Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf? (WOLF WETZEL)

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Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf? (WOLF WETZEL)
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Der NSU-VS-Komplex.  Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?


Autor:  Wolf Wetzel

Verlag:  UNRAST Verlag, Münster (aktualisierte und erheblich erweiterte 3. Auflage Juni 2015) – zur Verlagsseite.

ISBN-13 der 3. Auflage: 978-3-89771-589-9

broschiert, Seiten 232, Preis [D] 14.00 EUR.


Klappentext:

13 Jahre blieb der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) unentdeckt. Zehn Morde wurden begangen, zehn Mal verschoben die Behörden verschiedener Bundesländer die Mordhintergründe ins ›ausländische Milieu‹. Zehn Mal will man keine ›heiße Spur‹ gehabt haben. Dennoch legte man alle zehn Morde in die Blutspur des ›organisierten Verbrechens‹.

Nachdem die Existenz des NSU nicht mehr zu leugnen war, reihte sich eine Panne an die andere. Dass in allen Behörden Beweise verschwinden, Akten verheimlicht, Falschaussagen gemacht, ganze Aktenberge geschreddert werden, beweist, dass weder ›Behördenwirrwar‹ noch ›Kommunikationschaos‹ herrsch(t)en, sondern der gemeinsame Wille, unter allen Umständen zu verhindern, dass etwas ans Licht kommt, was den bisherigen Erklärungen widersprechen würde.

Ab wie vielen Pannen muss man von einem System sprechen?
Wenn über zwei Dutzend V-Männer hervorragende Kontakte zur neonazistischen Organisation ›Thüringer Heimatschutz‹ und zu den späteren Mitgliedern des NSU hatten, waren staatliche Stellen nicht etwa auf dem ›rechten Auge blind‹, sondern ließen sehenden Auges zu, dass über sieben Jahre hinweg zehn Morde begangen werden konnten.

Eine Spurensuche.

 

► Vorwort zur 3. Auflage:

Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?

Mit den Überarbeitungen und Ergänzungen zur 2. Auflage begann der Prozess in München, der die Terror- und Mordserie des NSU strafrechtlich ›aufklären‹ soll. Das zweite Jahr ist vorbei und ein Ende ist nicht absehbar.

Das hat am allerwenigsten etwas mit den rassistischen Terror- und Mordtaten zu tun, sondern mit der Art, wie damals ermittelt und aufgeklärt wurde. ›Ergebnisse‹, die nun kaum noch im Prozess zu halten sind. Jeder weitere Prozesstag verwandelt die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft/BAW in einen Luftballon, dem jetzt die Luft ausgeht.

Die Anklageschrift geht bis heute von der ›Erkenntnis‹ aus, dass der NSU aus drei Mitgliedern bestanden habe, die letzte Überlebende säße auf der Anklagebank. Beate Zschäpe. Die zweite Gewissheit der BAW besteht darin, dass der NSU eine hoch konspirative Zelle gewesen sei und keine strukturellen Verknüpfungen zu anderen neonazistischen Gruppierungen (Blood & Honour, combat 18 usw.) unterhalten hätte. Verbindungen und Übereinkünfte, die auch im Kontext der Terror- und Mordserie genutzt und wirksam wurden.

Die dritte Gewissheit der BAW besteht darin, dass staatliche Stellen in keiner strafrechtlichen Weise darin verwickelt sind, dass es den NSU geben konnte, dass mögliche Festnahmen verhindert worden, dass Ermittlungsarbeiten sabotiert, Täter gedeckt worden sind.

All das erklärten Bundesstaatsanwaltschaft und Gericht auf ihre Weise:

  • »Wir haben bisher noch keine Hinweise auf lokale Unterstützer, auch noch keine Hinweise auf die Verstrickung staatlicher Behörden gefunden.« (Bundesanwalt Herbert Diemer, 2013)
  • »Gegenstand sind die angeklagten Personen und Taten. Ziel kann es nicht sein, mögliche Versäumnisse bei Ermittlungen aufzuklären, dazu gibt es die Untersuchungsausschüsse der Länder und des Bundes.« (OLG München in der Pressekonferenz zu Prozessbeginn, 2013)

Diese Behauptungen waren schon zu Prozessbeginn, im Mai 2013, falsch - und standen ganz in der Kontinuität der vorangegangen dreizehn Jahre währenden Ahnungslosigkeit. Und es sind genau diese Festlegungen, die heute Gefahr laufen, dass der Prozess in München ›platzt‹, weil alle drei Gewissheiten an fast allen Tatorten widerlegt sind.

Was man bis Mitte 2013 wissen konnte, wurde im Buch ausgeführt. Dabei ging und geht es nicht darum, die Wahrheit zu kennen, eine Glaskugel zu den verborgenen Geheimnisse befragt zu haben.

Es geht um die Einhaltung einer ganz einfachen Herangehensweise: Man legt alle verfügbaren Indizien und Beweisstücke auf einen Tisch und ordnet sie verschiedenen Geschehensabläufen zu. Unter dem Vorbehalt noch auftauchender Beweise entscheidet man sich für den Geschehensablauf, der von den Indizien am engsten abgedeckt ist, also die größte Plausibilität hat.

Mit diesem ›Ermittlungsansatz‹ war das im Mai 2013 formulierte Fazit folgendes:

Mitglieder der neonazistischen Kameradschaft Thüringer Heimatschutz (THS) wurden mit enormen staatlichen Aufwand geradezu für den terroristischen Untergrund aktiviert.

Wenn strafrechtliche Maxime ohne Ansehen der Person gelten, dann erfüllen die bereits jetzt bekannt gewordenen taterheblichen und tatbegleitenden Umstände den hinreichenden Verdacht, dass staatliche Stellen eine terroristische Vereinigung unterstützt und gedeckt haben. Ein – ganz vorsichtig formuliertes – Gewährenlassen, das den Tatbestand der Beihilfe (zu Mord) erfüllen kann – was Gegenstand eines Ermittlungsverfahren sein müsste.

Sicher standen und stehen viele der Version der BAW, die auch vom Gericht in München übernommen wurde, skeptisch gegenüber. Zu viele Pannen, zu viele Zufälle mussten ein »komplettes Behördenversagen« rechtfertigen, was in der Dauer, in der Systematik nicht zu halten ist. Alleine die eine Frage würde diesen esoterischen Erklärungsansatz an die Wand fahren:

Warum fallen alle ›Zufälle‹ in ein und dieselbe Ermittlungsrichtung, mit dem immer selben Ziel, die Opfer rassistischer Angriffe zu denunzieren, einem neonazistischen Mordmotiv nicht zu folgen, die Rolle von V-Leuten zu verleugnen, deren Tatbeteiligungen zu decken?

Die gängigste Antwort darauf spricht von staatlichen Behörden, die ›auf dem rechten Auge blind‹ gewesen seien. Eine weit verbreitete Annahme, die bis weit in antifaschistische Zusammenhänge und Gruppen hinein getragen und geteilt wird.

Dass Polizei und Geheimdienste mit mehr ›Augen‹ im Nahbereich des NSU präsent waren, als jemals in der Geschichte eines terroristischen Untergrundes, ist heute kein Geheimnis mehr: Alleine in Gestalt von V-Leuten waren staatliche Behörden mit über 40 ›Kameraden‹ in diesen terroristischen Strukturen vertreten. Nach allen Kriterien eines Untergrundes war dies mehr eine Peepshow, die man hat ›laufen‹ lassen – obwohl das genaue Gegenteil Aufgabe von Polizei und Geheimdiensten gewesen wäre.

V-Leute besorgten gefälschte Ausweise oder gar Blankoausweispapiere, Sprengstoff und Waffen, Wohnungen und Geld. Sie verfassten Grußworte an die abgetauchten THS-Mitglieder, sie publizierten das Terrorkonzept unter Aufsicht des Verfassungsschutzes.

All diese Unterstützungsleistungen setzen direkte und enge Kontakte zu NSU-Mitgliedern, zum ›Netzwerk der Kameraden‹ voraus. Es bestanden also unzählige Möglichkeiten, diese Kontakte für Festnahmen zu nutzen. Sie wurden nicht genutzt.



 

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Wie kann man sich dieses Gewährenlassen erklären? Sind die Ziele des NSU identisch mit denen, die die Terror- und Mordserie nicht stoppen, nicht verhindern wollten? Welchen politischen Nutzen ziehen staatliche Institutionen aus diesem Duldungsverhältnis? Ist der NSU gar eine Erfindung des Staates, wie es Neonazis, Elsässer & co, NSU-Leaks, also ›Fatalist & und der Arbeitskreis NSU‹ glauben machen wollen?

Um sich diesen Fragen zu nähern, ist in dieser 3. Auflage eine neues Kapitel dazugekommen. Es geht um den neonazistischen Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980. Was ist damals passiert? Wie wurden die Ermittlungen geführt? Was weiß man heute?

Im NSU-Kontext kann man an Details belegen, wo und wie staatliche Behörden den Aufbau eines neonazistischen Untergrundes ermöglicht bzw. nicht verhindert haben. Ob diese vielen Puzzleteile ein Bild ergeben, ob sie nur ›spontan‹ zusammenwirken oder eine Systematik abbilden, ist noch offen. Auch die Frage, ob und wann staatliches Handeln zentral veranlasst, koordiniert und gedeckt wurde (wie z.B. die Aktenvernichtungen in allen Behörden ab November 2011)?

Mit aller Vorsicht lässt sich sagen: Es ist eine Gradwanderung zwischen aktiver Unterlassung und passiver Aktivierung eines neonazistischen Untergrundes, zwischen aktivem Gewährenlassen und direkter Unterstützung. Diese Linie präziser, genauer zu zeichnen, ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt.

Der Rückblick auf die 50er bis 70er Jahre hilft hoffentlich dabei, den NSU-VS-Komplex besser einzuordnen und zu gewichten.

Rassismus ist eine wichtige Bedingung, aber keine Antwort für das Gewährenlassen

Das Gewährenlassen des NSU hat sicherlich auch rassistische Motive, die bis in Polizei- und Geheimdienstkreise hineinreichen. Geradezu augenfällig wird das im Großraum Heilbronn, wo Polizisten Mitglieder im Ku-Klux-Klan (KKK) waren. Einer davon war der Vorgesetzte der Polizistin Michele Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn ermordet wurde.

Aber, und das zeigt gerade der Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn: Mit Rassismus ist einiges erklärt, aber nicht alles: Wenn auch die Aufklärung, die Suche nach den Mördern hintertrieben, die Aufklärung auf fast unglaubliche Weise sabotiert wird, dann geht es um mehr, als um einen Rassismus. Deshalb ist ›Heilbronn‹ auch ein Schlüsselereignis. Warum wird selbst ein Mordanschlag auf Polizisten nicht aufgeklärt? Warum wird nicht den vielen signifikanten Spuren nachgegangen, die zu anderen/weiteren Tätern führen würden? Wer und was soll damit gedeckt werden?

Am 16.9.2013 verbrannte ein junger Mann um 9 Uhr in seinem eigenen Auto, auf dem Cannstatter Wasen bei Stuttgart. Dieses Ereignis wurde ausschließlich in der Lokalpresse erwähnt, in Form einer kleinen Polizeinachricht. Kurze Zeit später erfuhr man – ebenfalls in ein paar Zeilen – dass sich der junge Mann aus Liebeskummer selbst verbrannt haben soll. Damit wurde dieser Tod als tragisches, persönliches Ereignis abgebucht.

Es ist vor allem der Familie dieses jungen Mannes zu verdanken, dass auch diese Art der ›Todesermittlungen‹ öffentlich wurde. Sie widersprachen der Selbstmordversion von Anfang an. Sie bestritten das Motiv ›Liebeskummer‹, das die Ermittler aus dem »familiären Umfeld« erfahren haben wollen. Und ihnen ist es zu verdanken, dass der politische Kontext öffentlich wurde, ein Kontext, den die Ermittler kannten und zu verschweigen versuchten: Florian Heilig war ein Aussteiger aus der Neonaziszene rund um Heilbronn. Er befand sich im Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart und er wollte an diesem Tag, um 17 Uhr seine bereits gemachten Aussagen wiederholen und präzisieren. Acht Stunden zuvor verbrannte er qualvoll.

Wie an allen anderen NSU-Tatorten auch, wiederholte sich auch hier diese beschämende und entwürdigende Form der Ermittlungsarbeit, die Art und Weise, wie Medien ›gefüttert‹ wurden, wie sie dabei halfen, die offizielle Version gegen jeden Widerspruch abzudichten. Man denunzierte die Familie, man machte Freunde unglaubwürdig, mit Andeutungen, die nur von Behörden kommen konnten. Vergessen war das Eingeständnis aller Medien, dass sie dreizehn Jahre lang die Version der ›Döner-Morde‹ blind und gefällig mit transportiert und so dazu beigetragen hatten, den neonazistischen Kontext dieser Terror- und Mordserie zuzudecken.

Seit einem Jahr stehe ich mit der Familie, mit politische Aktiven, die sich damit nicht abfinden wollen, in Kontakt. Aus diesem Grund ist ein zusätzliches Kapitel diesen Ereignissen gewidmet – verbunden mit dem großen Dank an die Familie, für das Vertrauen, aber auch für ihren Mut, fast ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen.

Zu guter Letzt möchte ich mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, dass es zu dieser dritten erweiterten Auflage gekommen ist. Bei denen, die das Buch gekauft haben, bei jenen, die die weiteren Recherchen möglich gemacht haben, bei denen, die mir Mut machen, bei denen, die das Risiko teilen, aus all der Vagheit auszusteigen.

Wolf Wetzel

 



► Inhaltsverzeichnis:

 

1. Vorwort zur 3. Auflage

2. Die Gegenwart der Vergangenheit

3. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der Verfassungsschutz (VS), der Rassismus und der Terrorismus - eine Zwischenbilanz und Aufforderung zugleich

4. Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980 – Eine Blaupause für systematische Ermittlungssabotage

5. Der institutionalisierte Rassismus – Führt eine Spur von den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, über die Abschaffung des Asylrechts zum Nationalsozialistischen Untergrund?

6. Die Legende von den spurlos abgetauchten Mitgliedern des Thüringer Heimatschutzes/THS

7. Die Mär vom Behördenwirrwarr

8. Der Nagelbombenanschlag in Köln 2004

9. Der Mord in Kassel 2006 in Anwesenheit eines Verfassungsschutzmitarbeiters

10. Der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007

11. Die Blutspur der Nicht-Aufklärer im NSU-VS-Komplex Baden-Württemberg

12. Vorwort und Interview mit Petra Senghaas alias ›Krokus‹ - Ex-V-Frau des LfV Baden-Wüttemberg

13. Ganz sicher: Selbstmord? Das gestellte Ende des NSU 2011

14. V-Leute im NSU-Netzwerk

15. Über Leichen gehen …. Konsequenzen aus dem ›NSU-Skandal‹

16. Drei Grafiken zum NSU-Netzwerk

17. Wo fängt der Nationalsozialistische Untergrund/NSU an - wo hört der Staat auf?

18. Die Verschwörung der Zufälle

19. Von der schonungslosen Aufklärung bis zum totalen Blödsinn

20. Die Angst der Aufklärer – die Umbrella-Theorie

21. Die Abschaffung des Verfassungsschutzes, der Geheimdienste - wer macht‘s?

22. Stand antifaschistischer Bewegung

23. Faschismustheorien: Von der Renazifizierung über den neuen/institutionellen Faschismus bis zum 4. Reich

24. Zwischen blindem und tiefem Staat – Jenseits obskurer Mächte

25. Wie viel Staat steckt im Nationalsozialistischen Untergrund?

26. NSU-Mord- und Terrorserie – die verdächtigen Opfer

 



Auszug aus dem Buch: Der NSU-VS-Komplex - 3. Auflage, S. 74-85

Der Mordanschlag auf PolizistInnen in Heilbronn 2007

(…) Der Mordanschlag auf PolizistInnen, der dem neonazistischen NSU zugeschrieben wird, weist vier Besonderheiten auf:

  • Alle vorliegenden Indizien und Hinweise führen zu Tätern, die nicht mit den namentlich bekannten NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos identisch sind.
  • Mit den Phantombildern, die mithilfe des schwerverletzten Polizisten und anderer Zeugen erstellt wurden, wurde nie öffentlich gefahndet. Warum?
  • Wenn der Geheimdienst polizeiliches Vorgehen hintergeht, dann ist das ärgerlich und gewollt. Wenn Geheimdienste hingegen bei der Aufklärung eines Mordanschlags auf Polizisten ein Problem werden, dann gerät die institutionelle Hierarchie ins Wanken.
  • Nach diesem Mordanschlag bricht die Terror- und Mordserie des NSU ab. Gibt es einen Zusammenhang?

Über den Tatablauf der tödlichen Ereignisse gab die Polizei weiter bekannt, dass die beiden Beamten auf der Theresienwiese eine Mittagspause gemacht hatten, als sie gegen 13.55 Uhr von unbekannten Tätern angegriffen wurden. Martin Arnold wurde schwer verletzt, die Beamtin Michèle Kiesewetter starb noch am Tatort.

Bis zum Jahr 2011 galt der Mordanschlag auf die beiden PolizistInnen als unaufgeklärt. Dann kam die überraschende Wende. Im ausgebrannten Campingwagen der beiden NSU-Mitglieder, die sich dort das Leben genommen haben sollen, werden neben zahlreichen Waffen, auch die seinerzeit entwendeten Dienstwaffen gefunden. Damit schien alles bewiesen zu sein: Der Mordanschlag in Heilbronn 2007 geht auf das Konto des NSU. Als Motiv wird ein Anschlag auf »zwei Repräsentanten des Staates« genannt, was so verstanden werden soll, dass die PolizeibeamtInnen zufällig als Opfer ausgesucht worden waren. Eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen den PolizeibeamtInnen und den Tätern sollte damit ausgeschlossen werden. Und man legte sich auf Zahl und Namen der Täter fest: Es sollen ausschließlich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewesen sein. Eine Festlegung, die sich am aller wenigsten auf die zahlreichen Zeugenaussagen stützen kann. Nicht minder gravierend ist der Umstand, dass diese Behauptung in völligem Widerspruch zum Ermittlungsbericht des BKA vom Oktober 2012 steht: »Ein eindeutiger Nachweis, daß Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe in Heilbronn waren, konnte bislang nicht erbracht werden.«

Trotzdem klammert man sich an dieses Ermittlungsergebnis bis heute.

Nimmt man dieses haarsträubende Ermittlungsergebnis zur Grundlage, dann bringt man auch die notwendige Fantasie für entsprechenden Geschehensablauf auf:

Zufällig mieten sich NSU-Mitglieder einen Campingwagen. Zufällig fahren NSU-Mitglieder damit 300 Kilometer. Zufällig landen sie in Heilbronn. Zufällig sehen sie einen Streifenwagen, der auf der Theresienwiese ›Pause‹ macht. Zufällig entscheiden sich die NSU-Mitglieder, dass diesmal ›Repräsentanten des Staates‹ Ziel ihres Terrors sein sollen. Zufällig entscheiden sich für die größtmöglichste Wiedererkennungsgefahr, denn zur Tatzeit waren ca. 150 Aussteller auf der Theresienwiese. Zufällig verwenden sie ganz andere Waffen, als sonst üblich. Zufällig kommen sie auf die Idee, sich in den Besitz der Polizeiwaffen zu bringen. Zufällig führt die sofort eingeleitete Ringfahndung zu keinem Ergebnis. Zufällig werden Autokennzeichen notiert, für die es keine Halter gibt. Zufällig werden alle Spuren am Tatort selbst verunreinigt, also unbrauchbar gemacht. Zufällig werden Phantombilder, die mithilfe von Zeugen erstellt wurden, nicht zur Fahndung verwendet. Zufällig erklärt ein hinzugezogener Gutachter die Aussagen des schwer verletzten Polizisten, die präzise und ermittlungsrelevant waren, für unbrauchbar. Zufällig werden auch alle anderen Zeugen, die der offiziellen Version im Weg stehen, mundtot gemacht. Und ganz zufällig endet mit diesem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 die Terror- und Mordserie des NSU.

Gemeinsam ist in diesem Szenarium und diesen Zufällen jedenfalls eines: Sowohl der NSU als auch die polizeilichen Ermittler brechen mit allen Regeln.

Dass bei einem Mordanschlag auf Migranten Ermittlungsgrundsätze missachtet werden, ist an allen Tatorten des NSU belegt.

Bei einem Anschlag auf Polizisten darf man hingegen davon ausgehen, dass nicht ›Pannen‹ die Ermittlungen leiten, sondern der unbedingte Wille, den Mordanschlag auf Kollegen aufzuklären. Während bei den Morden an Kleinunternehmern mit größtmöglichem Aufwand in die falsche Richtung ermittelt wurde, sollte man in diesem Fall davon ausgehen, dass allem nachgegangen wird, jeder Spur, die zu den Tätern führen könnte. Umso überraschender ist der Aufwand, mit dem auch in diesem Fall die Verhinderung der Aufklärung betrieben wurde. Ein Umstand, der fürs Erste schwer zu erklären ist.


Über Leichen gehen …

Wenn Ermittler Spuren und Hinweisen nicht nachgehen, die den Mordanschlag an Kollegen aufklären könnten, wenn Falschaussagen im Amt gemacht werden, wenn ›Kollegen‹ ihren eigenen Kollegen entmündigen, dann handelt es sich nicht um eine Panne. Es müssen Umstände sein, die schwerer wiegen als eine tote Polizistin und ein schwerverletzter Polizist zusammen.

Neben V-Leuten waren auch ungewöhnlich viele Beamte der BF-Einheit (Beweissicherungs- und Festnahme-Einheit) aus Böblingen in Heilbronn. Darüber berichtete der Journalist Thomas Moser im parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg am 20. Februar 2015:

»Nicht weniger als 15 Beamte der BF-Einheit aus Böblingen waren am Tattag in Heilbronn - und das, obwohl die BFE-ler die Anweisung hatten, Urlaub zu machen und Überstunden abzufeiern. Warum also waren dennoch so viele in Heilbronn? Und warum tat fast die Hälfte ihren Dienst in Zivil? Gab es vielleicht Hinweise auf eine bevorstehende Aktion? Waren darin Beamte verwickelt?

Allen vernommenen Beamten wurden die vierzehn Phantombilder vorgelegt. Der Beamte Danyel K. sagt (13.10.2010): Bei dem Phantombild der Frau ›könnte es sich um die Kollegin Yvonne M. handeln‹. Der Beamte Thomas K. sagt, die Phantombild-Frau mit dem Kopftuch komme ihm vertraut vor. Er komme aber nicht drauf, wem sie ähnlich sehe. Der Beamte Jochen R. sagt (14.10.2010), das Phantombild des Mannes, blutverschmiert links, ›sieht so ähnlich aus, wie der Kollege S. Er war an dem Tag im Einsatz, am Bahnhof und zwar in zivil.‹ Der Beamte Reiner M., Polizeidirektion Heilbronn, sagt zu dem Phantombild, das der angeschossene Beamte Arnold erstellen ließ: ›Die Person gibt es. Ich würde sagen, dass der schon mal in einer Sache bei mir auf der Dienststelle war‹.

Es gibt noch mehr Bemerkungen dieser Art über Ähnlichkeiten von Phantombildern mit realen Personen. Die Akten sind unvollständig.

In einem Aktenvermerk vom Dezember 2010 bemängelt die SoKo Parkplatz, dass Unterlagen der Bereitschaftspolizei Böblingen ›nicht vollumfänglich vorliegen‹. In diesen Unterlagen geht es u.a. um die ›NoeP‹-Tätigkeit von Michèle Kiesewetter - NoeP steht für ›Nicht offen ermittelnde Polizistin‹. (…)

Unauffindbar und unaufhaltsam?

Die unterschlagenen und bis heute nicht verfolgten Spuren, die auf weitere neonazistische Beteiligte und/oder Mitglieder des NSU, verweisen, ist die eine Seite.

Es gibt jedoch noch eine andere dunkle Seite, die alle Ermittler geradezu elektrisieren müsste, wenn es ihnen um Aufklärung ginge. Warum bricht die Mordserie des NSU auf ›Ausländer‹ mit dem Mordanschlag auf die beiden Polizeibeamten 2007 ab? Warum stellt kein Ermittler diese Frage, warum geht keine Sonderkommission dieser Frage nach?

Gehen wir von der offiziellen Version aus, dann hatten die Ermittler keine Spur zu neonazistischen Tätern! Dann gab es also weder Fahndungsdruck, noch die Angst, aufzufliegen. Nachdem, was uns offiziell mitgeteilt wurde, hielten sich diese behördliche Ahnungslosigkeit und das unauffindbare Leben der Untergetauchten in Zwickau bis 2011 die Waage und die Hand.

Dann wäre nur noch eine Frage zu beantworten: Warum sollte der NSU mit seinen Morden aufhören, nachdem der Überfall auf die beiden PolizistInnen erfolgreich ausgeführt wurde? Was hat sie davon abgehalten, weiterzumachen, wenn sie niemand aufhalten konnte? (…)

Die Weigerung, den Mordanschlag in Heilbronn aufzuklären, ist eine extrem eitrige Wunde im gesamten NSU-VS-Komplex.

Alle noch vorhandenen und öffentlich zugänglichen Indizien und Hinweise belegen, dass die offizielle Version im Fall ›Heilbronn 2007‹ die unwahrscheinlichste ist. Wenn anhand der tatsächlichen Spurenlage und übereinstimmender Zeugenaussagen andere Täter infrage kommen, dann stellt sich die Frage, warum diese gedeckt werden? Würde es sich ›nur‹ um (andere) Neonazis handeln, darf man wohlwollend davon ausgehen, dass man sie ›fallen‹ lassen würde. Wenn diese noch lebenden Täter hingegen bezeugen würden, dass staatliche Behörden in das Tatereignis in Heilbronn involviert waren, ob in Form der Unterlassung, in Gestalt von anwesenden V-Leuten oder Polizeibeamten, die den Tatort manipuliert haben, dann versteht man, dass niemand an dieser Ermittlungsrichtung ein Interesse hat – weder die letzte, noch die aktuelle Landesregierung.«

Auszug aus dem Buch: Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?, Unrast Verlag 2015, 3. Auflage, S. 74-85

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Information zum Autor auf seinem Blog Eyes Wide Shutweiter
 



UNRAST Verlag, Münster  


Der Unrast Verlag ist ein kleiner Sachbuchverlag mit Sitz in Münster (Westfalen). Er wurde Anfang der 1990er Jahre für linksgerichtete und antifaschistische Literatur gegründet. Sein Motto lautet „Bücher der Kritik“.

Die Mitarbeiter des Verlages sehen sich als politisch engagiertes Kollektiv und verfolgen eine „undogmatische politische Linie“ mit dem Anspruch, sich gegen jede Form von Unterdrückung, Diskriminierung, Nationalismus, Faschismus und Sexismus zu wenden. Dabei sollen die Bereiche Politik und Kultur kritisch verbunden werden.

Der Verlag publiziert nicht nur politische Theorie- und Sachbücher, sondern auch internationale belletristische Literatur, vielfach von in Deutschland lebenden Autoren ausländischer Herkunft. Dazu kommen Länderbeschreibungen wie beispielsweise der „Irland-Almanach“. Zusammen mit anderen linksgerichteten Verlagen versucht Unrast den „vorherrschenden Diskursen gemeinsam emanzipatorische Literatur und Publizistik entgegenzustellen.“


Publikationskonzept:

Das Publikationskonzept ist thematisch und methodisch gesellschaftskritisch ausgerichtet: „Bücher der Kritik“. Ein Ziel ist es etwa, dass Autoren über aktuelle Themen aus einer „Insiderperspektive“ berichten. So kommen weniger Experten zu Wort als eigene Autoren, die aus konkreten Erfahrungen sprechen. Das gilt besonders für Publikationen zu Konflikten im Nahen Osten, Irland oder Mexiko/Chiapas. Oft werden dabei die Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft durch die Perspektive einer Minderheitsgesellschaft – zum Beispiel aus dem Blickwinkel von Einwanderinnen – in den Blick genommen. Im Zentrum der Analysen stehen dabei vielfach meinungsbildende Medienbilder. Mediale Normalisierungsprozesse sollen vor allem in der Buchreihe Edition DISS diskursanalytisch untersucht werden.


Politische Themenbereiche:

  • Die zentralen Programmthemen des Verlags sind u.a.:
  • Medienkritik
  • Diskursforschung
  • Antifaschismus
  • Entwicklungen in der Neuen Rechten und der rechtsextremen Musikszene (Rechtsrock)
  • Antirassismus und Kritische Weißseinsforschung
  • Holocaust-Forschung
  • Antisemitismusforschung
  • radikale Gesellschaftskritik und Geschichte sozialer Bewegungen
  • Kapitalismuskritik
  • Feminismus und Gender Studies
  • Anarchie
  • Postkolonialismus und Globalisierung
  • undogmatische Abweichler in der Arbeiterbewegung
  • Tierrechte


Das Verlagsprogramm beschränkt sich nicht allein auf die deutsche Gesellschaft, sondern beschäftigt sich unter anderem auch mit der Situation und Konflikten im Nahen Osten, der Türkei und Kurdistan, in Irland, den USA, Afrika, Mexiko und den dort unterdrückten indigenen Gesellschaften in Chiapas.


25 Jahre UNRAST Verlag im Zeitraffer:


1989

  • Mai: Gründung des Verlags
  • September: Der Antifa-Kalender 1990 ist die erste Veröffentlichung
  • Dezember: erstes Buch erscheint und begründet die Reihe Feministische Wissenschaft

 1990

  • erster öffentlicher Aufritt mit eigenem Büchertisch auf dem Radikale-Linke-Kongress in Hamburg

1993

  • Ostern: Teilnahme an den Libertären Tagen Frankfurt
  • Mai: erster Auf ritt auf der Mainzer Mini Pressen Messe

1994

  • Gründung der Assoziation Linker Verlage (ALiVe)

ab 1994

  • UNRAST ist jährlich im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse vertreten

1996

  • Buchhandelsvertreter_innen reisen erstmals für den UNRAST Verlag im Buchhandel

1997

  • Gründung der ALiVe-Gemeinschaftsauslieferung

2001

  • UNRAST geht online

2004

  • Edition DISS und die Zeitschrift Krisis wechseln zum UNRAST Verlag

2012

  • erstes E-Book

ab 2012

  • UNRAST ist auch auf der Leipziger Buchmesse präsent

2013

  • Homepage-Relaunch

2014

  • Große Jubiläumsparty: 25 Jahre Unrast Verlag!


     http://www.unrast-verlag.de/