen klagen an: Jahrelange Vertuschung im Bistum Regensburg. Foto: © H-H.

7. Artikelfoto auf der Startseite: Bildidee: Helmut Schnug. Bildbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de. Bei Verwendung bitte unbedingt Hinweis auf www.Kritisches-Netzwerk.de. Originalfoto: Piers Nye, Oxford/UK. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0). Diese Lizenz gilt auch für das digital veränderte Bild.