Der große Betrug. Die hartnäckigsten Lügen und Irrtümer über Werbung (WOLFGANG J. KOSCHNICK)

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Der große Betrug. Die hartnäckigsten Lügen und Irrtümer über Werbung (WOLFGANG J. KOSCHNICK)
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Der große Betrug.  Die hartnäckigsten Lügen und Irrtümer über Werbung


Autor: Wolfgang J. Koschnick

Verlag: Tectum-Verlag, Marburg – zur Verlagsseite

ISBN:  978-3-8288-3207-7

broschiert, 372 Seiten, Preis [D] 24,95 €

Das neue Buch «Der grosse Betrug. Die hartnäckigsten Lügen und Irrtümer über die Werbung» setzt sich radikal mit allen in der Fachwelt, der Werbebranche, den Wirtschaftsunternehmen, den Medien und der Öffentlichkeit verbreiteten Mythen und Wahnvorstellungen darüber auseinander, wie Werbung wirkt. Darüber, wie Werbung wirkt oder ob sie überhaupt wirkt, herrschen in der Wirtschaft, in der Politik, beim allgemeinen Publikum und erst recht in der Werbewirtschaft die abenteuerlichsten Vorstellungen.

Aus der Gesamtheit der kritischen Analysen, die auf einer intensiven und jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Forschungsergebnissen aus aller Welt basieren, entsteht ein völlig neues Bild der modernen Marktkommunikation. Die Lektüre sei allen empfohlen, die wissen wollen, wie Werbung wirklich wirkt und wie sie auf gar keinen Fall wirkt, obwohl das alle behaupten.

Der Autor Wolfgang J. Koschnick hat uns freundlicherweise die beiden folgenden Leseproben zur Verfügung gestellt. Im Anschluss eine Rezension von Bernd Jahnke, Professor für Kommunikations-Design. Auch für diese Textfreigabe unseren herzlichen Dank.
 



Leseprobe: Einführung

Werbung ist wie Fußball: Jeder ist ein Experte und weiß genau, wann, wie und wo sie wirkt. Oder auch, wann sie absolut unwirksam ist: nämlich bei einem selbst. Werbung wirkt immer nur bei den anderen, bei den Doofen. Man selbst ist absolut unbeeinflussbar. Glaubt man wenigstens.

Dabei wissen selbst Experten viel weniger darüber, wie Werbung wirkt oder – schlimmer noch – ob sie überhaupt wirkt. Sie behaupten das nur. In Wahrheit haben sie wenig oder gar keine Ahnung. Die meisten Fragen zur Werbewirkung sind völlig ungeklärt. Doch die Werber in den Agenturen und die Forscher in den Markt- und Mediainstituten erzählen ihren Kunden das Blaue vom Himmel herunter, um ihnen weiszumachen, dass sie alle Werbewirkung bestens im Griff haben. Den Teufel haben sie.

Richtige Kenner der Zusammenhänge und ernst zu nehmende Werbeforscher sind sich da ziemlich einig: Wie Werbung wirklich wirkt, weiß man nicht so genau. Im Prinzip läuft alles Wissen über Werbung auf die nicht gerade atemberaubende Feststellung hinaus: Ja, es gibt unglaublich geniale Werbung, die starke Wirkung entfaltet. Man erkennt geniale Werbung auf den ersten Blick, wenn man ihr begegnet. Aber die meiste Werbung ist einfach große Sch…

Das ist für die Forschung nicht unbedingt sehr tröstlich, zumal man solche „Erkenntnisse“ ja auch ganz ohne Forschung im Wege des gesunden Vorurteils gewinnen kann.

Es gibt so gut wie überhaupt keine generellen Regeln über die Wirkung von Werbung. Die einzige allgemeine Regel lautet: Es gibt keine allgemeine Regel. Und wenn es doch mal eine allgemeine Regel zu geben scheint, dann gibt es dazu auch gleich hunderte von Ausnahmen. Eine allgemeine Werbewirkungstheorie kann es gar nicht geben. Werbewirkung hängt von einer unüberschaubaren Vielzahl verschiedener Einflussfaktoren ab, die miteinander interagieren. Die von der Medien- und Werbewirkungsforschung entwickelten Modelle repräsentieren jeweils Ausschnitte aus diesem Wirkungsgeflecht, aber niemals den Gesamtzusammenhang.

Das spricht sehr dafür, dass jede einzelne Werbekampagne und jedes einzelne Werbemittel individuellen Regeln folgt. Und das kann nur bedeuten: Der ganze Ansatz aller bisherigen Werbewirkungsforschung, allgemeine Regeln für Abläufe zu formulieren, die keinen allgemeinen Regeln folgen, ist von Grund auf falsch. Er stammt aus einer Zeit, in der man davon ausging, es gebe so etwas wie eine einzige Weltformel für Werbewirkung. Doch inzwischen ist sicher, dass es die gar nicht geben kann. Die Frage ist in der Tat falsch gestellt.

Ein Zusammenhang zwischen der Wirkung von Werbung auf der kommunikativ-psychologischen Ebene und dem Kaufakt wurde implizit zwar immer unterstellt, ist jedoch nicht nachgewiesen. Die Korrelation zwischen Einstellungsänderungen auf der einen und dem Kaufverhalten auf der anderen Seite ist nach dem heutigen Stand der Forschung bestenfalls gering ausgeprägt.

Das Kaufverhalten wird durch eine Vielfalt von weiteren Faktoren beeinflusst, die bei der Messung der kommunikativen Werbewirkung nicht berücksichtigt werden. Das kann man sich gar nicht oft genug vor Augen führen: Ob Werbung einen Einfluss auf das Kaufverhalten hat, ist überhaupt nicht sicher – egal, was die Werber, die Werbeagenturen oder auch die Medien behaupten.

Jeder Werbeakt, jede Werbemaßnahme und jede Werbekampagne ist einzigartig. Und in jedem Einzelfall gelten andere Regeln: Mal funktioniert eine große Anzeige, mal funktioniert eine kleine Anzeige sogar besser; mal ein langer Spot, mal ein kurzer. Und das ist die einzig wirklich gesicherte Wahrheit über Werbung und der einzig wirklich gesicherte Befund aller Werbewirkungsforschung: Es kommt halt stets drauf an…

Die Unkenntnis der wahren Zusammenhänge hat indes die Werbung treibenden Unternehmen und ihre Agenturen nicht daran gehindert, die Konsumenten in einer wahren Reklame-Sintflut zu ersäufen. Allerdings haben sie nicht damit gerechnet, welche Folgen das für sie selbst hat: Noch nie war der Widerwille breiter Bevölkerungskreise gegen die Dauerberieselung so stark wie heute. Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er weiter wachsen wird.

Ein tiefer Graben klafft zwischen der Werbewirtschaft und den Konsumenten: Die Werber und ihre Auftraggeber, die Werbung treibenden Unternehmen, haben ihn eigenhändig aufgerissen. Nun wundern sie sich, dass die Konsumenten schon längst nichts mehr von ihnen sehen, hören oder sonst wie vernehmen wollen. Die Kluft zwischen beiden ist heute so tief wie nie zuvor, und sie wird sich auch nicht überbrücken lassen.

Fragt man die Leute, was in der Welt ihnen am meisten auf die Nerven geht, so kommt es wie aus der Pistole geschossen: Werbung – Werbung im Fernsehen, im Radio, im Kino, im Internet, auf Trikots von Sportlern, auf Banden, in den Straßen, in Straßenbahnen, Wartehallen, Bahnhöfen und Flugplätzen. Die Leute können sie einfach nicht mehr sehen, die vielen Spots, Riesenplakate, Anzeigen, Banner, Pop-ups, Mailings, Beilagen, die Dinge anpreisen, die den Konsumenten von Herzen gleichgültig sind und die sie nie und nimmer kaufen werden – und sei es nur aus Trotz, weil ihnen die plumpe Anmache Zeit und Lebensqualität stiehlt.

Der ständigen Werbeberieselung entgehen die Konsumenten durch eine Vielzahl von Tricks und Techniken: Abschalten, Wegschauen, Zappen, Zippen, Grazing, Channel Hopping, Bierholen, Toilettenbesuch, Sex nebenher, Ignorieren, Wegdrücken, Adblocking und was es da sonst noch so alles gibt. Sie verhalten sich wie die drei Affen, die weise über alles Schlechte hinwegsehen und nichts Böses sehen, hören oder machen. Kurz: ein Leben möglichst ohne Reklame und ohne Werbung.

Doch die Werber tun noch immer so, als ob sie das alles gar nichts anginge, und erhöhen in tumber Ignoranz die Schlagzahl: noch mehr Werbung, noch mehr Werbedruck – nun auch an den entlegensten Plätzen und den stillsten Örtchen: Selbst die Klosetts sind vor der Aufdringlichkeit der Reklame und ihren Scheißhausparolen nicht mehr sicher.

Doch was erreichen sie damit? Hohe Wirksamkeit ihrer Werbung? Mitnichten. Sie säen aufdringliche Reklame und ernten nackten Hass. Das Publikum fühlt sich belästigt und belagert. Es will nicht unablässig mit Werbung besudelt werden. Es wehrt sich, indem es ihr entflieht.

Im Zeitalter der Demokratie kommt niemand auf Dauer ohne demokratische Legitimation aus. Nur die Werbung beansprucht für sich das Sonderrecht, die Mehrheiten und große Minderheiten pausenlos zu belästigen, und will dafür auch noch geliebt werden. Sie tut so, als benötige sie weder die Zustimmung von Mehrheiten noch die Akzeptanz von Minderheiten. Die Werbung steht im Begriff, sich aus unserer demokratischen Kultur zu entfernen.

Die Werber haben noch nicht einmal ordentlich darüber nachgedacht, was sie dagegen tun können, dass sie einer wachsenden Zahl von Konsumenten gehörig auf die Nerven gehen. Sie sind nicht mehrheitsfähig und im Grunde ihres Herzens nicht demokratisch. Sie drängen sich usurpatorisch auf.

Werbung galt einmal als hohe Kunst der Kommunikation. Heute ist sie zur aufdringlichen Belagerung eines widerwilligen Publikums verkommen. Sie ist lästig wie eine Horde Zecken. Eben blöde Reklame. Das kann keine günstige Wirkung erzielen, sondern nur Ablehnung und Hass erzeugen.


Leseprobe: Der Angriff auf die Privatsphäre rächt sich bitter

Einst war das der große Wunschtraum aller Werbungtreibenden: Man müsste Wege finden, um dem üblen Ruch der Einheits-Massenreklame zu entrinnen und die Personen, die zur eigenen Zielgruppe gehören, ganz persönlich anzusprechen. Am besten mit vollem Namen und unter Bezugnahme auf die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Zielpersonen. Das geht heute, aber es funktioniert längst nicht so reibungslos, wie man sich das erträumt hatte. Im Gegenteil, die Leute fühlen sich belästigt. Instinktiv ahnen sie, dass ihnen die Werbung damit zu nahetritt.

Den Anfang machte die Briefwerbung auf noch hausbackene Art. Direktwerber nutzten die Leistungsfähigkeit von Computern, um in Massenaussendungen jeden Empfänger persönlich anzusprechen. Und die Leute bekamen dann eine Massenaussendung, die auch genauso wie eine Massenaussendung aussah. Aber drauf stand irgendeine persönliche Anrede: Liebe Frau Müller oder Lieber Herr Müller.

Das war dann auch noch in einer Schrift geschrieben, die zu den beliebtesten Schriftarten des Computerzeitalters gehört. Später kamen dann noch Computerschriften hinzu, die aussahen wie eine persönlich mit dem Füllfederhalter geschriebene Handschrift, aber eben gedruckt. Die Folge: Der Unterschied zwischen einer Massenaussendung und einem normalen Geschäftsbrief verschwamm.

Dass die Massenaussendung eine Massenaussendung war, konnte trotzdem jeder erkennen – und wenn es nur daran lag, dass die Anrede und die Adresse so aussahen, als seien sie mit dem Füller geschrieben – zu einer Zeit, als kein Mensch mehr mit dem Füller schrieb. Aber ob ein normaler Geschäftsbrief wirklich ein Geschäftsbrief und nicht etwa auch eine Massenaussendung war, konnte man nicht sofort erkennen. Der benutzte nämlich die gleiche beliebte Computerschrift. Am Anfang wurden deshalb viele ordentliche Geschäftsbriefe zusammen mit den Massenaussendungen und sonstigen Belästigungen auch gleich auf den Müll geschmissen.

Der Traum von der persönlichen Ansprache der Umworbenen in Massenaussendungen hatte einen ersten schweren Dämpfer bekommen. Die persönliche Ansprache war zwar technisch möglich, funktionierte aber trotzdem nicht in der gewünschten Weise. Die Leute wollen offenbar gar nicht allzu persönlich angesprochen werden. Und außerdem sind die ja nicht beschränkt. Sie merken das trotzdem. Doch das war so oder so in der grauen Vorzeit des Targetings.

Mit der Weiterentwicklung der Computer, der Ausbreitung des Internets und der sozialen Netze sind heute die Möglichkeiten der individuellen Ansprache jeder einzelnen Person in der Werbung ins Grenzenlose und über alle Maßen gesteigert worden. Allerdings mit einer völlig unerwarteten Folge: Die Leute fühlen sich durch die personalisierte Ansprache in der Reklame nicht bloß ein bisschen genervt. Sie hassen das.

Sie spüren intuitiv, dass sich hinter der individuellen Ansprache eine neue Form des Missbrauchs privater Daten verbirgt. Sie fühlen sich persönlich angegriffen. Und sie reagieren auf das Eindringen in ihre Privatsphäre mit nacktem Hass gegen die Eindringlinge. Das ganze Konzept der personalisierten Belagerung schlägt unerbittlich gegen die Werbungtreibenden und die Werber zurück. Das Volk wehrt sich gegen eine Bedrohung.

So ergab eine Studie der Hamburger Unternehmensberatung Fittkau & Maaß, dass über 50 Prozent der befragten Anwender es ablehnen, wenn Werbung gezielt auf sie zugeschnitten ist. In Österreich ist der Anteil nach einer anderen Untersuchung mit über 59 Prozent sogar noch deutlich höher. Nur 5,7 Prozent der Nutzer finden personalisierte Reklame nützlich. Der Rest äußerte sich gleichgültig.

Auch Produktempfehlungen, die aus der Analyse des Kaufverhaltens eines bestimmten Nutzers resultieren, sind bei den Anwendern nicht beliebt. 24,3 Prozent lehnen sie ab. Nur 15,4 Prozent finden es gut, Produkte angeboten zu kommen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls für sie interessant sind. Für die Studie „W3B Report Kommunikation & Werbung im Internet“ wurden über 125.000 Nutzer im Oktober und November 2011 befragt.

Personalisierte Werbung im Internet, die sich nach dem Surfverhalten des Internetnutzers richtet, ist noch ein gehöriges Stück aufdringlicher und für den einzelnen Nutzer unheimlicher. Sucht man beispielsweise im Netz nach einem Paar Schuhe der Größe 45, findet man an den folgenden Tagen im Netz massenhaft Werbung für Schuhübergrößen.

Viele Nutzer empfinden diese neue Form der personalisierten Werbung als ein Eindringen in ihre Privatsphäre. Sie fragen sich, was dahinter steht und wie rücksichtslos sie ausspioniert werden, um werblich so berieselt werden zu können. Schließlich registriert der Computer alles, was ein Nutzer in die Suchmaschine eingegeben hat, und soziale Netzwerke verkaufen die Daten ihrer Mitglieder an andere Firmen. Das ist hochsuspekt. Da gibt es irgendwo Rechner mit riesigen Speicherkapazitäten, die jeden Schritt jedes Nutzers registrieren, speichern und systematisch für kommerzielle Zwecke ausschlachten.

Um das Verhalten der Konsumenten zu messen und auszuwerten, setzen die Werbungtreibenden datenbankbasierte Managementsysteme zur Pflege und Verwaltung von Werbeflächen im Internet ein. Diese Adserver sorgen dafür, dass Zielpersonen die passende Werbung zum passenden Zeitpunkt zu sehen bekommen. Mit Hilfe von Cookies lesen sie das Surfverhalten oder Google-Suchanfragen aus und präsentieren den Nutzern Werbung, die auf deren Interessen zugeschnitten ist. Datenschützer jedoch meinen, es stelle einen Eingriff in die Privatsphäre der Nutzer dar, Cookies einzusetzen.

Die zielgerichtete Auslieferung von Werbung im Internet – das Targeting – vermeidet Streuverluste, wie sie bei allen anderen Massenmedien unvermeidlich sind. Auch wenn da vorerst noch so mancher Wurm drinsteckt, funktioniert zielgenau geschaltete Onlinewerbung auf jeden Fall treffsicherer als die flächendeckende Streuverteilung in klassischen Massenmedien. Aber die Sache hat einen gewaltigen Haken: Wer gut zielen will, muss vorher eine Riesenmenge an Daten sammeln.

Harmlose Formen des Targetings beschränken sich auf technische Daten. So kann das verwendete Betriebssystem oder der Browser Auskunft darüber liefern, wie technikaffin ein Nutzer ist. Die IP-Adresse weist oft auf einen geografischen Standort hin. Das lässt sich bei Bedarf in passende Werbung umwandeln. Bei allen Arten des technischen Targetings erhalten die Nutzer dann die Werbung, die auf ihre Software-Umgebung und Hardware-Umgebung zugeschnitten ist.

Das Geo-Targeting basiert auf der Auswertung der geografischen Herkunft des Website-Besuchers. Es ist ein unscharfes, aber auch ein einfach erfassbares Nutzermerkmal; denn durch die Anwendung dynamischer IP-Zuteilungen und Proxy-Server kann in der Regel nicht eindeutig auf eine Person und den Standort geschlossen werden. Interessant ist diese Form des Targetings für geografisch abhängige Werbeangebote oder Informationen.

Auch das Content-Targeting ist noch eine recht einfache Erscheinungsform des Targetings, bei der Werbung in einem redaktionell passenden Umfeld platziert wird. Semantisches Targeting geht einen Schritt weiter und versucht, innerhalb einer Inhaltsrubrik Unterschiede auszumachen. So soll Werbung für Motorräder nicht gerade dort auftauchen, wo der Nutzer sich über Parfümangebote informieren möchte.

Sprachbasiertes Targeting oder Suchwort-Targeting blendet Werbung nach den Begriffen ein, nach denen Nutzer in Suchmaschinen suchen. Wortbasiertes Targeting richtet sich nach Wörtern innerhalb eines Texts, semantisches Targeting steuert nach der Inhaltsanalyse des Gesamttexts aus. Fortgeschrittene Formen des semantischen Targetings analysieren nicht nur den Artikel selbst auf Inhalte, sondern darüber hinaus Kommentare von Lesern.

Das kontextbasierte Targeting analysiert die Merkmale der abgerufenen Inhalte und verweist zum Beispiel auf Artikel oder Produkte mit ähnlichen Inhalten oder auf Werbung mit ähnlichen Schlagwörtern. Das klassische Beispiel ist AdSense von Google, das inhaltliche Zusammenhänge analysiert, indem es unterstellt, dass der Gegenstand der aufgerufenen Information grundsätzlich dem Informations- oder Kaufinteresse des Nutzers entspricht.

Das user-declared information targeting bezieht sich auf Daten, die Nutzer freiwillig abgegeben haben. Dazu gehören soziodemografische Merkmale, die etwa bei einer Registrierung oder einer Newsletter-Bestellung abgefragt werden.

Solche Techniken können auch genutzt werden, um einen früheren Besucher wiederzuerkennen. Die Kombination verschiedener Merkmale bis hin zu installierten Schriften und Plug-ins ist jeweils eine einzigartige Mischung. Speichert man diese Information mit einer Beschreibung der Seiten, die ein Nutzer aufgerufen hat, so entsteht ein Verhaltensprofil. Diese Form der Auslieferung von Onlinewerbung heißt Behavioral Targeting (BT). Es erfasst persönliche Spuren der Nutzer von Onlinemedien durch computergestützte Beobachtung („Tracking“). Das Behavioral-Targeting analysiert den Webtraffic sowie Interaktions- und Transaktionsdaten und leitet daraus Profile von Nutzertypologien ab: „Käufer, die Produkt X gekauft haben, haben auch Produkt Y gekauft“.

Eine Variante ist das Social-Targeting. Es setzt gezielt soziodemografische Informationen von Social-Networking-Plattformen aus Nutzerprofilen ein. Die Daten müssen nicht neu erhoben werden, da sich die Nutzer durch ihre Profileinträge den Merkmalen von Zielgruppen selbst zuordnen. Das entspricht dem Prinzip der Selbstbeobachtung im Gegensatz zum Behavioral-Targeting, bei dem eine Fremdbeobachtung durch technische Mittel stattfindet.

Für das soziodemografische Targeting werden Merkmale wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Nationalität, Postleitzahl und technische Parameter wie Bandbreite, Browser etc. für die Zusammenstellung der Inhalte, Produkte und Werbebanner herangezogen. Grundlage sind direkte Befragungen der Nutzer, die sich irgendwo registrieren. Social-Targeting erlaubt jedoch keine Ansprache auf Grundlage von Verhaltensmerkmalen wie der Einkaufsstättenwahl oder der Verweildauer auf bestimmten Onlineseiten. Deshalb werden Social-Targeting und Behavioral-Targeting meist kombiniert.

Beim psychografischen Targeting wird mit abgefragten Einstellungs- und Interessensdaten das Profil verfeinert. Die Nutzer werden zu Clustern oder auch Milieus mit ähnlichen Einstellungsmerkmalen zusammengefasst. Voraussetzung ist die Befragung des Nutzers.

Um höhere Reichweiten zu erzielen und genauere Datensätze zu erhalten, vermischen Marketingexperten die gemessenen Nutzerdaten mit allgemeinen statistischen Informationen, um Werbung an Nutzergruppen auszuliefern, denen anonymisiert soziodemografische Attribute oder Interessen zugeordnet werden, die auf statistischen Prognosen, Befragungen und externen Daten beruhen. Dadurch werden Nutzermerkmale und -verhalten grundsätzlich vorhersagbar. Deshalb spricht man von predictive behavioral targeting. Es soll Nutzerinteressen im Vorfeld erkennen, damit man den Anwendern beim nächsten Kontakt passende Werbung einblenden kann.

Die umstrittenste Methode ist das Retargeting, bei dem Werbungtreibende Kunden im Netz suchen, die sie verloren haben, und ihnen Produkte anbieten. Retargeting-Kampagnen versuchen, über Wochen hinweg immer wieder die gleichen Produkte an den Mann und die Frau zu bringen. Hat ein Nutzer eine bestimmte Aktion ausgeführt, also auf eine Anzeige geklickt oder eine Bestellung angefangen, aber abgebrochen, wird ihm Werbung vorgeführt.

Erkundigt sich ein Nutzer etwa über den Preis eines Produkts, kann der Artikel Teil einer Retargeting-Kampagne werden. Mitunter stellen einzelne Anbieter komplette Warenkörbe wieder her, die ein Nutzer verworfen hat. In der Mehrzahl der Fälle dürfte das auf eine veritable Belagerung der Nutzer hinauslaufen und von diesen auch so empfunden werden. Wenn ein Nutzer einen Kauf abbricht, könnte man das ja auch so verstehen: Er will nicht kaufen und will folglich auch nicht mit Werbung belästigt werden. Die Werbung hat sich indes – wie so oft – fürs Belästigen entschieden…

Retargeting basiert auf der Nutzung von Cookies, die Daten über die Nutzerinteressen speichern: IP-Adresse ABC hat Webseite XYZ besucht und interessiert sich für Produkt 123. Der Anteil an Retargeting-Werbung an der gesamten Internetwerbung wird auf zwischen 5 und 20 Prozent geschätzt. Für Daten- und Verbraucherschützer ist Retargeting nichts anderes als Wirtschaftsspionage im großen Stil. Zwar betont der weltweit größte Datensammler, Google, seine Daten seien grundsätzlich anonymisiert. Jedoch könnte Google über fast jeden Nutzer ein detailliertes Bewegungsprofil anlegen, aus dem sich Nutzerprofile ableiten lassen, die sensible Daten wie Geschlecht, Alter, Arbeitszeiten, Nutzerverhalten, Einkommen oder Kleidergröße umfassen.

Die Werbewirtschaft hat längst aus dem Internet ein gigantisches Überwachungsregime entwickelt, dem kein Internetnutzer entrinnen kann. Um zu verhindern, dass aus den anonymisierten Nutzerdaten personalisierte Nutzersteckbriefe werden, sieht das deutsche Telemediengesetz beim Retargeting eine Verkürzung am Ende der IP-Adresse vor, so dass die Daten lediglich eine ungefähre Ortskennung des Nutzers zulassen, keine eindeutige Feststellung seiner Identität. Das nützt nur wenig, weil viele Daten auf ausländischen Servern gespeichert sind, gegen die der deutsche Datenschutz machtlos ist.

Beim Behavioral-Targeting und beim Retargeting wäre es dringend geboten, dass Websites eine ausdrückliche Erlaubnis einholen müssen, bevor sie das Verhalten der Nutzer aufzeichnen. Dagegen wehren sie sich jedoch mit Händen und Füßen. Die Verbraucher wollen verhindern, dass ihr Verhalten ausspioniert wird – bislang mit mäßigem Erfolg. Auf Dauer kann das die Onlinewerbung und die einzelnen Werbungtreibenden nur schwer beschädigen.

Die Onlinewerbung hat vorerst noch einen weit weniger angeschlagenen Ruf als die klassische Werbung. Aber wenn sie so weitermacht, wird der bald völlig ruiniert sein. Und ist der erst ruiniert, so lebt es sich doch längst nicht so ungeniert, wie manche Sprücheklopfer einem so einzureden versuchen… (Texte: Wolfgang J. Koschnick)
 



Rezension von Professor Bernd Jahnke:

Koschnix im Reklameland: Werber verhauen und Wildschweine durch's Dorf treiben...

Wir befinden uns im Jahr 2013. Ganz Euroland wird von einer neuen Art der Diktatur beherrscht - der Wirtschaft... Ganz Euroland? Nein. Ein unbeugsamer Autor in einem kleinen Dorf am Bodensee leistet erbitterten Widerstand. Und er macht es dieser Wirtschaft nicht leicht, ihn zu ignorieren oder etwa zu widerlegen. Auch wenn sie es mit einigem Einsatz probiert.

Wolfgang Koschnick hat ein Buch geschrieben, weil er aufräumen will mit Lügen, Betrug, Irrtümern, Unwissenheit und Inkompetenz in der Branche. Und seine Zauberkräfte bezieht er aus einem riesigen Reservoir von Informationen. Die meisten davon stehen eigentlich allen zur Verfügung. Und vieles von dem, was Koschnick da zusammen getragen hat, ist auch hinlänglich in der Branche bekannt.

  • Warum ist sein neues Buch trotzdem ungewöhnlich und provozierend?
  • Sind die Entscheider in der Wirtschaft denn unwissend, lesefaul oder nicht intelligent genug, so dass sie die vorgestellten Zusammenhänge nicht kennen, nicht verstehen oder nicht zur Kenntnis nehmen können oder wollen?
  • Wer sich in der Branche ein wenig auskennt, der weiß, dass das keineswegs der Fall ist, sondern dass gerade dort nicht selten hoch intelligente, gebildete und belesene Leute ihr Geld verdienen. Und warum machen die dann trotzdem soviel falsch?
  • Oder gequirlten Bockmist, wie Koschnick das schon mal formuliert?
  • Warum benutzen sie absurde Argumente oder völlig unzulängliche Methoden, die die einschlägige Forschung längst als nutzlos zu den Akten verbannt hat?
  • Warum verfolgen sie dann Ziele, die ihrem Auftraggeber keinen Nutzen bringen und feiern Erfolge, die keine sind mit Messmethoden, die dafür völlig ungeeignet sind?

Koschnick ist davon jedenfalls offensichtlich genervt und zerlegt systematisch von A (Alkoholwerbung) - Z (Zwei-Hemisphären-Theorie) diese anscheinend so heile Welt. Das ist jedenfalls verdienstvoll und auch schön zu lesen. Seine Argumentationen sind klar und leicht nachvollziehbar und er gibt reichlich Verweise auf Studien, wissenschaftliche Arbeiten und Veröffentlichungen, was es seinen Gegnern schwer macht, gegen ihn anzukommen.

Während einige Artikel, beispielsweise zum Thema Anzeigenformate, emotionale Werbung, geheime Verführer, Jugendwahn, Manipulation, Prominente in der Werbung oder unterschwellige Werbung, doch eher bekannte Sachverhalte rekapitulieren, sind andere wie zum Beispiel über Aufmerksamkeit, Priming, Radiowerbung oder Sonderformen aufgeladen mit Sichtweisen und Erkenntnissen, die nicht jedem zur Verfügung stehen. Auch so diametral orientierte Abschnitte wie "Kreativität" und "Ökonometrie" werden mit gleicher Intensität und Tiefe abgehandelt. Wenn auch ausgerechnet im Zusammenhang mit Kreativität der Hinweis erlaubt sein muss, dass nicht die Werbung kreativ sein muss, sondern der, der sie macht. Und das ist überhaupt nicht das gleiche.

Was mir bei der (ausgesprochen unterhaltsamen) Lektüre allerdings fehlt, das ist eine - für mich als Mitbetroffenen elementare - Trennung zwischen Werbungtreibenden (den in der Regel völlig unkreativen Auftraggebern für Konzepte) und Machern (den kreativen Auftragnehmern in diesem Geschäft). Denn hier sehe ich den wichtigsten Grund dafür, dass Leute, die es sehr oft sehr wohl besser wissen, sinnlose, falsche, flache, wirkungslose oder einfach auch dumme Werbung machen. Wer hat schon große Lust dazu, gegen einen Auftraggeber, der in der Regel wenig oder nichts von Werbung versteht, etwas durchzusetzen, von dem er weiß, dass es richtiger wäre, als das was der will. Vor allem dann nicht, wenn er so intelligent ist, dass er weiß, dass damit ein erfolg auch nicht garantiert wäre. Was ist da wohl das Mittel der Wahl? Und da nutzen denn die klügsten Argumente und die aktuellsten Forschungsergebnisse auch nichts. Vielleicht ist das ja auch ein viel versprechender Ansatz für ein weiteres Buch für Koschnick: Depperte Auftraggeber eines besseren belehren und damit auch den Weg frei machen für intelligente und kreative Werbeschaffende, die es besser wüssten, aber nicht durchsetzen können gegen Auftraggeber, die "wissen, was sie wollen", aber keine Ahnung haben.

Aber das Fehlen dieses Aspektes schmälert das Lesevergnügen an diesem Buch nicht. Und auch nicht den Gewinn, den jeder daraus ziehen kann, der in der Branche arbeitet. Oder in Zukunft arbeiten will. Denn gerade für Berufsanfänger und Studenten liegt hier ein Buch vor, das unter das Kopfkissen gehört. Das kann ich mit bestem Gewissen empfehlen.

B. Jahnke
Professor für Kommunikations-Design