DDR 1989: Als die Macht auf der Straße lag

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DDR 1989: Als die Macht auf der Straße lag
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DDR 1989: Als die Macht auf der Straße lag


von Olaf Klenke / Marx21.de


Binnen weniger Wochen fiel im Herbst 1989 ein Regime, das über Jahrzehnte unangreifbar schien. Millionen Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Unser Autor erinnert an die letzten Tage der DDR

Es ist der 11. September 1989. Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich. In drei Tagen flüchten 15.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger gen Westen. In Prag und Warschau besetzen tausende Flüchtlinge die westdeutsche Botschaft und erzwingen ihre Ausreise. Es sind vor allem junge Arbeiterinnen und Arbeiter, die dem »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR keine Chance mehr geben.

Die Ausreisebewegung erschüttert das SED-Regime in seinen Grundfesten. Stacheldraht und Mauer werden durchlässig. Jeder Ostdeutsche hat Verwandte, Bekannte und Kollegen, die das Land verlassen. Die Parteiführung reagiert mit Lügen und Verachtung. Die staatlichen Zeitungen berichten von angeblichem Kidnapping. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker verkündet, er trauere den Geflohenen »keine Träne« nach. Immer mehr Menschen verlangen nach Freiheiten. Nachdem Anfang September tausend Protestierende an der Montagsdemonstration in Leipzig teilnahmen, sind es Ende des Monats bereits 8000. Neben der Forderung »Wir wollen raus« rufen immer mehr Demonstranten die trotzige Losung »Wir bleiben hier« und fordern, die gerade gegründete Oppositionsgruppe »Neues Forum« zuzulassen.
 

 

In der Parteiführung werden Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom Juni 1953 wach, als das Regime nur noch durch sowjetische Panzer zu retten war. Die SED-Spitze reagiert auf die Bewegung mit Unterdrückung und lässt den Protest gewaltsam auflösen. Anfang Oktober liefern sich Demonstrierende in Dresden und anderen Städten Straßenschlachten mit der Polizei. Gleichzeitig warnt die Stasi vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben. Es gibt vereinzelte spontane Arbeitskämpfe im Süden der DDR: In Altenberg organisieren 600 Bergarbeiter einen Bummel-Streik um die Wiedereröffnung des Grenzverkehrs über die tschechoslowakische Grenze zu erzwingen.

Als am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag der DDR, in 18 Städten protestiert wird, gehen Soldaten und Polizisten mit Gummiknüppeln und Massenverhaftungen gegen die Demonstrierende und auch gegen unbeteiligte Personen vor. In Plauen, einer Stadt mit 80.000 Einwohnern nahe der Grenze zu Bayern, wird die Polizei jedoch vom Ausmaß der Demonstration überrumpelt. 15.000 Menschen – mobilisiert über wenige Flugblätter und Mundpropaganda – kommen im Stadtzentrum zusammen, ohne zu wissen, was sie genau erwartet. Auch der Einsatz von zwei als Wasserwerfer umfunktionierten Feuerwehrautos hält sie nicht auf. Sie marschieren durch die gesamte Innenstadt und verabreden sich wieder für den nächsten Samstag. Ihre Demonstration ist die erste, die nicht gewaltsam von Ordnungskräften zerschlagen wird. In den Tagen danach verurteilt die Freiwillige Feuerwehr den unsachgemäßen Einsatz ihrer Fahrzeuge. In einigen Geschäften werden Polizisten nicht mehr bedient. Nach dieser Woche der Gewalt steht in Leipzig am 9. Oktober die nächste Montagsdemonstration bevor. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Von dort war der Funke der Proteste ausgegangen. Hier will die SED sie ersticken. In Medien und Betrieben wird vor dem Einsatz der Armee gewarnt. Krankenhäuser stellen Blutkonserven bereit. Aber die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Am Abend ziehen 80.000 Personen durch die Innenstadt und trotzen der Staatsgewalt. Soldaten verweigern wie bereits in den Tagen zuvor ihre Befehle. Die Parteiführung vor Ort schreckt vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Die Bewegung feiert ihren ersten großen Sieg über das SED-Regime.



Die Stasi warnt vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben

Nach dem Durchbruch in Leipzig ist die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. In kleinen Städten prügelt die Polizei noch Proteste nieder. Aber vom Süden her breiten sich die Demonstrationen aus. In den Großstädten nehmen Hunderttausende an den Protesten teil. Anfang November gehen allein in Berlin und Leipzig zusammen eine Million Menschen auf die Straße. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung wird mit den Massendemonstrationen das Gefühl der Machtlosigkeit überwunden. »Wir sind das Volk« wird zum Slogan einer Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend verändern wird. Überall organisieren Aktivisten Diskussionen. Allein zwischen dem 30. Oktober und dem 5. November meldet die Staatssicherheit 230 »politisch geprägte Veranstaltungen mit fast 300.000 Teilnehmern«. Bis zum Januar 1990 werden 250 verschiedene Initiativen anerkannt. Komitees zur Aufarbeitung der Stasi-Gewalt werden gegründet, Häuser besetzt, Galerien und Bars eröffnet, Studierende gründen unabhängige Vertretungen, Frauengruppen eröffnen Cafés und Inhaftierte fordern die Beteiligung an der Gefängnisverwaltung. In den Betrieben erheben Arbeiterinnen und Arbeiter die Forderung nach Demokratie und der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. In einem Berliner Elektronikwerk erreicht eine Wandzeitung mit Diskussionsbeiträgen eine Länge von mehreren hundert Metern. In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte. Der Druck der Straße zwingt die SED zu Zugeständnissen. Das Staatsfernsehen beginnt, über die Demonstrationen zu berichten. Staats- und Parteichef Honecker tritt am 18. Oktober von allen Ämtern zurück. Doch die Menschen misstrauen auch der neuen Regierung und fordern mit dem Slogan »Die Mauer muss weg!« den freien Reiseverkehr.

Am Abend des 9. November kündigt der SED-Funktionär Günter Schabowski im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz die vorgesehene Öffnung der Grenze an. Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung gelte, antwortet Schabowski ohne Wissen über die Vorgabe: »Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.«
 

 

Er beschleunigt damit, was sowieso nicht mehr zu verhindern war. Es versammeln sich Zehntausende an den Grenzübergängen in Berlin und drücken die Absperrungen buchstäblich ein. Mit dem Fall der Mauer verliert die SED die Kontrolle über die Bevölkerung. Enthüllungen über Privilegien der SED-Oberen und deren Versuche, den Machtapparat zu rechtfertigen und Reformen zu verschleppen, heizen die Unzufriedenheit weiter an. Anfang Dezember stürmen Demonstrierende in Erfurt und anderen Bezirksstädten die Stasizentralen. Der Unterdrückungsapparat der SED ist angeschlagen.


In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte

In diesen Tagen liegt die Macht »auf der Straße«. Doch nun geht es auch um die Kontrolle der Betriebe. Auf den Demonstrationen wird gefordert: »SED – raus aus den Betrieben«. Am 3. Dezember tritt die komplette Parteiführung zurück. Am selben Tag treffen sich Vertreterinnen und Vertreter des Neuen Forums, der einzigen landesweit einflussreichen Widerstandsgruppe, um zu diskutieren, wie sie mit den aufkommenden Forderungen nach einem Generalstreik umgehen. Schon in der Woche zuvor fand in der Tschechoslowakei ein zweistündiger Generalstreik statt, der in der DDR mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. In vielen Betrieben wird nun diskutiert, warum man nicht dasselbe macht. Die ersten Betriebsgruppen des Neuen Forums haben sich bereits gegründet.

Das Treffen des Neuen Forums erfährt von einem weiteren Streikaufruf, als eines der führenden Mitglieder verspätet eintrifft. Hans-Jochen Tschiche berichtet von einer Demonstration in Magdeburg mit 100.000 Teilnehmern, die alle von ihm wissen wollten, wie es weitergehen solle. Die Arbeiterinnen und Arbeiter des Großbetriebs Schwermaschinenbaukombinat »Ernst Thälmann« mit 12.000 Kolleginnen und Kollegen wären entschlossen, zu streiken, und fragten ihn, welche Forderungen er vorschlagen würde. Er gibt die Frage an die Sitzung weiter: »Was soll ich ihnen sagen, welche Forderungen sollen aufgestellt werden?«

Eine Streikbewegung wäre der nächste Schritt, um weitere Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Wenn es zu Arbeitsniederlegungen in großen Betrieben im Süden und Berlin käme, dann hätte die Regierung dem nichts mehr entgegenzusetzen. Der Demoslogan »Neues Forum an die Macht« könnte zur Realität werden. Aber die Oppositionsgruppe schreckt davor zurück, die SED zu stürzen und eine Gegenregierung zu bilden. Führende Personen des Neuen Forums lehnen die Forderung als »verfrüht« ab und nehmen stattdessen am »Runden Tisch« mit den Vertretern der alten Macht Platz. Ihr gemeinsames Ziel: Die DDR erhalten. Die Bürgerrechtsgruppen hoffen auf einen »Dritten Weg« einer eigenständigen DDR. Damit stellen sie sich zunehmend ins Abseits. Die Mehrheit der Bewegung hat sich radikalisiert. Sie wollen keine Verhandlungen mit den alten Eliten. Sie wollen den Sturz des gesamten Machtapparates der SED.
 

 

In den ersten Wochen des Jahres 1990 erreicht die Bewegung noch einmal einen Höhepunkt. In Dutzenden Betrieben legen Arbeiter gegen den drohenden Machterhalt der SED die Arbeit nieder. In Berlin stürmen am 15. Januar Demonstrierende die Stasizentrale. Sie rufen »Nieder mit der SED« und fordern den Rücktritt des neuen Regierungschefs Hans Modrow. Mit dem Rücken zur Wand lädt dieser die Bürgerrechtsgruppen zum Eintritt in eine Übergangsregierung ein. Die Bürgerrechtler nehmen das Angebot an, um den Sturz der Regierung zu verhindern.

Weder diejenigen im Neuen Forum, die den Regierungskurs kritisieren, noch die vielen neuen Aktivistinnen und Aktivisten verfügen über die Strukturen, die es bräuchte, um dem eine alternative Führung entgegenzusetzen. So entsteht ein Machtvakuum, das Helmut Kohl in den Folgemonaten ausnutzen kann.

Olaf Klenke

 



Quelle:  erstveröffentlicht bei marx21.de > Artikel

Olaf Klenke wurde durch die Wendebewegung politisiert und beschäftigt sich seitdem mit der Geschichte der DDR. Seine Doktorarbeit hat er über Rationalisierung und soziale Konflikte in der DDR geschrieben. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag.

Herausgeber des Magazins marx21 ist der Verein »m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.«, welcher auch die Webseite marx21.de betreibt. Das Netzwerk versteht sich als Teil der neuen Linken und der globalisierungskritischen Bewegung, die angetreten sind, die Macht der Konzerne zu brechen - weiter

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Bild- und Grafikquellen:


1. Leipzig, Montagsdemonstration: Herbst 1989 Der Karl-Marx-Platz im Zentrum der sächsischen Metropole war Schauplatz zahlreicher Montagsdemonstrationen während der Zeit der Wende in der DDR. Demo am 16.10.1989. Foto: Gahlbeck, Friedrich / Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bild 183) Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0922-002 / CC-BY-SA / Wikimedia Commons.

2. Plauen, Demonstration vor dem Rathaus. In Plauen hatten sich am 30. Oktober 1989 40.000 Menschen vor dem Rathaus versammelt. Die auch aus anderen Kreisen und Bezirken angereisten Teilnehmer dieser Kundgebung drängten auf schnelle Lösungen für herangereifte Probleme. Neben einer Veränderung des Wahlsystems, der Presse- und Reisefreiheit wurde auch die Zulassung der Vereinigung "Neues Forum" gefordert.

Foto: Thieme, Wolfgang / Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bild 183) Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1106-405 / CC-BY-SA / Wikimedia Commons.

3. Deutsche Wiedervereinigung - Jubel an der Mauer. Foto: Percy Germany™ ᵀᴴᴱ ᴼᴿᴵᴳᴵᴻ . Quelle: Flickr. Creative Commons CC BY-NC-ND 2.0

4. Leipzig: Demonstration- Hunderte Bürger waren dem Aufruf des Neuen Forums zu einer Demonstration gegen die Politik von Innenminister Peter-Michael Diestel (DSU) gefolgt. Auf der Kundgebung vor der Leipziger Oper forderten sie die konsequente Aufdeckung aller Machenschaften der ehemaligen Staatssicherheit. Foto: Kluge, Wolfgang. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0528-033 / CC-BY-SA / Wikimedia Commons.