Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Wo das Volk regiert, gehen die Menschen unter!

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Demokratie. Die Herrschaft des Volkes

Thesenpapier: Wo das Volk regiert, gehen die Menschen unter!

von Jörg Bergstedt


Das folgende Thesenpapier bildet des Abschluss des Buches von Jörg Bergstedt: "Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Eine Abrechnung“ (S. 204-206). Erschienen im Verlag SeitenHieb in Reiskirchen (www.seitenhieb.info). Es wurde verfasst am 23. Oktober 2006 in der Projektwerkstatt Saasen.


These 1

Die heutige Debatte über Demokratie ist eine über ihre vermeintlichen Defizite. Mit einer Schwemme von Büchern, Texten und Kommentaren zur Demokratie wird versucht, Fehler im System der Volks-Herrschaft zu finden, zu beschreiben, zu analysieren und zum Teil auch zu beheben. Die meisten AutorInnen fordern eine bessere Demokratie, etliche schlagen ihre eigenen Organisationen als Wegbereiterinnen zu dieser vor. Die Frage, ob nicht das System ,Demokratie’ selbst die Ursache sein könnte, also ob gerade ihr Funktionieren die Konkurrenz zwischen Menschen und Kollektiven, die internen Hierarchien und Abgrenzungen, die ständige Instrumentalisierung und Normierung sowie andere Probleme erzeugt oder verschärft, wird regelmäßig gar nicht gestellt. Das Unterlassen dieser grundsätzlichen Frage ist eine Ausblendung, die auch methodisch alle politischen oder wissenschaftlichen Abhandlungen über Demokratie fragwürdig erscheinen lässt, weil das Spektrum an Antworten künstlich eingeschränkt wird.


These 2

Demokratie beruht immer auf einer handlungs- und entscheidungsfähigen Einheit. Jenseits der teils gravierenden Unterschiede zwischen repräsentativer, direkter, Basis- oder Konsensdemokratie benötigen alle diese Systeme eine klare Abgrenzung derer, die die Entscheidungen treffen (dürfen), von denen, die nicht mitentscheiden dürfen. Es muss für jede Wahl genauso wie für jede Mehrheits- oder Konsensabstimmung geklärt sein, wer abstimmen darf und wer nicht. Folglich beinhaltet Demokratie unabwendbar auch eine Einteilung in Innen und Außen. Diese wiederum erzwingt Gremien oder Mechanismen, die die Grenze zwischen Innen und Außen festlegen. Dieses kann nur dann der später als ,Innen’ geltende, d.h. abstimmungsberechtigte Kreis von Personen sein, wenn er schon vorher wiederum an anderer Stelle definiert wurde – allerdings dann zwingend ohne irgendeine Legitimation des erst mit dem Akt gebildeten Kollektivs.


► These 3

Kollektivbildung und kollektive Entscheidungsfindung erfordern die Bereithaltung von Durchsetzungsmitteln. Diese gewährleisten zum einen die Nichtbeteiligung der Personen, die als Außen definiert wurden. Zum anderen setzen sie die gemeinsamen Beschlüsse nach innen durch und definieren, wann eine zwangsweise Durchsetzung nötig ist und welche Mittel dabei eingesetzt werden. Dabei entstehen neue Privilegien und Methoden der Machtausübung, die in einer horizontalen Gesellschaft völlig verschwinden könnten. Bei der Auswahl der später mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Personen setzen sich Menschen durch, die über höhere Durchsetzungspotentiale verfügen (Alter, Geschlecht, rhetorische Fähigkeiten). Die Erlangung von Ämtern mit formalem Machtpotential verstärkt folglich ungleiche Handlungsmöglichkeiten zwischen Menschen statt Horizontalität und Gleichberechtigung zu fördern. Gremien mit Kontroll- und Regelungsfunktion werden oft mit dem Hinweis auf Faustrecht, eine gewaltbereite Natur des Menschen oder dem notwendigerweise entbrennenden Kampf um Ressourcen legitimiert. Diese Betrachtung überzeugt nicht, da gerade dann, wenn diese Grundannahmen als wahr eingestuft werden, die in abgehobene Gremien aufrückenden Menschen solche Orientierungen mittels ihrer dann bestehenden Privilegien verstärkt ausleben könnten.


These 4

Die genannten zentralen Charakterzüge der Demokratie (handlungs- und entscheidungsfähige Einheit, Innen-Außen-Definition, Durchsetzung eines hergestellten Gesamtwillens – jeweils auch im Wandel der Anschauungen, Diskurse und der sie prägenden Eliten) sind in jedem Typus von Demokratie vorhanden. Die heute diskutierten Formen sind daher gegenüber der dominanten Variante der repräsentativen Demokratie nur Abweichungen im Detail. Zudem bieten sie – jeweils ohnehin nur im Detail - nicht nur zusätzliche Beteiligungsmöglichkeiten, sondern schaffen auch neue Gefahren. So verschärfen jene Reformvorschläge, die eine größere Mitwirkungskraft der Einzelnen im kollektiven Entscheidungsgang vorsehen, die Herausbildung der kollektiven Einheit und der notwendigen Grenzziehung zwischen dem Innen und Außen, indem sie über die ständige Einbindung der Einzelnen in den gemeinsamen Entscheidungsprozess das ,Wir’-Gefühl steigern und das klare, oppositionelle ,Nein’ unter Androhung des Ausschlusses aus dem ,Innen’ gestellt ist.


These 5

Abstimmungen und Wahlen gehören in allen Formen der Demokratie zu den wichtigsten Elementen. Entsprechend sind die Abläufe stark ritualisiert und verregelt. Propagandistisch werden solche Ereignisse als besonders entscheidende Vorgänge in der Praxis von Gemeinschaft aufgeladen. Das zieht eine starke Fixierung auf diese zentralen Akte kollektiver Entscheidungsfindung nach sich, die eine fehlende Selbstorganisierung von Menschen verschleiern und horizontale Begegnung zum unwichtigen Nebenereignis abstempeln.


These 6

Mit dem Bezug auf den Gesamtwillen als moralisch höherwertige Quelle von Handlungsnormen ist die Demokratie eine Weiterführung religiöser Orientierungen. Das Volk tritt an die Stelle des Gottes und wird nun als Ausgangspunkt des Guten und Machtvollen benannt. Wie beim Bezug auf Gottes Wort wird der Wille des Volkes bzw. das demokratisch Legitimierte als das Gute vom anderen, dem Bösen abgegrenzt. Das Böse kann bekämpft werden. Zudem erhielten und erhalten in religiösen Gemeinschaften einzelne Personen und Gremien eine große Machtfülle aus der Behauptung, im Namen des höheren Willens (Gott oder eine andere transzendente Quelle) zu sprechen. In gleicher Weise beziehen sich heutige Regierungen, VolksvertreterInnen, RichterInnen und andere auf das Volk als höheren Willen. In beiden Fällen steigert der Glaube an die höhere Instanz die Bereitschaft zur Unterwerfung bei denen, die nicht im Namen des Höheren auftreten.


These 7

In ähnlicher Weise wie sich die Typen einer Demokratie nur im Detail unterscheiden, sind auch Monarchie, Diktatur und die Demokratie lediglich verschiedene Formen von Organisierung und Steuerung kollektiver Systeme bei weitreichender Übereinstimmung der wichtigsten Merkmale. So existieren Recht und Rechtsprechung, Polizei und Armeen, Eigentumssicherung und nationale Abgrenzung, Verwertungs- und Profitzwang in allen bestehenden Gesellschaftsformationen. Die Gewaltenteilung ist überall eine reine Fiktion und wird propagandistisch erzeugt. Zwar kann die Freizügigkeit für die einzelnen Menschen sehr unterschiedlich gestaltet sein. Das ist aber weniger davon abhängig, ob es sich um eine Demokratie, Monarchie oder Diktatur handelt, als vielmehr davon, welchen Grad autoritärer Zuspitzung das jeweilige System entwickelt. Der zentrale Unterschied zwischen den Systemen reduziert sich auf den Mechanismus, wie die Ausführenden der Herrschaft ausgewählt werden.


These 8

Die konkreten Strukturen der bestehenden Demokratien in Staaten, Institutionen, Verbänden und sozialen Zusammenhängen weisen zudem stark oligarche Züge auf. Die Führungspositionen, seien sie durch formalisierte Vorgänge besetzt oder als herrschende Elite informell entstanden, können nicht gleichberechtigt von allen Menschen eingenommen werden. Mehrfach gestufte Verfahren bei der Auswahl von EntscheidungsträgerInnen machen direkte Mitsprache und horizontale Organisierungsmodelle unmöglich. In vielen Fällen sind Hierarchien und Stellvertretung sogar durch Gesetze vorgeschrieben, z.B. in Partei-, Vereins- und Wirtschaftsgesetzen. Demokratie ist daher im Wesentlichen eine Oligarchie, in der sich vor allem die Mechanismen der Auswahl Weniger geschichtlich gewandelt haben.


These 9

Eine Alternative entsteht erst dann, wenn zentrale Steuerung, Kontrolle, Repräsentation und kollektive Einheit als solche in Frage gestellt werden. Angesichts der Fülle offener und versteckter Dominanzen in jeder kollektiven Entscheidungsstruktur kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur als offenes System entwickelt werden, in dem sich Menschen horizontal, ohne formale, feststehende Regeln oder anders verfestigte Privilegien begegnen. Eine solche Gesellschaft wäre eine Vielfalt, die schon deshalb nicht als Kollektiv handlungsfähig wäre, weil es keine Legitimation gäbe, im Namen des Ganzen aufzutreten und für alle zu sprechen.


These 10

Der Weg zu einer solchen offenen und horizontalen Gesellschaft bestünde aus einer Vielzahl und Vielfalt von Experimenten, in denen auf kleinem Raum oder in sozialen Netzen, die Teil des offenen Ganzen wären, die Prinzipien von kollektiver Einheit, zentraler Steuerung und Privilegien abgeschafft würden. Bestandteil solcher Experimente sollte der horizontale Zugriff auf alles Wissen und alle Ressourcen sein, gleichzeitig aber sollte der Rahmen so offen sein, dass sehr unterschiedliche Versuche gleichzeitig gestartet werden können. Mit dieser Umsetzung visionärer, d.h. über heutige Handlungsformen hinausweisender Ideen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Ansätze durch ein konkretes Tun und Reflektieren der Erfahrungen muss eine widerständige Orientierung verbunden sein. Sie muss sich notwendigerweise gegen kollektive Identität, kollektive Handlungsweise und Stellvertretung, ebenso aber auch gegen jede zentrale Kontrolle und Steuerung richten. Widerstand und Vision, Praxis und Theorie verschmelzen so zu einer voranschreitenden Strategie gesellschaftlicher Intervention.

Text: Jörg Bergstedt
 



Quelle:  Projektwerkstadt.de


Etliche Texte und Zitate zur Demokratiekritik gibt es unter  www.demokratie-total.de.vu

 

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Peter Weber
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Demokratie als verkappte Oligarchie

Die Demokratie als verkappte Oligarchie
 
und Fassade für autoritäre Herrschaftsausübung
 
„Wo das Volk regiert, gehen Menschen unter!“ Dies ist die provokativste These von Jörg Bergstedt. Er beschreibt für meine Begriffe sehr einleuchtend, warum alle Versuche einer Reform der bestehenden Demokratie zum Scheitern verurteilt sind. Im folgenden Text steht  "J. B."  für ein Zitat Jörg Bergstedts:
 
J. B.: „Die meisten AutorInnen fordern eine bessere Demokratie, etliche schlagen ihre eigenen Organisationen als Wegbereiterinnen zu dieser vor. Die Frage, ob nicht das System ,Demokratie’ selbst die Ursache sein könnte, also ob gerade ihr Funktionieren die Konkurrenz zwischen Menschen und Kollektiven, die internen Hierarchien und Abgrenzungen, die ständige Instrumentalisierung und Normierung sowie andere Probleme erzeugt oder verschärft, wird regelmäßig gar nicht gestellt.“
 
Ich sehe das ähnlich, denn wer auf der Suche nach einer menschlicheren Zukunft nur bei Reparaturarbeiten an einem verkorksten System stecken bleibt, der wird ewig auf der Suche sein und sein Ziel niemals – auch nicht annähernd – erreichen. Wer nicht in seinem Denken über den Tellerrand hinausschaut, um grundlegend neue Wege auszumachen, der wird in der abgeschmeckten Suppe ertrinken. Keine wirklich revolutionierende Entdeckung wurde je gemacht, ohne daß der Entdecker Visionen hatte und sich über die Normen und gängigen Vorstellungen hinweg gesetzt hätte. Gewiß gab es auch bahnbrechende Neuerungen, die aus Zufall entstanden sind. Aber bezüglich der Weiterentwicklung von Wirtschafts-, Gesellschaftssystemen und Kulturen sollten wir lieber nicht dem Zufall vertrauen.
 
J.B.: „Mit dem Bezug auf den Gesamtwillen als moralisch höherwertige Quelle von Handlungsnormen ist die Demokratie eine Weiterführung religiöser Orientierungen. Das Volk tritt an die Stelle des Gottes und wird nun als Ausgangspunkt des Guten und Machtvollen benannt. Wie beim Bezug auf Gottes Wort wird der Wille des Volkes bzw. das demokratisch Legitimierte als das Gute vom anderen, dem Bösen abgegrenzt. Das Böse kann bekämpft werden. Zudem erhielten und erhalten in religiösen Gemeinschaften einzelne Personen und Gremien eine große Machtfülle aus der Behauptung, im Namen des höheren Willens (Gott oder eine andere transzendente Quelle) zu sprechen. In gleicher Weise beziehen sich heutige Regierungen, VolksvertreterInnen, RichterInnen und andere auf das Volk als höheren Willen. In beiden Fällen steigert der Glaube an die höhere Instanz die Bereitschaft zur Unterwerfung bei denen, die nicht im Namen des Höheren auftreten.“
 
Dieser Vergleich des Volkswillens in einer Demokratie mit religiösen Gottesvorstellungen ist äußerst treffend. Genauso wie der Wille Gottes in der Geschichte von den Herrschenden stets mißbraucht wurde, um ihre egoistischen Machtinteressen voran zu bringen, wird heute der sog. Volkswille zum Spielball von Deutungen der verschiedensten Art:
  • Wenn z. B. bei einer Wahl keine wirkliche Auswahl zwischen echten Alternativen von Parteien und geeigneten Persönlichkeiten besteht, wie es in den modernen „Demokratien“ gängige Praxis ist, dann kann auch der Volkswille unmöglich zum Ausdruck kommen. 
  • Und wenn Umfragen und Statistiken zu allen möglichen Fragen und Tatbeständen verfälscht und gemäß den Interessen des Auftraggebers manipuliert werden, dann hat der auf diese Weise erzielte Aussagewert nicht mehr das geringste mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu tun.
  • Wenn dann Propaganda und Werbung, die aufgrund der damit verbundenen enormen Kosten fast ausschließlich von Kapitalkräftigen und ihren Handlangern betrieben werden kann, eine effektive Strategie zur Gehirnwäsche ausmacht, dann werden demokratische Strukturen konterkariert.
  • Wenn dann darüber hinaus auch noch ein Großteil der Medien das böse Spiel der Mächtigen und des Kapitals mitspielt, dann ist eine unabhängige und kritische Meinungsbildung, die die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie darstellt, einfach nicht herstellbar.
J. B.: „In ähnlicher Weise wie sich die Typen einer Demokratie nur im Detail unterscheiden, sind auch Monarchie, Diktatur und die Demokratie lediglich verschiedene Formen von Organisierung und Steuerung kollektiver Systeme bei weitreichender Übereinstimmung der wichtigsten Merkmale. So existieren Recht und Rechtsprechung, Polizei und Armeen, Eigentumssicherung und nationale Abgrenzung, Verwertungs- und Profitzwang in allen bestehenden Gesellschaftsformationen. Die Gewaltenteilung ist überall eine reine Fiktion und wird propagandistisch erzeugt.“
 
Auch diese Aussagen Bergstedts kann ich teilen. Wer nur ein wenig kritisch hinter die Fassaden des aufgebauten Potemkinschen Dorfes blickt, der wird sofort erkennen, daß unsere vielgepriesene Gewaltenteilung nur eine Schimäre ist, die aus den hohlen Worten unserer Politiker schallt.
 
J. B.: „Demokratie ist daher im Wesentlichen eine Oligarchie, in der sich vor allem die Mechanismen der Auswahl Weniger geschichtlich gewandelt haben.“
 
Die Demokratie präsentiert sich uns dabei als eine verkappte Oligarchie, die nur dem Namen nach die Interessen des Volkes vertritt. An dieser Stelle besteht Anlaß, einmal auf die sog. „Erfinder“ der Demokratie zu verweisen. Meistens wird bei dem glorreichen Andenken an die antike griechische Kultur als Wiege des Abendlandes sowie Demokratie geflissentlich übersehen, daß es sich dabei in keiner Weise um eine lupenreine Demokratie gehandelt hat. Nur die herrschende Bürgerklasse besaß die Privilegien eines freien Bürgers mit Mitbestimmungsrechten und dem Vorrecht des Faulenzens und Philosophierens. Denn für den damaligen „freien Bürger“ war körperliche Arbeit verpönt, die man lieber dem Pöbel, den Unfreien und Sklaven überließ. In den griechischen Stadtstaaten und Königreichen sowie im späteren Römische Reich waren die freien Bürger in der Unterzahl – und diese wären ohne die Arbeit ihrer rechtlosen Knechte und Sklaven hilflos und mittellos gewesen.
 
J. B.: „Angesichts der Fülle offener und versteckter Dominanzen in jeder kollektiven Entscheidungsstruktur kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur als offenes System entwickelt werden, in dem sich Menschen horizontal, ohne formale, feststehende Regeln oder anders verfestigte Privilegien begegnen.“
 
Diese Theorie ist zwar bestechend und nicht zu widerlegen. Aber sie besitzt einen gewaltigen Haken, der in der einfachen Frage gipfelt: Wie kann man denn praktisch ein solches offenes System entwickeln und umsetzen und die in der Natur des Menschen verankerten negativen Impulse umgehen?
 
J. B.: „Der Weg zu einer solchen offenen und horizontalen Gesellschaft bestünde aus einer Vielzahl und Vielfalt von Experimenten, in denen auf kleinem Raum oder in sozialen Netzen, die Teil des offenen Ganzen wären, die Prinzipien von kollektiver Einheit, zentraler Steuerung und Privilegien abgeschafft würden. Bestandteil solcher Experimente sollte der horizontale Zugriff auf alles Wissen und alle Ressourcen sein, gleichzeitig aber sollte der Rahmen so offen sein, dass sehr unterschiedliche Versuche gleichzeitig gestartet werden können. Mit dieser Umsetzung visionärer, d.h. über heutige Handlungsformen hinausweisender Ideen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Ansätze durch ein konkretes Tun und Reflektieren der Erfahrungen muss eine widerständige Orientierung verbunden sein. Sie muss sich notwendigerweise gegen kollektive Identität, kollektive Handlungsweise und Stellvertretung, ebenso aber auch gegen jede zentrale Kontrolle und Steuerung richten. Widerstand und Vision, Praxis und Theorie verschmelzen so zu einer voranschreitenden Strategie gesellschaftlicher Intervention.“
 
Mit diesen Erläuterungen versucht uns Jörg Bergstedt eine Handlungsanweisung auf die von mir oben gestellte Frage zu geben. Aber die Anweisungen bleiben in der Theorie stecken und helfen dem Individuum in seinem Alltag nicht im geringsten weiter. Wer nicht auf die Natur und den Charakter des Menschen eingeht und sich mit sozio-psychologischen Problemstellungen auseinandersetzt und als Schlußfolgerung daraus nicht klare und für jeden nachvollziehbare Schritte aufzeigt, der offenbart sich nur als einer der vielen guten Theoretiker und Ratgeber, die die bestehenden Verhältnisse noch nicht einmal ankratzen!
 
Ich frage mich, wie eine „widerständige Orientierung“ entstehen soll, wenn das Volk unter allgemeiner Verdummung und Motivationsmangel leidet. Ein Volk, das Weltmeister in der Verdrängung und Rationalisierung geworden ist, sich von irrationalen Ängsten hat vergiften lassen und sich ein konformes Herdenverhalten zugelegt hat, ist nicht leicht zum Widerstand zu erziehen. Wenn dieses Volk auch noch durch jahrhundertlange Prägung zu Untertanen verbogen wurde, die jeder Autorität nachlaufen, dann überkommt mich persönlich die Ratlosigkeit. 
Tut mir leid, Jörg Bergstedt in Ehren, aber viel weiter hilft er uns nicht. Da bleiben uns nur die bekannten und im KN ständig wiederholten Empfehlungen, daß jeder für sich persönlich das für ihn Einsichtige und Machbare in die Tat umsetzt, wie:
  • Bei Wahlen das Kreuzchen mal an einer anderen Stelle zu plazieren – mein Rat: über das ganze Wahlformular hinweg.
  • Beim Konsum kritisch zu hinterfragen und strenge Kriterien anzulegen.
  • Den Energieerzeuger zu wechseln und nur noch 100 %ig regenerativer Anbieter zu wählen. Diese Maßnahme ist effektiver als die Beteiligung an hundert Demos.
  • Überall wo man geht und steht, den Mund auf zu machen. Mit dem Motto der Kölner Musikszene „ Arsch huh, Zäng ussenander“ kann ich persönlich z. B. sehr viel anfangen – und es macht mir regelrecht Spaß, dieses lebensnah umzusetzen.
 
 
Peter A. Weber
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Johannes Heinrichs
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Gefährliches Halbdenken über Demokratie

 

Gefährliches Halbdenken über Demokratie

 

Im folgenden ersten Teil meiner Erwiderung auf Peter Webers Stellungnahme zu Jörg Bergstedts Thesen stehen die Kürzel "P.W." und "J.B." für diese beiden Namen. Im zweiten Teil werde ich dann direkt Gegenthesen zu Bergstedt formulieren.



Teil I: Die Stellungnahme Peter Webers zu Jörg Bergstedts Thesen


J. B.: „Die meisten AutorInnen fordern eine bessere Demokratie, etliche schlagen ihre eigenen Organisationen als Wegbereiterinnen zu dieser vor. Die Frage, ob nicht das System ,Demokratie’ selbst die Ursache sein könnte, also ob gerade ihr Funktionieren die Konkurrenz zwischen Menschen und Kollektiven, die internen Hierarchien und Abgrenzungen, die ständige Instrumentalisierung und Normierung sowie andere Probleme erzeugt oder verschärft, wird regelmäßig gar nicht gestellt.“

P. W. „Ich sehe das ähnlich, denn wer auf der Suche nach einer menschlicheren Zukunft nur bei Reparaturarbeiten an einem verkorksten System stecken bleibt, der wird ewig auf der Suche sein und sein Ziel niemals – auch nicht annähernd – erreichen. Wer nicht in seinem Denken über den Tellerrand hinausschaut, um grundlegend neue Wege auszumachen, der wird in der abgeschmeckten Suppe ertrinken. Keine wirklich revolutionierende Entdeckung wurde je gemacht, ohne daß der Entdecker Visionen hatte und sich über die Normen und gängigen Vorstellungen hinweg gesetzt hätte. Gewiß gab es auch bahnbrechende Neuerungen, die aus Zufall entstanden sind. Aber bezüglich der Weiterentwicklung von Wirtschafts-, Gesellschaftssystemen und Kulturen sollten wir lieber nicht dem Zufall vertrauen.“
 
Ich gehöre nun zu denen, die eine bessere Demokratie fordern, aber eine sprunghaft von innen her und mit rechtlichen Mitteln revolutionierte. Sind das bloße „Reparaturarbeiten“? Ich gehöre darüber hinaus zu denen, Peter Weber, die eine revolutionierende Entdeckung gemacht haben (1975 in meinen ersten Frankfurter Vorlesungen an der Jesuitenhochschule die Reflexions-Systemtheorie der Gesellschaft, vertieft 1994 durch die Einsicht, dass die in der Gesellschaft vorhandenen Reflexionsstufen = Wertstufen = Subsysteme durch Teilparlamente mit getrennten Wahlen realisiert werden können) -  und sich von „Radikalen“ wie Bergstedt und vielen lauen Reformisten und solchen, denen die intellektuelle Auseinandersetzung mit diesem Konzept (trotz vielfacher Aufbereitung) zu mühsam oder angeblich zu utopisch ist, im Regen stehen gelassen fühlt.

Wenn man über Äpfel diskutiert und dabei allein von unreifen oder verfaulenden Exemplaren ausgeht, fällt diese Diskussion über Äpfel im Allgemeinen notwendig vernichtend aus. Sie sagt aber nichts über Äpfel aus, sondern nur über den falschen Begriff von Äpfeln. Dass unsere gegenwärtige Demokratie sowohl unreif ist, nämlich nur ein historischer Anfang vom Gemeinten, wie zugleich eine Verfallsform der viel versprechenden Anfänge darstellt, habe ich in meinem Buch „Revolution der Demokratie“ von 2003 (Kurzfassung „Demokratiemanifest“, 2005) schon einleitend dargestellt, um dann aber zur konstruktiven Weiterentwicklung überzugehen. Das Konzept wurde in diesem Netzwerk schon mehrfach vorgestellt.  

Letztlich verstehe ich Demokratie als die rechtlich-politische Form einer „kommunikativen Gesellschaft“, also einer Gesellschaft, die – im Unterschied zu ganz kleinen Gemeinschaften – nicht auf förmliche Rechtsregeln verzichten kann. Diese sollen jedoch aus der kommunikativen Gegenseitigkeit hervorgehen und dieser optimal dienen. Wenn „Anarchismus“ soviel wie Regellosigkeit und rechtsfreier Raum bedeuten soll (statt möglichst weitgehende Freiheit von Herrschaft), dann lehne ich ihn als schlecht utopisch, weil wirklichkeits- und menschenfremd ab. Die oben zitierte Infragestellung durch Bergstedt – wegen  „Konkurrenz zwischen Menschen und Kollektiven, die internen Hierarchien und Abgrenzungen, die ständige Instrumentalisierung und Normierung“ – lässt aufhorchen: Was schwebt ihm eigentlich positiv vor?

J.B.: „Mit dem Bezug auf den Gesamtwillen als moralisch höherwertige Quelle von Handlungsnormen ist die Demokratie eine Weiterführung religiöser Orientierungen. Das Volk tritt an die Stelle des Gottes und wird nun als Ausgangspunkt des Guten und Machtvollen benannt. Wie beim Bezug auf Gottes Wort wird der Wille des Volkes bzw. das demokratisch Legitimierte als das Gute vom anderen, dem Bösen abgegrenzt. Das Böse kann bekämpft werden.“

P. W.: „Dieser Vergleich des Volkswillens in einer Demokratie mit religiösen Gottesvorstellungen ist äußerst treffend. Genauso wie der Wille Gottes in der Geschichte von den Herrschenden stets mißbraucht wurde, um ihre egoistischen Machtinteressen voran zu bringen, wird heute der sog. Volkswille zum Spielball von Deutungen der verschiedensten Art.“

Die moderne Demokratie ist gegen die theokratische, religiöse Herrschaft mit viel Blut und Mut durchgesetzt worden. Schon der Gedanke des Rechtsstaates („Herrschaft des Rechts“) beinhaltet die Ablösung der religiösen Fundierung des Staates durch das Recht. Das ist der tiefere Sinn von „Rechtsstaat“, wie gerecht oder ungerecht die einzelnen Gesetze auch sein mögen. Sowohl bei „Volksherrschaft“ wie bei „Herrschaft des Rechts“ wird „Herrschaft“ in einem übertragenen, metaphorischen Sinne gebraucht, zur kritischen Anknüpfung an die alten „Herrschaften“, die abgelöst werden sollten. Das griechische Wort „kratein“ in „Demokratie“ ist nicht auf „herrschen“ festzulegen, sondern beinhaltet auch regieren und bestimmen, also legitimierte Machtausübung. Auf deren Notwendigkeit und Recht komme ich später. Demokratie heißt Selbstregierung einer Gesellschaft.

P. W.:  „Wenn z. B. bei einer Wahl keine wirkliche Auswahl zwischen echten Alternativen von Parteien und geeigneten Persönlichkeiten besteht, wie es in den modernen „Demokratien“ gängige Praxis ist, dann kann auch der Volkswille unmöglich zum Ausdruck kommen.

  • Und wenn Umfragen und Statistiken zu allen möglichen Fragen und Tatbeständen verfälscht und gemäß den Interessen des Auftraggebers manipuliert werden, dann hat der auf diese Weise erzielte Aussagewert nicht mehr das geringste mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu tun.
  • Wenn dann Propaganda und Werbung, die aufgrund der damit verbundenen enormen Kosten fast ausschließlich von Kapitalkräftigen und ihren Handlangern betrieben werden kann, eine effektive Strategie zur Gehirnwäsche ausmacht, dann werden demokratische Strukturen konterkariert.
  • Wenn dann darüber hinaus auch noch ein Großteil der Medien das böse Spiel der Mächtigen und des Kapitals mitspielt, dann ist eine unabhängige und kritische Meinungsbildung, die die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie darstellt, einfach nicht herstellbar".

Das ist alles geschenkt, sind alles völlig berechtigte Klagen, die inzwischen selbstverständliche Voraussetzungen konstruktiven Weiterdenkens sind.  Sie gehen zudem hier am Kern der Sache und an der eigentlichen Argumentation von Bergstedt verharmlosend vorbei. Denn dieser lehnt nicht nur unreife und faule Äpfel ab, sondern kennt gar keine gesunden und lehnt deren Möglichkeit und die Forderung danach ab.

J. B.: „In ähnlicher Weise wie sich die Typen einer Demokratie nur im Detail unterscheiden, sind auch Monarchie, Diktatur und die Demokratie lediglich verschiedene Formen von Organisierung und Steuerung kollektiver Systeme bei weitreichender Übereinstimmung der wichtigsten Merkmale. So existieren Recht und Rechtsprechung, Polizei und Armeen, Eigentumssicherung und nationale Abgrenzung, Verwertungs- und Profitzwang in allen bestehenden Gesellschaftsformationen. Die Gewaltenteilung ist überall eine reine Fiktion und wird propagandistisch erzeugt.“

P. W.: „Auch diese Aussagen Bergstedts kann ich teilen. Wer nur ein wenig kritisch hinter die Fassaden des aufgebauten Potemkinschen Dorfes blickt, der wird sofort erkennen, daß unsere vielgepriesene Gewaltenteilung nur eine Schimäre ist, die aus den hohlen Worten unserer Politiker schallt.“

Auch hier geht P. W. wieder nur auf die Unreife bzw. Faulheit der Äpfel ein – ohne zu diskutieren, dass es auch reife, gesunde geben könnte. Nichts Geringeres ist aber die Behauptung von J. B., der Recht und Rechtssprechung mit Verwertungs- und Profitzwang, implizit mit willkürlicher, illegitimer Gewaltanwendung gleichsetzt – womit er wieder das Zerrbild von „Anarchismus“ bestätigt, nicht dessen berechtigten Sinn von herrschaftsfreier Ordnung und Verständigung auf Regeln des Miteinanders. Mit diesem begrifflichen Falschspiel arbeiten viele „Anarchisten“ – und wundern sich, dass die Öffentlichkeit das Wort „Anarchismus“ für „möglichst gewaltfreie Ordnung“ nicht anerkennt. Das Konzept einer viergliederten Demokratie beinhaltet eine grundsätzlich erweiterte und konsequenter durchgeführte Gewaltenteilung. Das muss man aber mal zur Kenntnis nehmen – statt seine Denk- und Lesefaulheit für aufgeklärt und „radikal“ zu halten.

J. B.: „Demokratie ist daher im Wesentlichen eine Oligarchie, in der sich vor allem die Mechanismen der Auswahl Weniger geschichtlich gewandelt haben.“

P.W.: „Die Demokratie präsentiert sich uns dabei als eine verkappte Oligarchie, die nur dem Namen nach die Interessen des Volkes vertritt. An dieser Stelle besteht Anlaß, einmal auf die sog. „Erfinder“ der Demokratie zu verweisen. Meistens wird bei dem glorreichen Andenken an die antike griechische Kultur als Wiege des Abendlandes sowie Demokratie geflissentlich übersehen, daß es sich dabei in keiner Weise um eine lupenreine Demokratie gehandelt hat. Nur die herrschende Bürgerklasse besaß die Privilegien eines freien Bürgers mit Mitbestimmungsrechten und dem Vorrecht des Faulenzens und Philosophierens. Denn für den damaligen ‚freien Bürger‘ war körperliche Arbeit verpönt, die man lieber dem Pöbel, den Unfreien und Sklaven überließ. In den griechischen Stadtstaaten und Königreichen sowie im späteren Römische Reich waren die freien Bürger in der Unterzahl – und diese wären ohne die Arbeit ihrer rechtlosen Knechte und Sklaven hilflos und mittellos gewesen.“

Hier trifft P.W. soweit  richtige Feststellungen. Ich selbst halte überhaupt nichts davon, bei den Griechen als Vorbildern für moderne Demokratie anzusetzen. (Demokratie war für Platon Herrschaft des Pöbels.) Urdemokratische, natürlich-direktdemokatische Verhältnisse gab es vielmehr in vielen alten Volksstämmen, auch bei den Germanen übrigens. Die Schweizer Direktdemokratie ist davon nur ein Überbleibsel, ebenso wie die vergessenen quasi-demokratischen Verhältnisse in den Freien Städten des alten deutschen Reiches. – J.B. meint jedoch seine Feststellungen viel radikaler: Demokratie kann nichts anderes sein als Oligarchie von herrschenden Klassen. Selbst wenn dies für die bestehenden Demokratien zutrifft (natürlich auch für die Schweizer Geldherrschaft), entbindet dies nicht von der Aufgabe einer Weiterentwicklung, wie sie mir mit der inneren Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie, mit einer Wertedemokratie und einer kommunikativen Gesellschaft in systemtheoretisch begründeter Weise vorschwebt. Das Zweideutige in Bergstedts zuletzt zitiertem Satz liegt in dem „im Wesentlichen“. Ist das eine Zustandsbeschreibung (damit hätte er Recht) oder aber eine Wesensaussage: Demokratie sei vom Wesen her Oligarchie. Diese ist falsch und unbewiesen.

J. B.: „Angesichts der Fülle offener und versteckter Dominanzen in jeder kollektiven Entscheidungsstruktur kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur als offenes System entwickelt werden, in dem sich Menschen horizontal, ohne formale, feststehende Regeln oder anders verfestigte Privilegien begegnen.“

P.W.: „Diese Theorie ist zwar bestechend und nicht zu widerlegen. Aber sie besitzt einen gewaltigen Haken, der in der einfachen Frage gipfelt: Wie kann man denn praktisch ein solches offenes System entwickeln und umsetzen und die in der Natur des Menschen verankerten negativen Impulse umgehen?“

Hier sieht P. Weber nun endlich einen Haken. Doch von „Theorie“ zu sprechen, ist ein Hohn auf echte Theorieentwicklung. In der von mir erwähnten Reflexions-Systemtheorie gehen Regeln, Normen des Miteinanders, grundsätzlich aus der „horizontalen“ Wechselseitigkeit der zwischenmenschlichen Reflexion hervor, nach dem Modell der Verabredung. Die einmal verabredeten Normen sind jedoch für spätere Interaktionen derselben Beteiligten sowie für die Interaktionen der Nachfolgenden Vorgaben, mit denen sie sich unweigerlich auseinandersetzen müssen. Deshalb kommt es auf eine möglichst kommunikative, machtentlastete Art an, frühere Normierungen in Frage zu stellen oder zu bestätigen. Für eine so große Gesellschaft wie den Staat sind es genau die Parlamente, die gesetzgebende Funktion (um nicht von „Gewalt“ zu sprechen) in denen  dies erfolgt. Daher kommt es eben so zentral auf einen Parlamentarismus der Sachlichkeit und der Transparenz an – was durch die Gliederung des Parlaments nach den Wert- und Sachstufen (gemäß den Systemebenen) erfolgen kann. Eine bessere Lösung ist mir noch nie bekannt geworden, am wenigsten durch das bloß negative Gezetere bzw. die gedanken- und geschichtlose Infragestellung von Rechtsnormen – so als müssten und könnten wir jederzeit von vorne anfangen. Selbst wenn wir es könnten, würden wir uns auf Normen einigen, die manchen pubertären „Anarchisten“ nicht passten. Dann setzen sich diese in einen pseudo-heroischen Gegensatz zum „Kollektiv“. Soll das ernsthafte Theorie und Praxis des menschlichen Miteinanders sein?

J. B.: „Der Weg zu einer solchen offenen und horizontalen Gesellschaft bestünde aus einer Vielzahl und Vielfalt von Experimenten, in denen auf kleinem Raum oder in sozialen Netzen, die Teil des offenen Ganzen wären, die Prinzipien von kollektiver Einheit, zentraler Steuerung und Privilegien abgeschafft würden. Bestandteil solcher Experimente sollte der horizontale Zugriff auf alles Wissen und alle Ressourcen sein, gleichzeitig aber sollte der Rahmen so offen sein, dass sehr unterschiedliche Versuche gleichzeitig gestartet werden können. Mit dieser Umsetzung visionärer, d.h. über heutige Handlungsformen hinausweisender Ideen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Ansätze durch ein konkretes Tun und Reflektieren der Erfahrungen muss eine widerständige Orientierung verbunden sein. Sie muss sich notwendigerweise gegen kollektive Identität, kollektive Handlungsweise und Stellvertretung, ebenso aber auch gegen jede zentrale Kontrolle und Steuerung richten. Widerstand und Vision, Praxis und Theorie verschmelzen so zu einer voranschreitenden Strategie gesellschaftlicher Intervention.“

P.W.: „Mit diesen Erläuterungen versucht uns Jörg Bergstedt eine Handlungsanweisung auf die von mir oben gestellte Frage zu geben. [Nämlich: „Wie kann man denn praktisch ein solches offenes System entwickeln und umsetzen und die in der Natur des Menschen verankerten negativen Impulse umgehen?“] Aber die Anweisungen bleiben in der Theorie stecken und helfen dem Individuum in seinem Alltag nicht im geringsten weiter. Wer nicht auf die Natur und den Charakter des Menschen eingeht und sich mit sozio-psychologischen Problemstellungen auseinandersetzt und als Schlußfolgerung daraus nicht klare und für jeden nachvollziehbare Schritte aufzeigt, der offenbart sich nur als einer der vielen guten Theoretiker und Ratgeber, die die bestehenden Verhältnisse noch nicht einmal ankratzen!“

Einerseits schließe ich mich der Frage von P.W. an. Auf der anderen Seite halte ich seine ständige Entgegensetzung von Theorie und Praxis für falsch und unfruchtbar (sein verehrter Erich Fromm dreht sich hierbei im Grabe herum!): Gute Theorie ist diejenige, die sich in der Praxis bewährt und aus ihr nährt. So verstehe ich, mit Verlaub, meine eigene Theorie, die vom dialogischen („horizontalen“) Verhältnis der Menschen, ihrer gegenseitigen Spiegelung und dem Aufbau der Gesellschaft aus diesem Verhältnis ausgeht.

J.B. ignoriert das Faktum, dass jede Menschengruppe eine Geschichte hat, auch die durch gemeinsame Sprache und Kultur gebildete große Menschengruppe namens Nation, die sich in einem Staat rechtlich organisiert – und organisieren muss, wenn wir nicht in eine endlose Vielzahl von Gruppen oder Sippen und dergleichen, also in die Steinzeit, zurückgehen wollen. Aber selbst diese „autonomen“ Gruppen müssten ihre Beziehungen zueinander rechtlich regeln. Erst da fängt das Denken an, das J.B. sich weitgehend in einer Weise erspart, die ich nur pubertär nennen kann.  

P.W. „Ich frage mich, wie eine ‚widerständige Orientierung‘ entstehen soll, wenn das Volk unter allgemeiner Verdummung und Motivationsmangel leidet. Ein Volk, das Weltmeister in der Verdrängung und Rationalisierung geworden ist, sich von irrationalen Ängsten hat vergiften lassen und sich ein konformes Herdenverhalten zugelegt hat, ist nicht leicht zum Widerstand zu erziehen. Wenn dieses Volk auch noch durch jahrhundertlange Prägung zu Untertanen verbogen wurde, die jeder Autorität nachlaufen, dann überkommt mich persönlich die Ratlosigkeit.

Tut mir leid, Jörg Bergstedt in Ehren, aber viel weiter hilft er uns nicht. Da bleiben uns nur die bekannten und im KN ständig wiederholten Empfehlungen, daß jeder für sich persönlich das für ihn Einsichtige und Machbare in die Tat umsetzt, wie:

  • Bei Wahlen das Kreuzchen mal an einer anderen Stelle zu plazieren – mein Rat: über das ganze Wahlformular hinweg.
  • Beim Konsum kritisch zu hinterfragen und strenge Kriterien anzulegen.
  • Den Energieerzeuger zu wechseln und nur noch 100 %ig regenerativer Anbieter zu wählen. Diese Maßnahme ist effektiver als die Beteiligung an hundert Demos.
  • Überall wo man geht und steht, den Mund auf zu machen. Mit dem Motto der Kölner Musikszene „ Arsch huh, Zäng ussenander“ kann ich persönlich z. B. sehr viel anfangen – und es macht mir regelrecht Spaß, dieses lebensnah umzusetzen.“

Alle diese gut gemeinten Reformen „von unten“, vom Individuum her,  lösen aber nicht die strukturellen Probleme, Herr Weber! (Diese Einseitigkeit habe ich schon bei unserer Diskussion über Erich Fromm monieren wollen.) An die kollektiven Strukturprobleme, an die Sicht „von oben“ müssen wir grundsätzlich und denkend herangehen. Sie, Peter Weber, haben mit Bergstedt gemeinsam, dass sie diese wegdisputieren wollen, wenn auch nicht so pseudoradikal wie er, sondern ausgesprochen reformistisch.
 



Teil II: Gegenthesen


These 1

(Zur Frage, ob nicht das System ,Demokratie’ selbst die Ursache sein könnte.)

Der realutopische, noch nicht verwirklichte Gehalt von Demokratie ist: kommunikative Gesellschaft, d.h. Hervorgehen aller Normen und Funktionen (Ämter) aus der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das ist annähernd dann möglich, wenn deren Strukturen und Reflexionsstufen berücksichtigt werden (wie in der Reflexions-Systemtheorie).


These 2

(Demokratie beruhe immer auf einer handlungs- und entscheidungsfähigen Einheit, auf  Einteilung in Innen und Außen.)

Die Einheit eines „Volkes“ wird als kulturelle (heute nicht mehr blutsmäßige) Einheit vorausgesetzt, aber erst durch rechtliche (idealerweise verabredete) Normen stabilisiert. Die These „Wo das Volk regiert, gehen die Menschen unter“ setzt eine irrationale Volkseinheit voraus, wogegen es in der Demokratie gerade darum geht, diese Einheit des Volkes rational und kommunikationsgerecht zu gestalten. Mit Normen sind Ämter und Kompetenzen (beauftragtes Handeln) verbunden, also Unterschiede. Vive la difference! Nicht die unterschiedlichen Kompetenzen sind das Problem, sondern der gerechte Weg, sie zu erlangen: Ob dies auf möglichst kommunikativem Wege geschieht.


These 3

(Kollektivbildung und kollektive Entscheidungsfindung erfordern die Bereithaltung von Durchsetzungsmitteln: Privilegien und Methoden der Machtausübung, die in einer horizontalen Gesellschaft völlig verschwinden könnten.)

Es gibt kein solches Beispiel für „horizontale Gesellschaft“ und kann es auch nicht geben, in der nicht die Durchsetzung anerkannter (verabredeter) Normen dazugehört. „Privilegien“ dürfen und können funktional sein und auf Beauftragung beruhen. (Ich möchte mit Bergstedt auf keinen Fall in einer WG oder einer sonstigen Gemeinschaft leben.)


These 4

(Das ,Wir’-Gefühl und das klare, oppositionelle ,Nein’ unter Androhung des Ausschlusses aus dem ,Innen’.)

Das Wir-Gefühl einer Gemeinschaft ist etwas höchst Kostbares. Es darf nicht zum ungerechten Mobbing und Ausschluss einzelner führen. Dazu gehören Kontrollregeln, nicht aber eine prinzipielle Opposition gegen das Wir.


These 5

(Abstimmungen und Wahlen gehören in allen Formen der Demokratie zu den wichtigsten Elementen. Sie verschleiern die fehlende Selbstorganisierung von Menschen und horizontale Begegnung.)

Was in einer kleinen Gruppe weitgehend ganz informell geschieht, muss in größeren Gemeinschaften und in der Gesellschaft formell organisiert werden.


These 6

(Das Volk tritt an die Stelle des Gottes und wird nun als Ausgangspunkt des Guten und Machtvollen benannt.)

Die höhere Instanz des „Wir“ schafft ein Oben, das für spirituelle Menschen tatsächlich auch etwas mit dem Göttlichen zu tun hat. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mattäus 18, 20). Dieses Oben mit einem autoritären Nikolaus-Gott zu identifizieren, ist infantil – sowohl auf Seiten der noch starken religiös-politischen Traditionalisten als auch auf Seiten des ohnmächtigen Kritikers, und diese zweite Infantilität wird nicht geringer durch das Gewand des scheinbaren Aufklärers. Die konkrete Kritik am Staats-Kirche-Klüngel, wie ich sie z.B. in meiner „alternativen Neujahrsansprache“ und dem Nachtrag dazu vorgebracht habe, verlangt nach seriöser Unterstützung, nicht nach undifferenziert antireligiösen Rundumschlägen.


These 7

(Der zentrale Unterschied zwischen den Systemen reduziert sich auf den Mechanismus, wie die Ausführenden der Herrschaft ausgewählt werden.)

Ganz richtig, bis auf das Wort „Herrschaft“.  Wo in aller Welt ginge es ohne einen solchen Mechanismus der Beauftragung? Sicher nicht in einer „horizontalen“ Gemeinschaft à la Bergstedt, falls er irgendeiner angehören sollte. Auf die Qualität und Transparenz dieses „Mechanismus“ kommt alles an.


These 8

(Oligarche Züge: Die Führungspositionen können nicht gleichberechtigt von allen Menschen eingenommen werden.)

Grundsätzlich ist Gleichberechtigung bei guten, transparenten Auswahl- und Beauftragungsmechanismen möglich. Dieses Grundsätzliche wird allerdings eingeschränkt durch sehr unterschiedliche Begabungen, Interessen und Haltungen (Vorentscheidungen) der Einzelnen. Will dieser „Anarchist“ inhumane Gleichmacherei?


These 9

(Eine Alternative herrschaftsfreie Gesellschaft kann nur als offenes System entwickelt werden, in dem sich Menschen horizontal, ohne formale, feststehende Regeln oder anders verfestigte Privilegien begegnen.)

Was immer „offenes System“ heißen soll - ohne feststehende, mehr oder weniger formal fest gelegte Regeln geht es unmöglich, sobald irgendeine Gemeinschaft eine Vergangenheit, gar eine ganze Geschichte hat. Einen Gegenbeweis bleibt Bergstedt vollkommen schuldig, er ist auch nicht zu erwarten. Wohl muss ein Mechanismus der ständigen Überprüfbarkeit und Neujustierung vorhanden sein. In einer staatlich organisierten Gemeinschaft/Gesellschaft kann dies ein funktionierender (leider noch utopischer) Parlamentarismus sein, der nach den Wertbereichen (Ökonomie, Rechtspolitik, Kultur, Grundwerte) gegliedert ist.  

 
These 10

(Eine widerständige Orientierung muss sich notwendigerweise gegen kollektive Identität, kollektive Handlungsweise und Stellvertretung, ebenso aber auch gegen jede zentrale Kontrolle und Steuerung richten.)

Wenn „Anarchismus“ diese bloß „widerständige Orientierung“ bedeutet, möchte ich nichts damit zu tun haben. Es geht heute um konstruktive rechtliche Möglichkeiten, deren theoretisches Verstehen und praktisches Unterstützen.


Abschlussbemerkungen

Zuzugeben ist, dass unsere Demokratie teils noch in den Kinderschuhen steckt (unreife Äpfel), teils schon wieder ernsthaft vom Verfall durch die Verfestigung der Parteienherrschaft sowie die Herrschaft des Geldes bedroht ist (zugleich verfaulte Äpfel). Ferner, dass es nicht viele ernsthafte Vorschläge einer wirklich sprunghaften („revolutionären“) Verbesserung gibt. Das bisschen mehr direkte Demokratie, das von weiten Kreisen gefordert wird, also flankierende Volksabstimmungen, bringt es sicher nicht.

Die innere Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie, die ich mit meinen politischen Freunden unter den Titeln „Viergliederung“ und „Wertedemokratie“ seit vielen Jahren vertrete, ist einer der ganz wenigen gründlichen Vorschläge, wenn nicht letztlich der einzige, und dazu theoretisch in einmaliger Weise (durch die Verbindung von Handlungs- und Systemtheorie der Gesellschaft) fundiert und – friedlich mit Rechtsmitteln (dem Medium des modernen Staates) durchsetzbar, eine neue Situation und Version von Revolution in der Geschichte.

Was uns von ihrer Realisierung trennt, ist einzig das Bewusstsein der Bevölkerung und zuvörderst das Bewusstsein der intellektuellen Elite - womit ich nicht die zum großen Teil korrumpierten, gleichgeschalteten Akademiker meine, sondern diejenigen, die sich zum Beispiel in solchen kritischen Netzwerken zu verständigen suchen und ein wenig organisieren. Wenn jedoch in diesem „Kritischen Netzwerk“ solche Positionen wie die von Jörg Bergstedt als ernsthafte Vorschläge vorgestellt werden, dann fühle ich mich an die Weimarer Republik erinnert. Sie ging zugrunde an der Müdigkeit der Demokraten und am falschen Denken über Demokratie sowohl auf rechter wie auf linker Seite. Wobei ich damit nicht so hervorragende Beiträge wie die von Rosa Luxemburg im Vorübergehen beurteilen will. Fakt ist, dass diese auf friedliche, aber gründliche Veränderung bedachte Frau von ihren einstigen Freunden, den zahm gewordenen, vorher den ersten Weltkrieg mit befürwortenden Socialdemokraten umgebracht wurde.

Fakt ist auch, dass es keine dem deutschen Bewusstseinsstand und „deutschem Wesen“ (Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918) entsprechende Demokratietheorie gab und – nach dem Import der unreifen Demokratie aus Amerika in der Nachkriegszeit – bis heute kaum gibt. Bitte um Gegenbeispiele, wenn ich etwas Wichtiges übersehen sollte.

Das Traurigste für mich aber ist, dass auch die „kritische“ alternative Szene schläft oder sich in Pseudointellektualität ergeht („Diskurs“ à la Habermas, der nicht einmal „Diskurs“ sauber definiert, sondern modische Doppelspiele betreibt) oder sich zerstreitet wie die Linke von Weimar. Bergstedt, als Repräsentant einer ähnlich unklar definierten „anarchistischen“ Szene, leistet seinen Beitrag dazu, sogar dieses „Kritische Netzwerk“, wenn es nicht dazu übergeht, zu sortieren und den überall herrschenden Relativismus, diesen gleichmachenden Kapitalismus im Denken, zu verlassen zugunsten eines sauberen, ernsthaften, dabei nicht dogmatischen, für Argumente stets offenen Denkens.

Wenn uns wirklich nur das eigene Bewusstsein von einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse auf friedlich-rechtlichem Wege trennt, folgt daraus, dass wir keine besseren politischen Verhältnisse verdienen, solange wir die !axen Denkhaltungen nicht ablegen. Die leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und das Festhalten an jedem Stück von ihr muss zur allgemeinen Ehrensache werden – anstelle des gängigen intellektuellen Schwadronierens, wie es sich nicht zuletzt in der politisch korrekten Mehrheitspresse zuträgt. Wobei der hier kritisierte Autor nicht einmal diese intellektuellen Standards erfüllt, sich jedoch hinter dem Gängigen verstecken kann. Ich wollte auf meine Weise zeigen, dass ich – sofern Zeit und Kräfte reichen - keinem „Dialog“ aus dem Wege gehe, nicht einmal dem versuchten Dialog mit vermutlich Tauben.
 

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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Demokratie- und Weltverständnis

Demokratie- und Weltverständnis
 
Lieber Johannes,
 
ich begrüße es ausdrücklich, daß Du Dir die Zeit genommen und die Mühe aufgebracht hast, um auf die vorliegende Demokratiethematik detailliert einzugehen. Einführend möchte ich dazu bemerken, daß ich davon ausgehe, daß wir wohl einen Konsens bezüglich einer demokratischeren, gerechteren und solidarischeren Gesellschaft für die Zukunft besitzen. Allerdings existieren einige – sogar grundlegende – Differenzen hinsichtlich der Mittel und Wege, wie wir dort hingelangen können. Trotzdem oder gerade deswegen ist es unsere Aufgabe, diese gegensätzlichen Ansichten zu tolerieren und auszuhalten. Denn sie resultieren aus unterschiedlichen Mentalitäten und Lebenserfahrungen, die unsere differierende Blicke auf die gesellschaftlichen Abläufe bedingen. 
 
Nun zu meiner Gestaltung dieses Kommentars: Im 1. Teil folgen einige Reaktionen auf kritische Anmerkungen von Johannes, im 2. Teil zeige ich meine persönlichen Beweggründe auf, die mich zu anderen Betrachtungsweisen und Strategien als Johannes führt – und im 3. Teil gehe ich dann auf die grundlegende Kritik ein, um sie zu widerlegen und mit einem kurzen Fazit zu schließen.
 
 
1. Entgegnung auf einige kritische Anmerkungen 
 
  • Die von innen her und mit rechtlichen Mitteln durchzusetzenden Demokratiemodelle von Johannes habe ich keinesfalls als „Reparaturarbeiten“ bezeichnet. Was ich hingegen damit gemeint habe, das sind die untauglichen Versuche des Establishments, uns durch Aktionismus und oberflächliches Übertünchen vorzugaukeln, daß die ernsthafte Absicht bestünde, die gesellschaftliche Situation zu optimieren.
  • Auch trifft es nicht zu, daß unsere Umsetzungsmodelle und Ideen den rechtlichen Rahmen sprengen wollen. Wir sind vielmehr der Meinung, daß die praktizierte Politik selbst vor Grundgesetzverletzungen nicht Halt macht und sich notfalls durch der öffentlichen Diskussion entzogene durchgepeitschte Gesetzesänderungen eine Quasi-Legimitation verschafft.
  • Es sind auch nicht die „Radikalen“, die die durchaus brauchbaren Systemtheorien zum Aufbau direkterer Volksbeteiligung im Regen stehen lassen, sondern es sind die etablierten Parteien, ihre Vertreter sowie die restlichen gesellschaftlichen Verantwortlichen, die ernsthaft keinen Finger rühren, um entsprechende Handlungen einzuleiten. Wenn überhaupt verklingen die Absichtserklärungen als Sonntagsreden im Wind.
  • Anarchie in unserem Sinne bedeutet keinesfalls Rechtsfreiheit und Chaos sondern das genaue Gegenteil: sie bringt nichtautoritäre Ordnung, beherzigt Mitmenschlichkeit und Solidarität, bemüht sich um Gerechtigkeit ohne Gleichmacherei und sucht noch optimalen Mitbestimmungsregeln: Sie ist also anders ausgedrückt, falls sie verwirklicht werden könnte, die optimale Demokratieform.
  • Die Abschaffung des Einflusses von Religion ist auch in der Realität der sog. modernen Demokratien – entgegen der Aussage von Johannes - nicht durchgesetzt. Wenn man genau hinschaut, haben die Kirchen auch in Deutschland noch viele Sonderrechte – die geltenden Konkordate und Kirchenverträge belegen dies eindeutig. Darüber hinaus existieren noch sehr viele Normen, an denen sich Bürger und Politik halten, die in der Historie von den Kirchen festgelegt wurden. Ich erinnere nur an das ständige Gerede konservativer Politiker von den Werten des christlichen Abendlandes, die nach wie vor von Politik mißbraucht werden.

Auch kann ich es mir nicht verkneifen, gerade in diesem Zusammenhang des Einflusses religiösen Denkens auf Politik und Gesellschaft unsere Vorzeigedemokratie, die USA, hervorzuheben. Nahezu die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ist einem vorsintflutlichen fundamentalistischen verhaftet, was gravierende Auswirkungen auf die Innen- und Außenpolitik hat. Von einem säkularen Staat kann bei den USA folglich nicht gesprochen werden. Trotzdem wird mit Steinen nach islamischen Ländern geworfen. Dazu kommt noch in den USA der enorme gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Einfluß des Judentums, der auch den Verlauf der Weltpolitik mitbestimmt. 

  • Inwieweit sich unsere Rechtsprechung tatsächlich an den Interessen der Bürger orientiert, davon kann wahrscheinlich jeder ein Lied singen. Recht haben und Recht bekommen, das sind in der Praxis nach wie vor bei uns zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich will an dieser Stelle nicht in die Einzelheiten gehen und verweise dabei lediglich auf dubiose und ungerechte rechtliche Regelungen und Gesetze bzgl. Hartz IV oder dem Umgang mit Wirtschaftskriminellen. Der Volksmund sagt nach wie vor zu recht: Die Kleinen hängt man und die Großen läßt man laufen.
 
2. persönliche Beweggründe 
 
Heute möchte ich einmal meine persönlichen Beweggründe für mein Demokratieverständnis in den Vordergrund stellen, damit zukünftig Mißverständnisse vermieden werden.
 
Ich hatte schon seit jeher das unbestimmte Gefühl, daß das Großprojekt Demokratie in Deutschland (und auch anderswo) eher eine Ersatzfunktion besaß und nicht einem echten Bedürfnis entsprang. Von Jahr zu Jahr konnte ich mich des Eindrucks immer weniger verwehren, daß uns eine professionell gestylte Theatralik geboten wird. Dabei habe ich nur lange nach dem Regisseur gesucht. Die im Angebot befindlichen demokratischen Handlungsalternativen offizieller Art sowie die dazu inszenierte Parteienlandschaft boten und bieten eine ansehliche Theaterkulisse. 
 
Trotzdem habe ich mir im zarten Alter von 55 Jahren nach vorheriger totaler Parteienangehörigkeits-Abstinenz gesagt, daß ich dem System doch noch eine Chance geben und es einem Test unterziehen müsse. Gesagt, getan: ich bin in eine kleine Partei mit mich überzeugendem Parteiprogramm eingetreten, die sich dem Einsatz für direktere Demokratie verschrieben hatte und sich damit in der Wählergunst in den Vordergrund schieben wollte.
 
Dort habe ich mich auch nicht damit begnügt, nur als Karteileiche zu fungieren, sondern ich habe eine Reihe von Jahren unterschiedliche Parteiämter – bis zum Landesvorstand hin – ausgeübt. Letztendlich mußte ich mich doch von der Realität überzeugen lassen, daß die mir bekannten existierenden Parteien weder in der Lage noch gewillt sind, der Demokratie ein den Namen verdienendes humanistisches Fundament zu verschaffen. Selbst kleineren Parteien, die eigentlich nichts zu verlieren haben, fehlt der Mumm, die uns bedrängenden existenziellen Probleme radikal, d. h. grundlegend und schonungslos, anzugehen. Zumindest die in den Parlamenten angekommenen Parteien haben nur noch ein Überlebensziel – es den Lobbyisten recht zu machen und ihre Pöstchen zu verteidigen. Da blieb mir keine andere Wahl, als konsequenterweise meine Ämter niederzulegen und per Ende 2012 mein Parteibuch abzugeben. 
 
Nun verhält es sich durchaus nicht so, daß ich - wie Johannes Heinrichs vermutet - keine Hoffnungen und Visionen hätte, daß wir Bürger es zustande bringen könnten, eine wirklich dem Gemeinwohl dienende Gesellschaft zu schaffen. Wie heißt es doch so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt! Im Gegenteil, ich verteidige Träume, Ambitionen und Utopien geradezu leidenschaftlich. Wenn ich  an das bekannte Zitat von Helmut Schmidt denke „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, dann kommt mir die Galle hoch. Wer mich besser verstehen will, muß Kenntnis von meiner mosellanischen Mentalität und keltischen Identität haben, die die Basis für meine relative Immunität gegenüber Negativismus, Depression und Frustration sind. 
 
Was ich mir jedoch total abgewöhnt habe, das sind die unrealistischen Illusionen – dabei habe ich mich sensibilisiert gegenüber den Botschaften, die uns mit eben jenen Trugbildern und Illusionen einnebeln wollen, um uns von den Strategien und Absichten der eigentlichen Lenker und Strippenzieher abzulenken. In zunehmendem Maße wurde es mir zu Gewißheit, daß es mit den vom Kapitän angebotenen Bordmitteln niemals zu schaffen ist, den Schiffbruch zu verhindern. Es geht mir dermaßen gegen den Strich, die tausendfachen untauglichen Rezepte über mich ergehen zu lassen, die kein anderes Ziel verfolgen als die Politik des „Weiterso“ zu zementieren, dies aber mit unverbindlichem Gerede verschleiern. Was ich vermisse, das ist wenigstens eine Reaktion der politisch Verantwortlichen, die folgende Elemente umfaßt:
  • ein offenes Bekenntnis dazu, daß die neoliberale und wirtschaftsradikale Konzeption gescheitert ist und eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Kehrtwende zu einer solidarischeren, menschenorientierteren und gerechteren Ordnung eingeleitet werden muß: und zwar ab sofort, noch in diesem Jahr 2013
  • das Zugestehen von kapitalen und grundlegenden Fehlern, die man selbst und die übrigen Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft begangen haben,  sowie die Übernahme von Verantwortung dafür sowohl für die vergangenen als auch für kommenden Fehlentscheidungen
  • das Bedauern, daß man sich von falschen Propheten hat in die Irre  führen lassen, sich den Lobbyisten verkauft und ergeben und sich selbst in Korruption verfangen hat
  • die Deklaration der Einsicht, daß Probleme nur durch radikale Maßnahmen, die das Übel an der Wurzel packen, zu lösen sind und keinesfalls - wie bisher üblich - durch ein Herumdoktern an den Symptomen oder Fassadenmalerei
  • das Versprechen, daß man ab sofort das wirklich Machbare nicht mehr mit Ausreden, Lügen und Ignoranz verhindert und uns mit faulen Kompromissen die gemeinsame Zukunft verbaut
  • einen heiligen Eid leistet, daß zukünftig sämtliche politischen Aktivitäten nur noch auf das menschliche Maß gerichtet sind, das Gemeinwohl absolut in den Vordergrund gerückt wird und somit wirtschaftliches Handeln oder sonstiges politisches nur noch ein Mittel im Dienste des Menschen ist - und nicht umgekehrt wie bisher
Dies sind nur einige grundlegende Forderungen der Bürger, die mir spontan eingefallen sind. Ich glaube allerdings, daß wir uns auf eine solche Reaktion der Verantwortlichen noch bis an den St. Nimmerleinstag gedulden müssen. Es sei denn, wir nehmen endlich selbst das Heft in die Hand und helfen der Sache mit mehr oder weniger Nachdruck auf die Sprünge.
 
Aus meiner Zitatensammlung kann ich auch noch gleich mit zwei passenden Vergleichen zur gesellschaftspolitischen  Situation aufwarten:
 
„Liebe Azteken, nachdem wir leider feststellen mußten, daß trotz umfangreicher Menschenopfer der versprochene Regen nicht eingetroffen ist, schlagen wir zur Behebung der Krise eine zehnprozentige Steigerung der Menschenopfer vor.“
 
Diese Zitat stammt von einem Internetuser mit dem Pseudonym „Zweckpessimist“. Ein bekannterer Vertreter, Albert Einstein, definierte Wahnsinn als den permanenten Versuch, 
 
„immer und immer wieder dasselbe zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten“.
 
Die aktuelle europäische Krisenpolitik wird hiermit von Einstein vorausschauend treffend beschrieben.
 
Es müssen folglich andere Mittel her als die alt hergebrachten und konventionellen Verschreibungen. Dieser Gedankengang ist auch der Ausgangspunkt für die Gründung des KN. Die zur Verfügung stehenden Konzepte und Modelle zum Umbau der real existierenden Systeme, wie auch die von Johannes Heinrichs, haben durchaus das Zeug, eine neue Lebensgrundlage für uns alle zu bewerkstelligen. Es scheitert aber immer an der Umsetzbarkeit, mit anderen Worten am Willen sowie der verantwortlichen Elite als auch der betroffenen Bürger, selbst den allgemein akzeptierten Konsens in uneigennütziger Form zu verwirklichen.
 
Man sollte sich nichts vormachen: Freiwillig wird das Establishment niemals seine Privilegien aufgeben. Da müssen schon wirksamere Mittel zum Einsatz kommen als Appelle, rein sachliche Kontroverse oder brave Demos. Darüber wird man hinter vorgehaltener Hand nur ausgelacht und nicht ernst genommen. Nur wer mit härteren Bandagen kämpft, wird wahrgenommen und beachtet. Mangelnde Aggressivität und fehlender offensiver Widerstand wird vom System als Schwäche ausgelegt.  Um effektiv zu sein, darf man daher auch nicht vor radikaleren (Wortbedeutung: von der Wurzel her) Maßnahmen zurück schrecken. Das heißt, daß nur eine konsequente, nachdrückliche und offensive Taktik hilfreich ist, die in einem begrenzten Rahmen auch psychische und physische Druckmittel mit einbezieht.
 
Aus diesem Grunde sind wir im KN auch mehr und mehr umgeschwenkt auf alternative Vorgehensmöglichkeiten, ohne aber die konservativeren und moderateren Lösungsansätze zu verschweigen oder gar zu verteufeln. Die ursprüngliche Idee des KN war deshalb auch die Bildung eines Forums, das als Netzwerk mit den unterschiedlichsten Gruppierungen und Einzelpersonen auftreten sollte. Nach wie vor halten wir an der Konzeption eines Netzwerks fest, weil wir glauben, daß ohne einer Vernetzung von politisch Motivierten, die die Gesellschaft humanisieren wollen, niemals eine gebündelte Kraft und Macht zustande kommt, die das Gewicht hat, die Verhältnisse zu verändern. Aber auch in dieser Beziehung entsteht die Frage, auf welche Art und Weise man die Menschen zu einer solchen Kräftebündelung bringen kann. Denn auch die Netznutzer und Blogger haben die Neigung, eigensinnig nur ihre eigenen Gedanken zu veröffentlichen und eifersüchtig-narzißtisch über ihre Elaborate zu wachen und dabei den solidarischen Aspekt zu vernachlässigen.
 
Letzten Endes gelangen wir zwangsläufig wieder zur persönlichen Ebene, ohne die nicht ein einziger Schritt zum aktiven Tätigsein möglich ist. Jeder der behauptet, daß sich eigene Aktivitäten nicht lohnen, weil man eh nichts ausrichten könne, werde ich Lügen strafen. Die realistischen Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen sind vielfältig und durchschlagskräftig – Voraussetzung ist allerdings die Bündelung der Kräfte und ein Bewußtsein, daß die Bürger nur als Mehrheit Stärke besitzen. Im einzelnen bezieht sich dies auf das Wahl- und Konsumverhalten sowie ein selbstbewußtes und mutiges Auftreten im Alltag und der Öffentlichkeit. Über entsprechende Details findet man im KN genügend Vorschläge. 
 
 
3.  grundsätzliche Stellungnahme zur Kritik und Fazit
 
Abschließend noch einige Stellungnahmen zur grundlegenden Kritik von Johannes an Bergstedt, dem KN und mir. Johannes schreibt:
 
„Das Traurigste für mich aber ist, dass auch die „kritische“ alternative Szene schläft oder sich in Pseudointellektualität ergeht („Diskurs“ à la Habermas, der nicht einmal „Diskurs“ sauber definiert, sondern modische Doppelspiele betreibt) oder sich zerstreitet wie die Linke von Weimar. Bergstedt, als Repräsentant einer ähnlich unklar definierten „anarchistischen“ Szene, leistet seinen Beitrag dazu, sogar dieses „Kritische Netzwerk“, wenn es nicht dazu übergeht, zu sortieren und den überall herrschenden Relativismus, diesen gleichmachenden Kapitalismus im Denken, zu verlassen zugunsten eines sauberen, ernsthaften, dabei nicht dogmatischen, für Argumente stets offenen Denkens.“
 
Das kann ich so nicht stehen lassen. Denn ich bin kein Relativist sondern zähle mich viel eher zu den Zeitgenossen mit Prinzipien und humanistisch-ethischen Wertvorstellungen, die nicht zu relativieren sind. Was den „gleichmachenden Kapitalismus des Denkens“ angeht, den Johannes uns vorgeworfen hat, so muß ich diesen zurückweisen. Es ist im Gegenteil der reale Kapitalismus, der uns als globale Gleichmachungs-Dampfwalze überrollt, den wir bekämpfen und den wir fürchten sollten.
 
Ich – Peter Weber - denke, daß ich auch für Helmut Schnug spreche, wenn ich darauf insistiere, daß gerade eine undogmatische Herangehensweise an Problemstellungen und eine offene tolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden unser Ziel und unsere Stärke im KN ist. Dabei will ich nicht leugnen, daß auch wir manchmal falsch liegen können und eine Situation nicht den Fakten gemäß einschätzen. Aber wir bemühen uns immer, Fehleinschätzungen zu korrigieren. Außerdem sind wir naturgemäß in unseren Kommentaren subjektiv, was auch nicht anders machbar ist, denn wir sind Individuen, von denen jeder die Welt aus einem anderen Aspekt betrachtet. Worauf wir jedoch gesteigerten Wert legen, das ist unsere Unabhängigkeit des Denkens und Schreibens.
 
Es liegt mir am Herzen, nochmals zu betonen, daß wir in keiner Weise versuchen, die von Johannes Heinrichs ausgearbeitete Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie, die sich in seinem Modell der Viergliederung und Wertedemokratie ausdrückt, zu widerlegen oder als unsinnig abzutun.
 
Als Fazit bleibe ich allerdings dabei: Die (repräsentative) Demokratie ist eine geschickt verfeinerte Verschleierungsform der Volksbeherrschung oder noch schärfer formuliert - die perfekte Weiterentwicklung der Diktatur. Sie ist derartig psychologisch ausgefeilt, daß sie eben nicht als eine solche offen in Erscheinung tritt, sondern den Willen der Bürger durch geschickte Massenmanipulation derartig lenkt, daß diese der irrigen Ansicht sind, sie würden in ihren Handlungen ihren freien Willen ausleben.
 
 
Peter A. Weber
 
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Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Spagat zwischen Real-Utopie und realer Umsetzbarkeit

 

Spagat zwischen Real-Utopie und realer Umsetzbarkeit

 

Lieber Johannes und Mitlesende

Das 10-Punkte-Thesenpapier von Jörg Bergstedt habe ich hier im KN nicht ohne Grund vorgestellt. Es bildet den Abschluss seines Buches "Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Eine Abrechnung“. Dies habe ich natürlich ebenso gelesen wie schon vor ein paar Jahren  Dein Buch "Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit“. Auch Dein 444 Seiten umfassendes Werk "Revolution der Demokratie – Eine Realutopie“ habe ich bereits auszugsweise angelesen. Ich schreibe das nur um klarzumachen, daß ich schon zahlreiche Schriften und Bücher zum Thema Demokratie gelesen habe – dies stets mit kritisch, reflektierender Betrachtung und frei von festgefahrenen Denkmustern.  

Es ist mir ein Anliegen, uns und die mitlesenden Besucher unserer Seite unterschiedliche Gedanken zum Thema Demokratie vorzustellen, um den Menschen neben dem reinen  Informationsangebot auch zum Mitdenken, Querdenken und Mitschreiben anzuregen. Aus gegebenen Anlass will ich an dieser Stelle eine Lanze für Peter A. Weber brechen. Er hat in seinem letzten Kommentar so ziemlich alles aus seiner Sicht zur Sache beigetragen, was ihm wichtig erschien – so kenne ich ihn.

Meiner Meinung nach ist es nicht zielführend, eine mögliche Annäherung unterschiedlicher Standpunkte zu erzwingen oder wieder verschreckt Abstand zu nehmen. Deshalb möchte ich heute die Sachlage aus meinem Aspekt aufgreifen und damit versuchen, unser Procedere in der Zeit seit der Gründung des KN sowie die Entwicklung unserer Denkweisen weiter zu erklären.

Wenn Peter mit seinem Kommentar Deiner Meinung nach erreicht hat, daß Deinen Aussagen das Gewicht genommen wurden, dann waren seine Argumente offensichtlich gar nicht schlecht - ich kann ihm nur gratulieren. Wenn Du den Eindruck hast, Peter hätte Dir mit seinen Argumenten das Wasser abgegraben, dann gibst Du m.M.n. schon mehr als nur indirekt zu, daß Deine eigene Beweisführung auf schwachen Füßen steht und von ihm ins Wanken gebracht wurde.

Wir haben uns gleich nach Gründung der Plattform Kritisches Netzwerk ausführlich mit diversen Demokratiemodellen beschäftigt und dies in der Ausarbeitung Denkanstösse festgehalten. Diese enthielt in der ursprünglichen Fassung, bevor wir andere Schwerpunkte setzten, wesentlich umfangreichere und detailiertere Vorstellungen dieser Modelle, angefangen von

  • unserem Verständnis der Anarchie,
  • über Panokratie,
  • zu den verschiedensten basisdemokratischen Versionen,
  • in ausführlicher Form zu Deiner Viergliederung,  weiter zu
  • Mehr Demokratie e.V.,
  • Münchener Modell,
  • Willi-Weise-Projekt,
  • Netzwerk Volksbegehren,
  • Aktionsbündnis direkte Demokratie

und vielen anderen. Dabei hatten wir uns redlich bemüht, das gesamte Spektrum abzudecken. Wenn Peter und ich heute in Übereinstimmung zur Ansicht gelangt sind, daß andere Vorgehensweisen zur politischen und gesellschaftlichen Veränderung erfolgversprechender sind als die damals präferierten, so hat das seinen berechtigten Grund. Zunächst einmal muß betont werden, daß es auch Peter und mir viel lieber wäre, wenn die existierenden – und zum Teil sehr durchdachten – Demokratiemodelle peu à peu ohne großen Widerstand in einem gesellschaftlichen Konsens umgesetzt werden könnten. Speziell Deine Viergliederung, also die Vier-Parlamente-Demokratie bestehend aus Grundwerte-, Kultur-, Politik- und Wirtschaftsparlament, fand unsere besondere Aufmerksamkeit und wir dachten – und denken das noch heute – was ein schlauer Kopf wohl hinter einer solchen Real-Utopie mit verblüffend einfachen Lösungen steckt.

Jetzt komme ich aber zum Knackpunkt. Wir sind unisono der Meinung, daß unsere heutige Gesellschaft einfach zur Verwirklichung nicht bereit ist. Abgesehen davon, daß die Systemträger grundlegenden Reformen vehement einen Riegel vorschieben würden (und ja bereits seit Jahrzehnten einen solchen Prozess untergräbt), ist auch der weitaus größte Anteil der Bevölkerung noch lange nicht auf einem Informations- und Bewußtseinsniveau, von dem aus wirkliche Fortschritte zu einer humanistischeren und direktdemokratischeren Struktur verwirklicht werden könnten. Die meisten Menschen haben sich einfach zu sehr vom materialistischen Konsum-Zeitgeist und den gleichgeschalteten (Massen)Medien einlullen lassen, so daß sie zu kreativer Weiterentwicklung weder fähig noch willens sind.

Wenn nicht kriegerische Ereignisse oder andere unfreiwillige gravierende Einbrüche (Jobverlust, Hartz-IV, Altersarmut, soziale Ausgrenzung, Mobbing etc) über uns hereinbrechen, dann braucht es zu einem Wertewandel als Basis für einen der Allgemeinheit dienenden Umbruch noch Generationen. Um hier eine Beschleunigung zu erzielen, müssen unserer Ansicht nach effektivere und radikalere (radikalere im Sinne von grundlegendere) Strategien verfolgt werden, die in jedem Falle beim Einzelnen ansetzen. Darüber haben wir im KN in diversen Beiträgen bereits ausführlich Stellung genommen.

Um noch einmal auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Dir und Peter zurück zu kommen: Du bist von Kindesbeinen an in die akademische Schiene hineingewachsen und hast Schwerpunkte in der theoretischen Aufarbeitung und Strukturierung von Sachthemen gebildet. Peter ist dagegen in einem anderen Milieu geprägt worden und hat seine Erfahrungen in der beruflichen Praxis eines Industrieverkäufers gesammelt. Als philosophisch interessierter und agierender Mensch  ist er reiner Autodidakt, der seine Bewußtseinsentwicklung auf der Grundlage von praktischen Erfahrungen im wirtschaftlichen Alltag gebildet und seine Gefühle und Instinkte an der Lebensrealität ausgerichtet hat. Auf diese Weise ist er – und mir ergeht es ähnlich – zu teilweise ganz anderen Schlußfolgerungen über das Funktionieren der realen Welt als Du gekommen.

Bitte sei nicht beleidigt, wenn ich den Eindruck habe, daß Du teilweise im Gegensatz zu Peter in einer anderen Welt als der real existierenden lebst und Dir die gesellschaftlichen und politischen Tatbestände und Entwicklungen rationalisierst und unbewusst schönfärbst. Diese Einschätzung meinerseits hat nichts mit einer pessimistischen Lebenseinstellung zu tun, sondern sie spiegelt lediglich die Lage der Dinge wider. Du scheinst in einer Art akademischem Traumschloß zu wohnen und die Fenster mit Vorhängen verdeckt zu haben, so daß Du Dir das zunehmende Auseinanderlaufen zwischen Deiner Wunschwelt und der Realität möglicherweise entgangen ist.

Wenn ich zum Beispiel den Vorwurf des Relativismus nehme, den Du Bergstedt und dem KN gegenüber vorbringst, und auf den Peter bereits ganz in meinem Sinne eingegangen ist, so muß ich diesen bei sachlicher Überlegung nicht nur zurückweisen, sondern ihn sogar als Retourkutsche zu Dir auf die Reise schicken. Ich sehe das so, daß Du Deine theoretischen Gedankengebäude systematisch und rational aufrichtest, wogegen erst einmal kein Einwand vorzubringen ist. Dann jedoch baust Du Deine kognitiven Konstrukte immer weiter aus in Abhängigkeit der vorausgegangenen – man könnte sagen in einer aristotelischen Logik - ohne die Realität angemessen einzubeziehen, die jedoch ohne Rücksicht auf Deine Gedankengänge ganz andere Wege geht. Dies nenne ich Relativierung.

Wenn aber Peter oder ich den umgekehrten Weg einschlagen und ausgehend von einer ethischen Grundhaltung sowie einer anzustrebenden optimalen Zielvorstellung unser Verhalten sowie unsere Ratschläge an den physischen und realpolitischen Istzuständen und Tendenzen ausrichten, dann kann ich diese Strategie ganz einfach nur als sinnvoll anforderungsgemäß bezeichnen. Jedenfalls verstehe ich nicht, wie Du uns derart mißverstehen kannst und uns in diese Ecke positionierst.

Meine wichtigste Erfahrung als freier Fotojournalist mit Schwerpunkt professionelle Fotografie habe ich durch folgende Erkenntnis gewonnen: Um differenzierter und klarer zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung – schon damit sich das (Foto)Ergebnis von dem Anderer unterschied. Ich positionierte mich – zum Unverständnis meiner KollegenInnen - mit langen Objektiven bewaffnet, an anderen Stellen und beeindruckte nach Veröffentlichung der Fotos mit einer völlig differenten Betrachtungsweise, obwohl wir das selbe Objekt fotografierten.    

Vielleicht ist es ja der wunde Punkt, an dem Du zum Nachdenken hinsichtlich einer pratikablen Umsetzbarkeit Deiner ansonsten für mich und uns völlig nachvollziehbaren und wünschenswerten theoretischen Real-Utopie gelangst, und dann vielleicht auch dazu Stellung beziehen könntest.

Liebe Grüsse

Helmut Schnug
 

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Johannes Heinrichs
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Verbunden: 16.11.2012 - 13:19
Repressive Toleranz

Lieber Peter,

was Du in den ersten beiden Teilen schreibst, ist weitgehend selbstverständlich. Lust, darauf einzugehen, habe ich nicht. Höchstens, dass Du meine kirchenkritische Haltung und die konkrete Relevanz meines Konzeptes für neue ganz Grundlagen des Staats-Kirche-Verhältnisses bei Weitem nicht erkannt hast. Dazu müsstest Du über das Konzept "Grundwerte-Kammer" erst einmal gründlich nachdenken, wovon ich keine Anzeichen sehe. Die Kirchen- und auch allgemeine Religionskritik geht aber bei mir (u.a. Ex-Theologe, der seine Distanzierung so teuer bezahlt hat, wie Du dir gar nicht vorstellen kannst) mit einem spirituellen Denken einher, während Du diesbezüglich das Kind mit dem Bad ausschüttest.

Deine Breitseiten gegen "Religion" überhaupt kommen mir sehr laienhaft und geistesgeschichtlich überholt vor. Solche Oberflächlichkeit wäre für mich aber noch kein ernster Stein des Anstoßes.
 
Nur aber ein paar Bemerkungen zum letzten Teil. Indirekt wirfst Du mir Dogmatismus vor, weil ich für ein konstruktives Konzept eintrete:
[quote=Peter Weber]

"Ich – Peter Weber - denke, daß ich auch für Helmut Schnug spreche, wenn ich darauf insistiere, daß gerade eine undogmatische Herangehensweise an Problemstellungen und eine offene tolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden unser Ziel und unsere Stärke im KN ist. (...) Worauf wir jedoch gesteigerten Wert legen, das ist unsere Unabhängigkeit des Denkens und Schreibens.

Es liegt mir am Herzen, nochmals zu betonen, daß wir in keiner Weise versuchen, die von Johannes Heinrichs ausgearbeitete Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie, die sich in seinem Modell der Viergliederung und Wertedemokratie ausdrückt, zu widerlegen oder als unsinnig abzutun."
[/quote]


Ich habe verstanden. Deine / Eure betonte Toleranz, sogar meinem Konzept gegenüber, ist das, was Herbert Marcuse "repressive Toleranz" genannt hat. Die konstruktive Leidenschaft wird dabei scheinbar gelten gelassen, aber wirksam ausgebremst, in allgemein "kritisches" Gerede.
 
Deine abschließenden Bemerkungen zeigen, dass Du, entgegen Deinen gesalbten Versicherungen am Anfang, partout an dem "anarchistischen" Negativbild, der Negativetikettierung von Demokratie, vorsichtshalber eingeschränkt zu "(repräsentativer) Demokratie", festhältst.
 
Diese Punkte trennen uns ernsthaft und werden uns weiter trennen. Solche "Verbündete" sind für mich keine, sondern kompromittieren mich!
 
Ehrlich gesagt, ich glaube, dass ein weiteres Engagement meinerseits in diesem "Kritischen Netzwerk" für mich und die Öffentlichkeit keinen Sinn hat. Das ist mir zuviel schriftlicher Stammtisch, wo man sich gegenseitig kritisiert und alle zusammen die Verhältnisse, aber das Konstruktive, welches allein das effektiv Kritische wäre (was Du und Ihr beide nicht verstanden habt und im Grunde nicht akzeptiert!) wird neutralisiert. Es wird auch kein Unterschied zwischen Stammtisch-Ansichten und Einsichten, Forscher-Ergebnissen, gemacht.

Du redest und schreibst schneller, als Du denken kannst, meinst auch, nichts Neues denken zu müssen. Nein danke!
 
Ich möchte mich daher tendenziell von diesem Netzwerk verabschieden, zumal Dein Diktum, Helmut, im Raum steht, dass Du jenem Wirrkopf namens Bergstedt gedanklich näher stündest als mir. Ich betrachte diese Nähe als genauso bedenklich wie die zu Rechtsradikalen. Ich weiß, dass Du jetzt damit kommen wirst, dass Martin Besecke doch Recht mit seinem Urteil über mich hatte... Sei`s drum. Ich weiß meine Zeit anders zu verwenden, auf eine in Deutschland sonst nicht vorhandene Gesamtphilosophie, die das Oberflächengekräusel überleben wird. Ich möchte daher auch keine langen Telefongespräche mehr, die nur Ersatz für echte persönliche Kommunikation sind. Selbst bei dieser ist der dialogische Wechsel der Rede oft schwer genug...
 
Trotzdem freundliche (in Richtung von freundschaftliche) Grüße und aufrichtig gute Wünsche und Dank für die trotzdem geschehene Verbreitung meiner Gedanken!

Johannes

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Verständnis von Demokratie

Lieber Johannes,

ich habe mir lange überlegt, ob ich den Diskurs noch fortsetzen möchte. Aber Deine Entgegnungen haben mich doch sehr enttäuscht – und sie ufern teilweise tatsächlich zu persönlichen (unberechtigten) Vorwürfen aus, daß mir keine andere Wahl bleibt, als noch einmal zu reagieren.
 
Zunächst ein paar Worte zu meiner Kirchen- und Religionskritik: Diese war nur ein kurzer Anriß meiner Vorstellungen und sollte auch nur stichwortartig ausgelegt sein. Deine Unterstellung, daß ich in dieser Thematik nicht in die Tiefe gehen könnte, ist geradezu abstrus. Denn diese Thematik gehört eindeutig zu meinen Schwerpunkten, auch wenn ich sie nicht – so wie Du – als akademisches Fach belegt habe.

Die von Dir uns vorgeworfene „Negativetikettierung“ der Demokratie kann ich ebenfalls nicht auf mir sitzen lassen. Was ich negativ etikettiere, das ist das Zerrbild von Demokratie, das uns im alltäglichen Irrsinn vorgelebt wird. Wenn ich mir bewußt die täglichen Meldungen anschaue (und das tue ich), dann fällt es schwer, nicht zu verzweifeln. Ich frage mich, welches Bild von Demokratie Du denn besitzt, wenn Du die vorherrschenden Verhältnisse als demokratisch sanktionierst und billigst?


[quote=Johannes Heinrichs]„Ich habe verstanden. Deine  / Eure betonte Toleranz, sogar meinem Konzept gegenüber, ist das, was Herbert Marcuse "repressive Toleranz" genannt hat. Die konstruktive Leidenschaft wird dabei scheinbar gelten gelassen, aber wirksam ausgebremst, in allgemein "kritisches" Gerede.“
[/quote]


Dieses Zitat aus Deinem Kommentar beweist, daß Du mich völlig mißverstanden hast. Der Einfachheit halber zitiere ich hier auch einmal – und zwar Roberto J. De Lapuente zur Thematik „repressive Toleranz“:


„Marcuse kommt zu der Einsicht, daß „die Toleranz, die Reichweite und Inhalt der Freiheit erweiterte, [...] stets parteilich intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo“ war. Dies habe sich in der Demokratie der westlichen Industriegesellschaften verändert: Organisationen, die vorgeben dem Status quo entgegenzuarbeiten, eine bessere Welt schaffen zu wollen, versuchen ihrem demokratischen Verständnis damit Ausdruck zu verleihen, sich tolerant gegenüber jenem System zu verhalten, welches sie vorgeben zu bekämpfen. Dabei versteht es sich von selbst, dass Institutionen, Parteien und Organisationen, die sich im Status quo pudelwohl fühlen, kein Interesse an der Aufhebung dieser "absoluten Toleranz" haben. Im Gegenteil, denn sie dient dazu, den „Kampf ums Dasein zu verewigen“, d.h. Unterdrückung und Ausbeutung als zwischenmenschliche Umgangsformen zu bewahren, Freiheit und Autonomie des Individuums zur Träumerei zu stilisieren.“
Quelle: ad-sinistram


Das Gegenteil der „repressiven Toleranz“ gemäß Marcuse ist der Begriff „befreiende Toleranz“. Dahinter steht die Feststellung Marcuses, daß keine Macht, Autorität oder Regierung diese befreiende Toleranz umsetzt. Wenn Du aber uns und dem KN ein Verhalten der repressiven Toleranz unterstellst, ist dies unbegreiflich. Wir gehören zu der Gattung von Menschen, die exakt eine solche Haltung bekämpfen und in keiner Weise bereit sind, faule Kompromisse hinzunehmen und relativierendes kritisches Gerede tunlichst vermeiden wollen.


[quote=Johannes Heinrichs]„Ehrlich gesagt, ich glaube, dass ein weiteres Engagement meinerseits in diesem "Kritischen Netzwerk" für mich und die Öffentlichkeit keinen Sinn hat. Das ist mir zuviel schriftlicher Stammtisch, wo man sich gegenseitig kritisiert und alle zusammen die Verhältnisse, aber das Konstruktive, welches allein das effektiv Kritische wäre (was Du und Ihr beide nicht verstanden habt und im Grunde nicht akzeptiert!) wird neutralisiert. Es wird auch kein Unterschied zwischen Stammtisch-Ansichten und Einsichten, Forscher-Ergebnissen, gemacht. Du redest und schreibst schneller, als Du denken kannst, meinst auch, nichts Neues denken zu müssen. Nein danke!“
[/quote]


Hier tritt eine Abfolge von Behauptungen auf, die so weit daneben liegen, daß man sie eigentlich schon als Beleidigung ansehen könnte. Aber ich möchte in diesen Diskurs bewußt keinen aggressiven Tonfall hineinbringen. Wenn das, was wir im KN an ausführlichen, durchdachten, konstruktiv-kritischen und gut recherchierten Beiträgen bringen, von Dir „Stammtischgerede“ bezeichnet wird, dann frage ich Dich, wie man denn das, was auf den meisten anderen Foren, Blogs und auch den Printmedien abläuft, nennen sollte“.

Ich pflege vorausschauend zu denken, was ich auch in diesem Fall praktiziert habe, um Deine Einwände, die tatsächlich hinterher erfolgten, vorauszusehen und Gegenformulierungen auszuarbeiten. Darüber hinaus verfüge ich auch noch über eine relativ schnelle Auffassungsgabe, und obendrein überlege ich mir meine Aussagen sehr gründlich. Helmut ist mit mir einig darüber, daß Du mit Deiner uns bekannten Gedankenwelt sehr voraus-berechenbar bist, so daß wir keine große Mühe haben, Deine Reaktionen abzusehen. Wenn Du mir dann daraus einen Strick drehen willst, daß ich schneller reden als denken könne und auch noch der Überzeugung sei, nichts Neues Denken zu müssen, dann schießt Du wirklich – gelinde ausgedrückt – über das Ziel hinaus!

Zudem wirfst Du mir bzw. uns als KN vor, daß wir falsche Verbündete wären und Dich letztlich nur kompromittieren würden. Wie würdest Du denn Deine oben zitierten Vorwürfe benennen? Dies wären laut meiner Definition wirkliche Kompromittierungen. Und wenn Du unsere Übereinstimmungen mit Bergstedt von der Schwere her auf eine Ebene mit rechtsradikalen Ideen stellst, dann gehst Du wirklich zu weit. Denn das brauchen wir uns wirklich nicht bieten zu lassen!

Trotzdem will ich nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und voreilig mit Dir brechen. Ich versuche ja, auch Deine Argumente zu verstehen und glaube mir: Ich schätze Dich als Menschen und hoffe daher, daß auch Du nicht vorschnell sämtliche Stricke zu uns kappst, denn ich wäre wirklich sehr froh, Dich als kritischen Diskursteilnehmer im KN weiterhin halten zu können.

Peter A. Weber
 

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Johannes Heinrichs
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Verbunden: 16.11.2012 - 13:19
Reale Umsetzbarkeit oder Weltfremdheit ? Zum angeblichen Spagat

Lieber Helmut,

zuvor eine technische Bemerkung: Mir ist es schleierhaft, wieso Dein Beitrag vom 21.1.13, der sich auf den Disput zwischen Peter Weber und mir bezieht, vor diesem Disput erscheint. Aber das liegt vielleicht an meinem mangelndem technischen Verständnis, das ich gerne zugeben.

Nicht zugeben kann ich allerdings die akademische Weltfremdheit, die Du mir als Haltung zuschreibst. Ich habe von Kindesbeinen an im Handwerksbetrieb und Geschäft (Bäckerei und Lebensmittel) meiner Eltern sehr aktiv mitgearbeitet - bis zum Tag meines Eintritts in den Jesuitenorden - und kenne nicht nur die akademische (und kirchliche) Welt.

Doch es geht nicht um Persönliches. Der eigentliche Punkt ist die angebliche Nichtumsetzbarkeit meiner Demokratieideen. Weißt Du, was uns davon trennt? Ich wiederhole es: allein das mangelnde Bewusstsein. Und ich füge hinzu: das viele Gerede in viele Richtungen. Das allein. Und deshalb ist die Verantwortung nicht nur der Mehrheitspresse, sondern besonders auch der alternativen "kritischen Netzwerk" immens. Und deshalb ist - selbstverständlich nach einer nötigen Orientierungsphase - das Vorführen von Vielerlei, das nicht im Entscheidenden weiter führt, kontraproduktiv. Das trennt uns - nicht ein angeblicher Spagat zwischen Theorie und Praxis.

Think about it!

Johannes

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Johannes Heinrichs
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Verbunden: 16.11.2012 - 13:19
Nur Missverständnisse?

Lieber Peter Weber,

es ist schön, dass Du in unserem "Diskurs" (ich mag das missbrauchte Modewort aus öfter dargeleten Gründen nicht), also in unserem Disput, die Wogen glätten oder das gefährdete Porzellan zusammen halten willst. Freundlich. Ich gebe zu, dass ich hier und da Deine Kompetenz und Genauigkeit in Frage gestellt habe. Dennoch betone ich: Es geht nicht um Persönliches, und es handelt sich nicht nur um Missverständnisse. Etwa Mitlesende werden das beurteilen können. Sehen wir wir uns doch nur das "Fazit" Deines vorhergehenden Beitrags an. Doch meinerseits genug! Nichts für ungut und freundliche Grüße!

Johannes Heinrichs

 

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Demokratische Interpretationen und Mißverständnisse

Demokratische Interpretationen und Mißverständnisse
 
Wenn es um derartig umfassende und jeden Menschen betreffende Begriffe wie Demokratie und Freiheit geht, dann bin ich sehr sicher, daß es bei Meinungsdiskrepanzen außer dem absichtlichen Mißbrauch tatsächlich in den meisten Fällen Mißverständnisse die Grundlage für Kontroversen bilden. Ich muß es immer wieder betonen und ins Bewußtsein rufen, daß der Euphemismus heutzutage in höchster Blüte steht. Die grundlegendsten Termini, mit denen man unser gesellschaftlichen Zusammenleben beschreibt, werden unmerklich nach und nach einem gravierenden Bedeutungswandel unterzogen, so daß sie letztendlich – abhängig vom Verständnis des Interpretierenden – inhaltlich das totale Gegenteil aussagen können.
 
Um bei den beiden tragenden Vokabeln Demokratie und Freiheit zu bleiben: bei diesen und sämtlichen anderen sozio-psychologischen Leitgedanken abstrakter oder idealistischer Art empfehle ich dringend vor Beginn eines Disputes, sich über die individuellen Interpretations- und Betrachtungsweisen zu informieren und zu einigen. Ansonsten wird jede Diskussion im Sande verlaufen oder in einen unvereinbaren Streit ausufern. Die ganz einfache Frage nach dem Wofür und  für Wen genügt in den meisten Fällen von Freiheits- oder Demokratiedebatten die Sicht zu klären.
 
Meine weiterer Tipp in diesem Kontext ist es, die theoretische Etage zu verlassen und sich auf den Boden der geerdeten Praxis zu begeben. Wie zum Beispiel die Niedersachen-Wahl vom Wochenende. Hier zeigt sich doch anschaulich, wie verkommen unsere hehre Demokratie doch in Wirklichkeit ist. Sie wird nur noch mißbraucht und verbogen, um wie in diesem Falle eine bereits demontierte FDP mit den Krücken von eigentlichen CDU-Wählern zu stützen, mit dem einzigen Ziel, das unsere Parteiendiktatur hat: Den Status Quo und die Macht zu sichern! Politische Inhalte und Ideale, geschweige denn dem Gemeinwohl dienende politische Praxis, sind längst abhanden gekommen. 
 
Noch eine zusätzliche kleine Bemerkung zum demokratischen Handwerkszeug Wahl. Wenn bei Wahlen, was üblich ist (aktuell in NS jedoch nicht zutraf), vorab keine Koalitionsfestlegungen getroffen werden, dann hat eine solche Wahl diesen Namen nicht verdient, weil der Bürger ja keine echte Auswahl über politische Zukunft besitzt. Auch die in den Parlamenten gängigen Fraktionszwänge bei Abstimmungen sind pervers und spotten einer wahren demokratischen Vorgehensweise. In solchen Detail kann man deutlich erkennen, wie hohl unser hoch gehaltenes demokratische Konstrukt tatsächlich ist. Demokratie als solches wird einfach ad absurdum geführt. Bei dieser bedauerlichen  Entwicklung spielen leider auch die Bürger eine unrühmliche Rolle. 
 
Nochmalige Frage: Wie um alles in der Welt will man in ein solch verkehrten Welt denn auf Einsicht hoffen und glauben, man könne unbehelligt basisdemokratische Prozesse in die Wege leiten?
 
Heute habe ich in der TAZ einen herrlich bissigen Kommentar mit dem Titel „Tschüß, Kotzbrocken“ zum scheidenden Innenminister von NS, Uwe Schünemann, gelesen, den ich unseren Lesern nicht vorenthalten möchte, weil er nämlich zu unserem Demokratiediskurs im KN wie der Nagel auf den Kopf paßt. Hier ein kleiner Auszug daraus:
 
„Schünemanns Wirken war auf nichts anderes aus, als den Beweis zu führen, dass Johannes Agnoli mit seiner These von der „Transformation der Demokratie“ so daneben nicht lag. Dass es nämlich der bürgerliche Staat selber ist, der dazu neigt, Freiheit und Demokratie einzuschränken; dass ein durchgeknallter Kleinbürger auf einem Ministersessel, der anderen missgönnt, wozu er selbst nicht imstande ist, der Freiheit größeren Schaden zufügen kann, als es irgendwelche Neonazis oder Islamfaschisten in diesem Land auf absehbare Zeit je könnten. Der Minister Schünemann war der lebende Appell, staatlichen Institutionen immer und grundsätzlich und zutiefst zu misstrauen – und sie nicht für ernster zu nehmen als unbedingt nötig.“
 
Damit sich unsere Leser auch ein Bild von den Ansichten Agnolis machen können, hier der Klappentext des Buches:
 
Die "Transformation der Demokratie", Johannes Agnolis erstes Hauptwerk, das er 1967 zusammen mit Peter Brückner im Voltaire Verlag vorlegte, war die einflussreichste und nachhaltigste Staats- und Parlamentarismuskritik für die außerparlamentarische Opposition. Agnoli beschreibt darin den Prozess der Involution demokratischer Staaten, Institutionen und Parteien in antidemokratische Formen, eine Rückbildung der bürgerlichen Demokratie zu mehr Herrschaft, Unterwerfung und Kapitalabhängigkeit des Staats, die Entwicklung zu einem autoritären Staat. Die liberale repräsentative Demokratie ist für Agnoli allenfalls liberal im Sinne der Befreiung kapitalistischer Interessen, sie war nie demokratisch im Sinne der Beteiligung aller oder auch nur ihrer angemessenen und verlässlichen Repräsentation. Agnolis Analyse des Staats, der den "objektiven Zwangscharakter der Reproduktion" garantiert, und das überzeugende Ergebnis seiner Studie haben auch heute noch nichts an Aktualität verloren.“
 
 
Peter A. Weber
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Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Herrschaftsfreie Organisationsform

Lieber Johannes Heinrichs

[quote=Johannes Heinrichs]Das griechische Wort „kratein“ in „Demokratie“ ist nicht auf „herrschen“ festzulegen, sondern beinhaltet auch regieren und bestimmen, also legitimierte Machtausübung. Auf deren Notwendigkeit und Recht komme ich später. Demokratie heißt Selbstregierung einer Gesellschaft.
[/quote] 

Machtausübung ist gemäß meiner Interpretation kein demokratisches Instrumentarium, denn es bedeutet das Ausspielen von Autorität zu eigennützigen Zwecken – mit anderen Worten: autoritäres Handeln. Demgegenüber ist es etwas Anderes, Erstrebenswertes und Notwendiges, wenn mit fachlicher und charakterlicher Autorität ausgestattete Personen in einer demokratischen Struktur eine Führungsrolle einnehmen. Wenn Demokratie Selbstregierung heißen soll, dann kann dies doch nur durch eine nicht-autoritäre und herrschaftsfreie Organisationsform geschehen. Es gibt auch bereits einen Namen dafür: Anarchie!

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Du Dich offensichtlich noch nicht intensiv mit dem Thema Anarchie beschäftigt hast – zumindest aber nicht vorurteilsfrei. Deine Vorstellungen davon sind völlig einseitig ausgelegt und beinhalten die typischen Fehlinterpretationen im Sinne konservativer Ideologen.

Deine illusionäre Fehleinschätzung der Qualität und der Zielsetzungen der westlichen Demokratien ist meiner Meinung nach geradezu exemplarisch. Leider blendest Du dabei völlig aus, wie im Namen von Demokratie und Freiheit alltäglich und weltweit Menschenrechte und Menschenwürde massiv mit Füßen getreten werden und Kriege aus niedrigen, geostrategischen, rohstoffgierenden und machthungrigen Beweggründen geplant und ohne Rücksicht auf Verluste an Mensch und Natur betrieben werden.

Die von der Mehrheit der Menschen gepflegte Schönwetterphilosophie, die übliche unverbindliche und unverfängliche Konversation rund um das beliebte unterhaltende und zerstreuende Thema Demokratie ist der unbewußte Ausdruck einer Sehnsucht nach einer heilen Welt und Harmonie. Daran ist prinzipiell nichts auszusetzen. Man sollte dabei aber nicht versäumen, sich und andere kritisch zu hinterfragen und dabei die eigene Sichtweise auch gelegentlich hinterfragen zu lassen - dies vor allem hinsichtlich einer praktischen Umsetzbarkeit eigener Gedanken und Denkmodelle.

  • Widerspricht der von Dir gewählte Buchtitel "Revolution der Demokratie“ nicht Deinen Ansichten über die Qualität der Anarchie als mögliche und echte Alternative zur praktizierten Demokratie?
  • Anarchie ist die optimale Form einer lebendigen Demokratie OHNE Herrschaft Einzelner über Viele – was ist daran verkehrt?
  • Ist "Revolution der Demokratie" (wie Du es nennst) ohne Radikalität (radikal primär im Sinne von grundlegend) und ohne Anarchie denk- noch machbar?
  • Wie kann man ernsthaft überzeugt sein, daß bestehende System ließe sich durch Instrumente desselben Systems oder durch Deine politische Theorie der Viergliederung des sozialen Systems oder der wertgestuften Demokratie, kurz Werte-Demokratie, nachhaltig zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger umbauen? Und das nicht nur rumgefrickelt und damit "verschlimmbessert" werden darf, darüber sind wir uns ja mal einig.

Diese berechtigten Fragen stellen in keinster Weise einen Affront gegen Dich oder Deine politische Überzeugung dar. Seit Jahrzehnten forderst Du eine bessere Demokratie und bezeichnest Deine "Werte-Demokratie" als revolutionierende Entdeckung. Peter A. Weber und ich sind uns völlig einig, daß die Umsetzung Deiner durchdachten, politischen Theorie zwar wünschenswert wäre, die Machtverhältnisse in bestehenden Demokratien dies aber nicht zulassen werden. NEVER EVER. Unsere ehrlich gemeinte Zustimmung wird von Dir als "repressive Toleranz" und "gesalbte Versicherungen" bewertet – die Mitleser mögen sich selbst ein Bild von Deinem Toleranzverständnis machen.  

Aufgrund Deiner hier (…und leider auch im Austausch privater Emails) gezeigten Reaktionen könnte man Dich leicht als verbitterten Menschen sehen. Dafür habe ich angesichts Deiner selbst veröffentlichten Biografie sogar ein gewisses Maß an Verständnis. Entschieden zurückweisen muß ich allerdings die uns zugedachte Denk- und Lesefaulheit, welche wir für aufgeklärt und „radikal“ halten würden. Für einen Großteil der Bevölkerung mag dies aber durchaus zutreffen, genau deshalb haben ja die Herrschenden in einer "gelenkten Demokratie" so ein leichtes Spiel, am Volkeswille vorbeizuregieren. Reflektiert man Dein Verhalten gegenüber Andersdenkenden mal kritisch, dann steht dies im krassen Widerspruch zu Deinen ständigen Appellen nach Toleranz und Demokratie. De facto richtet sich Deine Kritik gegen Dich selbst - wie bei einem abgeworfenen Bumerang.

[quote=Johannes Heinrichs]Du (Anm. gemeint ist Peter) redest und schreibst schneller, als Du denken kannst, meinst auch, nichts Neues denken zu müssen. Nein danke!
[/quote]

Deine respektlose Aussage lasse ich mal für sich selbst sprechen. Die Vorwürfe an Peter, seine raschen Reaktionen mit mangelhafter Reflexion gleichzusetzen sind ebenfalls aus der Luft gegriffen. Peter hat sich ja dazu bereits selbst geäußert.. Die Verunglimpfung des seit Jahrzehnten engagierten Ökoaktivisten, Buchautors und nicht korrumpierbaren Widerständlers Jörg Bergstedt - ein Mann mit Prinzipien, konsequenter Logik, Courage und Charakterstärke - finde ich im übrigen auch sehr unangemessen. Seit Mitte der 1990er Jahre engagiert sich Bergstedt gegen die Aussaat genetisch veränderter Pflanzen, da er Gentechnik als Instrument von Herrschaft, Kontrolle und Steuerung ablehnt und sie zudem als schädlich für die menschliche Nahrungskette erachtet. Einer seiner Hauptkritikpunkte ist, dass Gentechnik im kapitalistischen System allein den Konzernen nütze und jedes Forschungsergebnis allein für Profitinteressen benutzt werde. Bergstedt hat sich auch und besonders durch seine konstruktive Kritik an unserer sogenannten Demokratie, an den Machtausübenden und der unterwürfigen, z.T. bereits in Letargie verfallenden Gesellschaft in Wort und Schriften geäußert.


User Andreas W. hat an anderer Stelle des Forums mal folgende Aussagen niedergeschrieben und das Thema auf den Punkt gebracht:


"Was ist Demokratie? Die Herrschaft der Mehrheit über viele Minderheiten. Sehen wir nicht längst, dass unsere "Demokratie" weniger Volksherrschaft, viel mehr aber Herrschaft über das Volk bedeutet? Ja aber, höre ich nun raunen, das Gegenteil von Demokratie ist dann doch Diktatur. Falsch! Wer sich ernsthaft mit dem Anarchismus beschäftigt hat, weiß das.
 
Auch wenn heute kaum jemand Anarchie für wünschenswert hält, weil der Name zu oft diskreditiert wurde. Dabei ist bereits jegliche Form der Ablehnung von Herrschaft ein Stück Anarchie. Antiautorität etwa.Außerdem: Hinter der Demokratie verbirgt sich immer eine Form der Diktatur. So, wie sich hinter Antifaschismus nicht selten Faschismus versteckt.
 
Demokratie ist noch mehr. Sie ist eine Religion. Sie braucht Gläubige, denen man jedes Märchen erzählen kann, wenn es nur gut erzählt wird. Sogar Letzteres gelingt oft nicht. Doch schon Goebbels wusste: man braucht eine Lüge nur oft genung wiederholen, dann glaubt sie die Mehrheit".


Hier ein paar passende Themen als Lesetipps:

► Demokratie ein Traum - Anarchie eine Option? - hier bitte weiterlesen

► Strategien zur Veränderung der Gesellschaft- hier bitte weiterlesen
 

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Rene Wolf
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Verbunden: 19.05.2012 - 09:03
Demokratie als Tarnkappe der Macht


Demokratie als Tarnkappe der Macht

 

Zum Thema Demokratie äußerte sich Prof. Marianne Gronemeyer in ihrem Buch "Die Macht der Bedürfnisse".

Folgendes erinnere ich daraus (kein Zitat):

Zu den Mythen der Gegenwart gehört die Illusion, man könne prinzipiell an der Macht teilhaben. An der Mondlandung, mit der Stimmabgabe bei Wahlen und an der Bedeutsamkeit der eigenen Nation vom Olympiagold bis zu unserer militärischen Übermacht.

Die eigene Identität bestimmt sich über die Identifizierung mit der Macht. Ich selbst bin nichts, der Fortschritt ist alles. Hauptsache fort, Hauptsache weg. Wohin die Reise geht, wissen wir nicht genau. Wir wissen nur, dass uns das Gute immer nur so lange gut genug ist, bis wir etwas Besseres erfunden haben. Und wir erfinden ständig Besseres. Deshalb kann nichts gut sein. Schon gar nicht wir selbst. Es ist, als würde man der Projektion eines Autos hinterher laufen. Man berauscht sich an den Auspuffgasen und befindet sich in der unerfüllbaren Illusion, eines Tages am Steuer dieses Autos sitzen zu können. Aber das Auto ist abstrakt. Es ist eine Projektion unserer Gier, unseres Neides, unserer nie erreichbaren Perfektion.

Und schließlich herrscht der Mythos vom Gewinnen- Können. Vom Aufstieg in der sozialen Hierarchie. Dieser Aufstieg ist deshalb illusorisch, weil er linear gedacht wird. Es gibt keinen ständigen Aufstieg. Über uns ist immer einer, der uns auf der Karriereleiter mit seinem Stiefel- Absatz die Finger bricht. Wenn auch sanft, langsam, kaum spürbar. Unsere gebrochenen Finger sind untauglich, Werkzeuge unseres eigenen Willens zu sein. Als Entschädigung dafür gibt uns die Macht immer wieder ein Krümelchen vom großen Kuchen ab. Dadurch verpflichtet sie uns zum Gehorsam. Die Macht also, welche uns zu Verstümmelten machte, sie profitiert von unserer ängstlichen Ergebenheit. So bleibt die Macht elegant und so gut wie unsichtbar. Wir verteidigen die Macht. Am besten geht das durch Demokratie. Wir bleiben freiwillig in unserer Ohnmacht. Und in der Illusion, dass es nur die Autorität sein kann, die uns erlöst.

Nu pogodi!

René L. Wolf

 

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