Der erste Schrei, just in time

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Peter Kern
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Der erste Schrei, just in time
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Der erste Schrei, just in time

Was, Sie wollen noch natürlich gebären? Pardon, Madame, Sie sind von gestern. Angezeigt ist heute der Wunsch-Kaiserschnitt, frei von romantisierender Natürlichkeit, rational begründet und klinisch sauber durchgeführt.

Wer auf sich hält, gebiert nicht mehr, man wird entbunden. Nicht in der Nacht und nicht am Wochenende. Das passt nicht in den Timetable der Klinik und des Ärzteteams. Es brächte auch Ihre eigene Zeitplanung ärgerlich durcheinander.

Und, bitte, zuhause wollen sie doch nicht im Ernst das Kind bekommen. Hausgeburt, das ist ja pures Mittelalter, das schmeckt nach Nostalgie, das ist nicht auf der Höhe der medizinischen Kunst. Geben Sie sich auch bei der Geburt den heutigen Gesetzen nach Kontrolle und Sicherheit hin. Die medizinisch höchstmögliche Versorgung ist nur in der Klinik bei einem Kaiserschnitt garantiert.

Sie ersparen sich das nervende Warten ins Ungewisse hinein: Wann geht es mit der Geburt nun endlich los? Wann setzen die Wehen ein? Wann kommt das Kind? Das ist höchst ineffektiv. Sie vergeuden unnötig kostbare Zeit. Sie wissen doch: Time is money. Und ausserdem geben Sie mit solcher heute überflüssig gewordenen Warterei das Heft des Handelns aus der Hand. Bei der natürlichen Geburt regiert der Zufall, wohingegen beim Wunsch-Kaiserschnitt präzise Planung alles beherrschbar macht.

Wählen Sie also die Just-in-time-Geburt, jene bedarfssynchrone Produktion Ihres Kindes, in der alles optimal koordiniert wird: Garantierte Anwesenheit des Ärzteteams, keine durch die launische Natur erzwungenen Wartezeiten, präzis festgelegter Auslösezeitpunkt, schmerzfreier Aushub des Kind-Produktes aus dem Mutterleib, zeitressourcensparende Einbestellung des Ehemannes bzw. des Lebenszeitabschnittspartners am Ende der Produktionskette.

Das Kind wird exakt zu dem Zeitpunkt geliefert, zu dem es gewollt wird. Die interorganisatorische ganzheitliche Prozessbetrachtung und Prozessplanung vor der Geburt gibt allen Beteiligten eine sie beruhigende Sicherheit. Vor allem wird durch den Kaiserschnitt der Kindaushub der Laientätigkeit der Mutter entzogen und in die Hände ausgebildeter Spezialisten gelegt. Diese Rationalisierung der Kind-Produktion schliesst von vornherein viele mögliche Komplikationen der natürlichen Geburt aus und erhöht insoweit signifikant die Produktqualität.

Leider geschieht die Just-in-time-Geburt  trotz der sorgfältig festgelegten Auslieferung immer noch im Rahmen der von der Natur vorgegebenen Neun- Monats-Frist. Auf diesen aussertechnischen Herstellungsvorgang haben auch die besten Ärzte keinen nennenswerten Einfluss. Die Ehrgeizigen unter ihnen befällt dann schon einmal die prometheische Scham, dass die Geburt noch nicht die Perfektion der technischen Produktionsprozesse unserer Gerätewelt erreicht hat. Aber: Man arbeitet hart daran. Auch hier wird alles nur eine Frage der Zeit sein. Der medizinisch-technische Fortschritt ist unaufhaltbar. Ziel ist eine Verdichtung der  langen und lästigen neunmonatigen Herstellung. Die angestrebte Minderung der Produktdurchlaufszeit durch den Körper der Frau würde in erheblichem Ausmass die Stückkosten erniedrigen. Aber wie gesagt, das ist nur erst Zukunftsmusik.



Das ist eine Satire, gewiss.

Und als Mann bin ich der Letzte, der sich zu diesem heiklen Thema äussern sollte, zumal ich nicht einmal Mediziner bin. Was ich mitbringe, ist die kleine Erfahrung, bei der Geburt meiner beiden Söhne anwesend gewesen zu sein. Es war jeweils eine normale, eine natürliche Geburt. Der Respekt vor meiner Frau und allen Frauen wuchs ins Grenzenlose.

Ich will mich also erklären, weshalb ich über das Phänomen „Kaiserschnitt“ geschrieben habe. Der „Kaiserschnitt“ gehört, wenn ich recht sehe, auch in den Umkreis des grundsätzlichen Problemzusammenhanges von Könnens-Optimierung und ethischer Verantwortung. Ist es vernünftig, alles, was wir technisch Können, auch zu machen?

In Gesprächen sowohl mit jungen Frauen als auch mit Ärzten höre ich zunehmend von der Bereitschaft, ohne medizinischen Anlass, die Geburt eines Kindes durch einen Kaiserschnitt vornehmen zu lassen. Die Motive sind vielfältiger Art. In Internetforen las ich als Begründung etwa den Wunsch, das Kind an einem so auffälligen Sonderdatum wie den 11.11.2011 zu bekommen. Oft wird die Planung auch an astrologische Vorstellungen gekoppelt: Das Kind soll das Licht der Welt zum Zeitpunkt einer bestimmten Sternenkonstellation erblicken, damit sein Lebensweg von Anfang an positiv determiniert werde. Andere wollen in der Tat schlicht Planungssicherheit: Genau dann und dann würde es gut in die alltäglichen Lebensabläufe passen. Da fallen nicht selten die Interessen der Ärzte mit denen der Frauen zusammen. Wenn der Gynäkologe am Samstag Tennis spielen möchte, ist es geschickt, die Geburt schon am Freitag einzuleiten. Vor allem auch die Furcht vor dem Geburtsschmerz ist ein Grund, ein nachvollziehbarer gewichtiger Grund, sich für einen Kaiserschnitt zu entscheiden. Das Baby-Glück nach Zeitplan wird von einigen Frauen auch als ein selbstbestimmter Vorgang erlebt, der nicht in die, wie sie meinen, Fallen der „natürlichen“ und als „romantisch“ gedeuteten Geburt tappen. Aus dieser Sicht ist der Kaiserschnitt Ausdruck einer modernen emanzipierten Frau. In Deutschland kommt mittlerweile fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt. Damit hat sich die Rate zwischen 1991 und 2007 etwa verdoppelt - von 16 Prozent aller Geburten auf 31,5 Prozent.

Und dennoch: Mit dem nicht medizinisch indizierten Kaiserschnitt wird ein weiterer natürlicher Vorgang unter die Herrschaft der Technik genommen. Der natürliche Vorgang der Geburt wird vom Organischen ins Technisch-Instrumentelle umgebogen. Der Kaiserschnitt ist dann das technische Mittel zum Herstellen des bestellten Kindes, dem man die Chance nimmt, sich von sich aus zu dem ihm gemässen Zeitpunkt  in dieser Welt zu zeigen. Mit dem Kaiserschnitt wird die Natur herausgefordert, sich unserem Willen zu stellen. Ärzte und Schwangere machen sich auf diese Weise zu Herren und Eigentümern der Natur. Sie lassen die Geburt nicht als Geburt zu. Sie machen sie zu einem technischen Vorgang. Sie kennen nicht mehr den Unterschied zwischen einer willentlich geplanten Handlung, in der man aktiv tätig wird, und einem Ereignis, dass man passiv hinzunehmen hat, das einem widerfährt.

Der Widerfahrnischarakter des Lebens wird heutzutage skeptisch gesehen. Man ist nicht mehr bereit, passiv etwas hinzunehmen, man will alles im Griff haben. Bezeichnenderweise sprechen aber immer noch viele Frauen vom Kind als einem „Geschenk“. Das muss nicht theologisch gedeutet werden, das lässt sich auch profan anthropologisch interpretieren. Weder die Mutter, und schon gar nicht der Vater, sind die „Macher“ des Kindes und der Geburt. Die Geburt eines Kindes ist kein Produktionsprozess. Und das Kind ist kein Produkt. Nimmt man die Geburt als ein Widerfahrnis wahr, dann kann man sich ihr in Ehrfurcht nähern und das Kind als ein rational gar nicht mehr fassbares „Geschenk“ erfahren. Der Geburtsakt, metaphorisch gesprochen, hat dann der Gebärenden etwas zu „sagen“, das mit den Instrumenten eines rein technischen Vorganges nicht einzufangen ist. Die Macher dagegen vernehmen nicht mehr, wie und was Geburt und Kind zu ihnen „sprechen“ könnten. Die Folge: Manche Frauen beklagen nach einer Kaiserschnitt-Geburt das fehlende Geburtserlebnis und die verspätet einsetzende Mutter-Kind-Bindung.

Solche Überlegungen führten mich dazu, die kleine Satire zu schreiben. Sie ist kein Votum gegen einen medizinisch notwendigen Kaiserschnitt. Wie auch, das wäre ja absurd.  Sie ist nicht einmal ein Votum gegen die freiwillig vollzogene Entscheidung einer Frau, auch ohne medizinische Indikation einen Kaiserschnitt vornehmen zu lassen. Ein solches Urteil steht mir gar nicht zu. Wohl aber fühle ich mich berechtigt, anzuregen, sorgfältig darüber nachzudenken, ob eine Entscheidung zum medizinisch nicht indizierten Wunsch-Kaiserschnitt möglicherweise nur einem bedenkenswerten Zeitgeist geschuldet ist. Für die hier notwendige Aufklärung kann ich allen betroffenen Frauen und Ärzten ein zum Nachdenken anregendes Buch empfehlen:


Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht

Autorin: Caroline Oblasser / Ulrike Ebner (Mitarbeiterin)

Verlag: edition riedenburg e.U., Salzburg/A (2007 / 2. Auflage 2008)zur Verlagsseite


Kurzbeschreibung:

Das Fotobuch zum Thema Kaiserschnitt, "Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht", zeigt erstmals die Folgen von Kaiserschnitt-Operationen in Wort und Bild. 162 Kaiserschnitt-Mütter im Alter von 20 bis 77 Jahren, mit einem, zwei, drei oder sogar vier Kaiserschnitt-Operationen, wurden für das Buch befragt. Sie alle geben offen und ehrlich Auskunft, 60 Mütter zeigen darüber hinaus ihre Kaiserschnitt-Narbe.

Spätestens hier wird deutlich, dass die Erfahrungen mit Kaiserschnitt-Operationen höchst unterschiedlich sein können. Sie reichen vom traumatischen Erleben bis hin zur großen Erleichterung, ein gesundes Kind geboren zu haben. Die Kaiserschnittnarbe kann wenig sichtbar sein oder wulstig, hell oder rötlich, sie kann körperliche Beschwerden verursachen oder keine Probleme machen.

So unterschiedlich die Kaiserschnitt-Erfahrungen im Buch auch sein mögen, in einem Punkt sind sich die befragten Mütter absolut einig: Sie fordern, einen Kaiserschnitt nur im dringenden Notfall durchzuführen und diese Form der operativen Geburt keinesfalls als Alternative zur Spontangeburt zu betrachten bzw. einzusetzen.  

„Letztlich steht hinter dem Buch Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht die klare Forderung, dass sich die Geburtsmedizin selbst ändern muss, damit Frauen sich wieder verstärkt zutrauen, normal zu gebären.“  (-Deutschlandradio Kultur.)

Peter Kern

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Marie-Luise Volk
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Verbunden: 28.10.2010 - 13:29
Selbstbestimmt auf die Welt kommen


Danke, Peter Kern, für diesen kritischen Beitrag.

Nicht nur die „just-in-time“-Geburten (Kaiserschnitt), sondern auch die „normalen“ Geburten in den üblichen Kreißsälen passen in unser mechanistisches Weltbild. Oftmals besitzen Kreißsäle den Charme eines Schlachthauses, Kälte und Funktionalität ausstrahlend.

Gebärende Frauen werden dem ganz „normalen“ Klinikalltag und den Wirtschaftlichkeits-interessen der Krankenhäuser unterworfen. Weil Frauen wissen, dass das üblich ist, empfinden sie das als „normal“. Sie finden sich mit der technischen Unterwerfung ab.

In seinem aufrüttelnden Vortrag „Ein Bedürfnis des Ungeborenen“ erläuterte am 19.03.2005 der Gynäkologe aus Düsseldorf, Dr. med. Mehdi Djalali, den Unterschied  zwischen einer Geburt in einer technisierten Umgebung und einer auf die Bedürfnisse von Mutter und Kind zugeschnittenen Atmosphäre. Dr. Djalali zeigte anhand vieler Bilder mit wieviel Ruhe und Entspanntheit dem Kind zugestanden wurde, den Zeitpunkt des „Auf-die-Welt-Kommens“ selbst zu bestimmen.

Interessant war das Ergebnis der Befragung von Dr. Djalali, nach der Frauen oftmals nach einer üblichen Entbildung nicht mehr zu einer weiteren Schwangerschaft bereit waren und dies als Grund auch angaben.

 

 

 

 

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