Der historische Kapitalismus (IMMANUEL WALLERSTEIN)

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Der historische Kapitalismus (IMMANUEL WALLERSTEIN)
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Der historische Kapitalismus



Autor: Immanuel Wallerstein

Herausgeber der deutschen Fassung: Hans-Heinrich Nolte

Verlag: Argument Verlag (1. Aufl. 1984, unveränd. Nachdruck Mai 1998)

ISBN-10: 3-886619-040-4

 


Informationen zum Autor: hier bitte weiterlesen
 

Inhalt:


Einleitung .7

Kapitel 1: Die Verwandlung aller Dinge in Waren: Die Produktion von Kapital .9

Kapitel 2: Die Politik der Akkumulation: Der Kampf um die Vorteile .39

Kapitel 3: Wahrheit als Opium: Rationalität und Rationalisierung .65

Schluß: Über Fortschritt und Übergänge .85 / Anmerkungen .98

Nachwort: Edition .99 / Diskussion .101 / Literatur .110


Einleitung:

Von Marxisten und anderen, die zur politischen Linken gehören, ist viel über Kapitalismus geschrieben worden. Die meisten dieser Arbeiten leiden jedoch an einem von zwei möglichen Mängeln: Das eine sind logisch deduzierende Analysen, die von Definitionen ausgehen, was das Wesen des Kapitalismus ist, und dann seinen Entwicklungsgrad zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten untersuchen. Eine zweite Art von Arbeiten konzentriert sich auf vermutete wichtige Transformationen des kapitalistischen Systems zu einem neueren Zeitpunkt, und bei ihrer Untersuchung dient dann die gesamte frühere Zeit als ein mythologisierter Hintergrund, vor dem man die empirische Realität der Gegenwart behandelt.

Was mir dringend erscheint — eine Aufgabe, der in gewissem Sinne meine gesamte neuere Forschung gewidmet ist — ist, den Kapitalismus als historisches System zu betrachten: in seiner gesamten Geschichte und in seiner konkreten einzigartigen Realität. Ich stelle mir deshalb die Aufgabe, diese Realität zu beschreiben, genau zu umreißen, was sich immer änderte und was sich gar nicht änderte (so, daß wir die gesamte Realität mit einem Namen kennzeichnen können).

Ich glaube, wie viele andere, daß diese Realität ein integriertes Ganzes ist. Viele, die diese Ansicht vertreten, argumentieren jedoch in Form eines Angriffs auf andere wegen ihres vermeintlichen »Ökonomismus«, ihres kulturellen »Idealismus« oder ihrer Überbetonung von politischen »voluntaristischen« Faktoren.

Solche Kritik neigt fast naturgemäß dazu, umzuschlagen und der umgekehrten Sünde zu verfallen. Ich habe deshalb versucht, recht direkt die umfassend integrierte Realität zu zeigen und dabei nacheinander seine Ausdrucksformen auf wirtschaftlichem, politischem und kulturell-ideologischem Gebiet darzustellen.

Laßt mich zum Schluß ein Wort zu Karl Marx sagen. Er war eine monumentale Figur in der modernen intellektuellen und politischen Geschichte. Er hat ein großes Vermächtnis hinterlassen das konzeptionell reich und moralisch anregend ist. Wenn er allerdings sagte, er sei kein Marxist, sollten wir ihn ernst nehmen und das nicht als Bonmot abtun.

Er wußte, im Gegensatz zu vielen seiner selbsternannten Jünger, daß er ein Mann des 19. Jahrhunderts war, dessen Vorstellung unausweichlich durch diese soziale Realität begrenzt war. Er wußte, im Gegensatz zu vielen, daß eine theoretische Formulierung nur im Verhältnis zu der alternativen Formulierung verständlich und brauchbar ist, die sie implizit oder explizit angreift, und daß sie angesichts von Formulierungen über Probleme, die auf anderen Voraussetzungen beruhen, gänzlich irrelevant ist. Er wußte, im Gegensatz zu vielen, daß in der Präsentation seines Werks eine Spannung bestand zwischen der Darstellung von Kapitalismus als einem perfektionierten System (das tatsächlich historisch nie existierte) und der Analyse der konkreten alltäglichen Realität der kapitalistischen Welt.

Laßt uns deshalb seine Schriften auf die einzig vernünftige Weise verwenden — als die eines Genossen im Kampf, der soviel wußte, wie er wußte.


Leseprobe aus Kapitel 1:

Die Verwandlung aller Dinge in Waren: Die Produktion von Kapital

Kapitalismus ist zu allererst ein historisches Sozialsystem. Will man seine Ursprünge, seine Funktionsweisen oder seine gegenwärtigen Aussichten verstehen, so muß man seine bestehende Wirklichkeit betrachten. Natürlich kann man diese Wirklichkeit in einer Reihe abstrakter Feststellungen zusammenfassen, es wäre jedoch töricht, diese Abstraktionen wiederum zu benutzen, um die Wirklichkeit zu beurteilen und einzuordnen. Ich schlage deshalb vor, zu versuchen, das zu beschreiben, was Kapitalismus in der Praxis bedeutet, wie er als System funktionierte, warum er sich so entwickelte, wie er sich entwickelte und in welche Richtung er sich gegenwärtig bewegt.

Der Begriff Kapitalismus« stammt von dem Wort »Kapital«. Es wäre deshalb anzunehmen, daß Kapital ein Schlüsselelement des Kapitalismus ist. Was aber ist Kapital? Einmal wird einfach angehäufter Reichtum darunter verstanden. Im Kontext von historischem Kapitalismus hat es jedoch eine speziellere Bedeutung. Es ist nicht einfach der Bestand konsumierbarer Waren oder Maschinen oder legitimer Ansprüche auf materielle Güter in Form von Geld. Auch im historischen Kapitalismus bedeutet Kapital natürlich weiterhin eine solche Akkumulation von Leistungen vorhergehender Arbeit, die nocht nicht verbraucht sind. Wenn man es jedoch dabei beließe, könnte man alle historischen Systeme bis hin zu denen des Neandertalers kapitalistisch nennen, da alle angesammelte Bestände von Ergebnissen schon geleisteter Arbeit kannten.

Was das historische Sozialsystem, das wir historischen Kapitalismus nennen, von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, daß Kapital auf ganz bestimmte Art und Weise genutzt — investiert — wurde. Es wurde mit dem vorrangigen Sinn und Ziel eingesetzt, sich selbst zu vermehren. In diesem System waren vorhergehende Akkumulationen nur insoweit »Kapital«, als sie genutzt wurden, um mehr Kapital zu akkumulieren. Dies war ohne Zweifel, wie wir sehen werden, ein komplexer, verschlungener Vorgang. Es war jedoch dieses unerbittliche und eigenartig eigennützige Ziel der Besitzer von Kapital, die Akkumulation von immer mehr Kapital und die Beziehungen, die die Kapitaleigner eingehen mußten, um ihr Ziel zu erreichen, das wir kapitalistisch nennen. Sicher, dies war nicht der einzige Zweck. Andere Gesichtspunkte wirkten auf den Produktionsprozeß. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Gesichtspunkte im Konfliktfall den Ausschlag gaben. Immer dann, wenn im Laufe der Zeit die Akkumulation von Kapital mit Regelmäßigkeit den Vorrang vor anderen Zielsetzungen erhielt, können wir davon sprechen, ein funktionierendes kapitalistisches System zu beobachten.[....]



Leseprobe aus Kapitel 2:

Die Politik der Akkumulation: Der Kampf um die Vorteile  

Die endlose Akkumulation von Kapital um seiner selbst willen erscheint auf den ersten Blick als sozial absurdes Ziel. Sie hat jedoch ihre Verteidiger, die sie gewöhnlich mit dem langfristigen sozialen Nutzen rechtfertigen, in dem sie endet, wie man sagt. Wir werden das Ausmaß, in dem dieser Nutzen real ist, später diskutieren. Ganz abgesehen von jeglichem kollektiven Nutzen ist jedoch deutlich, daß die Anhäufung von Kapital für viele Individuen (und/oder kleine Gruppen) auf dem Wege die Gelegenheit und Möglichkeit zu einer gesteigerten Konsumtion bietet. Ob solche gesteigerte Konsumtion die Lebensqualität derer verbessert, die von ihr profitieren, ist eine andere Frage und eine, die wir auch zurückstellen.

Die erste Frage, die wir ansprechen werden, ist die, wer den unmittelbaren individuellen Nutzen hat. Es erscheint sinnvoll, zu behaupten, daß die meisten Menschen nicht auf Auswertungen über die langfristigen Vorteile oder über die Lebensqualität, die aus solcher Konsumtion entsteht (entweder für ein Kollektiv oder für die einzelnen) gewartet haben, um zu entscheiden, ob es die Mühe wert ist, um die unmittelbaren individuellen Vorteile zu kämpfen, die so offensichtlich erhältlich waren. Gewiß war dies der zentrale Punkt des politischen Kampfes innerhalb des historischen Kapitalismus. Tatsächlich ist es das, was wir meinen, wenn wir sagen, daß der historische Kapitalismus eine materialistische Zivilisation ist.

Vom materiellen Standpunkt waren nicht nur die Erträge groß für die, die die ersten waren, sondern die Unterschiede in den materiellen Erträgen zwischen der Spitze und der Basis waren groß und wurden im Laufe der Zeit im Weltsystem als Ganzes immer größer. Wir haben die wirtschaftlichen Prozesse, die für diese Polarisierung in der Ertragsverteilung verantwortlich waren, schon diskutiert. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit jetzt der Frage zuwenden, wie Menschen innerhalb eines solchen Wirtschaftssystems vorgegangen sind, um die Vorteile für sich selbst zu erhalten und sie deswegen anderen zu versagen. Wir sollten auch betrachten, wie diejenigen, die die Opfer dieser Fehlverteilung waren, vorgingen, erstens, um ihre Verluste in den Operationen des Systems zu verringern und zweitens, um das System zu verändern, das für solche offenkundigen Ungerechtigkeiten verantwortlich war.[....]


Leseprobe aus Kapitel 3:

Wahrheit als Opium: Rationalität und Rationalisierung

Wie wir wissen, war historischer Kapitalismus in seinem Verlangen prometheisch. Obwohl wissenschaftlicher und technologischer Wandel eine Konstante menschlicher historischer Aktivität war, ist der immer gegenwärtige Prometheus erst im historischen Kapitalismus »entfesselt« worden, um David Landes' Ausdruck zu benutzen. Die grundlegende gemeinsame Vorstellung, die wir uns über diese Wissenschaftskultur des historischen Kapitalismus angewöhnt haben, war, daß sie von edlen Rittern gegen den hartnäckigen Widerstand der »traditionellen«, nicht-wissenschaftlichen Kultur vorangebracht wurde. Im 17. Jahrhundert war es Galileo gegen die Kirche. Im 20. Jahrhundert war es der »Modernisierer« gegen den Mullah. An allen Punkten wurde sie als »Rationalität« contra »Aberglaube« und als »Freiheit« contra »geistige Unterdrückung« bezeichnet. Es wurde angenommen, daß dies verwandt (oder sogar identisch) war mit der Revolte des bürgerlichen Unternehmers gegen den aristokratischen Grundherrn auf dem Gebiet der politischen Ökonomie.

Diese grundlegende Vorstellung von einem weltweiten Kulturkampf hatte eine versteckte Prämisse. Es war eine Prämisse bezüglich Vergänglichkeit. »Moderne« wurde als zeitlich neu verstanden, während »Tradition« zeitlich alt und der Moderne vorausgehend war; in einigen radikalen Versionen der Vorstellung war Tradition sogar ahistorisch und deshalb im Grunde genommen zeitlos.

Diese Prämisse war historisch falsch und deshalb fundamental irreführend. Die vielfältigen Kulturen, die vielfältigen »Traditionen«, die innerhalb der Zeit- und Raumgrenzen des historischen Kapitalismus geblüht haben, waren nicht ursprünglicher als die vielfältigen institutionellen Rahmen. Sie waren sehr weitgehend die Schöpfung der modernen Welt, Teil ihres ideologischen Rüstzeugs. Verbindungen der verschiedenen »Traditionen« zu Gruppen und Ideologien, die dem historischen Kapitalismus vorausgingen, gab es natürlich in dem Sinne, daß diese »Traditionen« oft unter Benutzung schon vorhandenen historischen und geistigen Materials aufgebaut wurden. Darüber hinaus hat die Feststellung solcher überhistorischer Verbindungen eine wichtige Rolle für die Fähigkeit von Gruppen gespielt, in ihren  politisch-ökonomischen Kämpfen innerhalb des historischen Kapitalismus  zusammenzuhalten. Wenn wir aber die kulturellen Formen verstehen wollen, die diese Kämpfe annahmen, können wir es uns nicht leisten, »Traditionen « für bare Münze zu nehmen und besonders, anzunehmen, daß »Traditionen« tatsächlich traditional waren.[....]


Wer sich mit dem Thema "Kapitalismus" tiefgründiger beschäftigen möchte, sollte sich bitte unbedingt auch das kleine Büchlein "Die Ursprünge des modernen Kapitalismus" zulegen, welches antiquarisch für ca. 4-8 € zu finden ist.