Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen. (STEPHAN HEBEL)

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Online
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen. (STEPHAN HEBEL)
DruckversionPDF version

Deutschland im Tiefschlaf.  Wie wir unsere Zukunft verspielen.


Autor:  Stephan Hebel

Verlag:  Westend, Frankfurt/M. (15. September 2014) – zur Verlagsseite

ISBN-13: 978-3-86489-067-3

Taschenbuch: 240 Seiten, Preis: 16,99 Euro [D], EUR 17.50 [AT], SFR 24.50 [CH], auch als eBook


Verschlafen wir unsere Zukunft?

Uns geht’s gut, erzählt uns die Kanzlerin, unterstützt von vielen Medien. Sie lullt uns mit dem Märchen ein, es könnte alles so bleiben, wie es ist, wenn wir nur weitermachen wie bisher. Und kaum jemand widerspricht, vor allem seit SPD und Grüne um die Rolle als Merkels Juniorpartner konkurrieren. Das heißt aber auch, Opposition muss jetzt mitten aus der Gesellschaft kommen, von uns Bürgerinnen und Bürgern. Denn eines ist klar: Wenn nicht wir die Welt verändern, wird sie uns verändern – mehr, als uns lieb sein kann. Und dann droht auch unsere sogenannte „Insel des Wohlstands“ unterzugehen.


Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Verträumt: Wie wir uns in den Schlaf wiegen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Eine Gesellschaft im Stillstand . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Schlafmittel Medien . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Verschlafen: Vom Ende der Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Das große »Weiter so« . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Opposition allein zu Haus: Die Linke . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Widerstand von oben? Nicht mit Gauck . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Verschnarcht: Politik des Stillstands . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Mit der SPD auf neoliberalem Kurs . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Europa auf dem Holzweg . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Steuern: Staatsschiff mit Schlagseite . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Sozialsysteme: Auf brüchigem Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Wenig Wende mit viel Energie . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Die letzten Aufrechten in der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Aufgewacht: Protest und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Zeit für die nächste Wende . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Tempelhof: Ein Modell . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Wege des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Auf den Inseln des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 213

 



Rezension / Buchtipp von Harry Popow


Duell in Samthandschuhen


Wenn dein Wecker nicht richtig tickt, dann kaufe einen neuen. Wenn aber die Oberen in der Politik dich übers Ohr hauen und du nichts merkst, dann schlafe ruhig weiter. Einem Wecker gleicht das Buch von Stephan Hebel mit dem Titel „Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“. Stephan Hebel ist seit Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt für die Frankfurter Rundschau sowie für Deutschlandradio, den Freitag, Publik Forum und weitere Medien. Er ist langjähriger FR-Leitartikler und Autor. Er diskutiert regelmäßig im Presseclub der ARD und ist ständiges Mitglied in der Jury für das Unwort des Jahres.

Er geht gleich ins Volle, wenn er angesichts der vielen Risse im Fundament der Gesellschaft, wie ungerechte Verteilung des Volksvermögens, Erosion der Sozialsysteme und Ignoranz der Macht gegenüber dem Volk, Merkels Worte, uns gehe es ja gut, man könne so weitermachen, unter scharfen Beschuss nimmt. (S. 7) Damit verdecke man jene Zustände, die den Stillstand in der Politik deutlich markieren. So nicht nur, wie eben angedeutet, das veraltete Sozialsystem, die ärmere Schichten ausschließende Privatisierung, die übermäßig aufgeblähten Exporte, Fehlentscheidungen beim Klimaschutz und bei der Energiewende, die inkonsequente Einwanderungspolitik sowie nicht zuletzt die „einfallslose“ Außenpolitik – bis hin zum militärischen Aufrüsten. (S. 15-18)

Stephan Hebel konstatiert, dass wir die Augen verschließen „vor der Tatsache, dass die Welt uns verändern wird, wenn wir die Welt nicht verändern“. Und er benennt als Ursache diejenigen, „die keinen Wandel wollen, weil sie vom jetzigen Zustand der Welt profitieren“. Die Übermacht des „Weiter so“ präge das Denken und das Lebensgefühl der Gesellschaft. Und dort, wo sich tatsächliche Veränderungen ergaben, so bei der Kinderbetreuung, beim Mindestlohn u.a, da ende Reformpolitik dort, „wo sie nur mit dem Geld der Privilegierten zu bezahlen wäre“: Keine Steuererhöhungen für die Reichen, keine ausreichenden Investitionen in Bildung, Verkehr oder Pflege u.v.a.m (S.16)

Man frage sich, so der Autor, warum es nicht zum massenhaften Widerstand aus der Gesellschaft komme (statt sinkender Wahlbeteiligung, [Anm. Admin H.S.: mangels echter (partei-)politischer Alternativen absolut verständlich :p] kaum einflussreiche Protestbewegungen), wenn es mit punktuellen Veränderungen gelinge, die Tatsache zu verschleiern, dass Unternehmen, Vermögende und Spitzenverdiener vor jeder zusätzlichen Belastung etwa durch Steuern bewahrt werden? Er verweist auf die oft unrühmliche Rolle der Medien, ohne sie insgesamt pauschal zu verurteilen. Deren politisch propagierte Geringschätzung des Sozialen, der Vorrang von Konkurrenz und Selbstbehauptung am Markt haben die geneigten Leser zur Abkehr von der Vorstellung „erzogen“, dass es sinnvoll sein könnte, "sich um mehr zu kümmern, als die eigenen Angelegenheiten“. Selbst ökonomisch und sozial Ausgegrenzte seien offensichtlich „nicht motiviert, an den Verhältnissen etwas Grundlegendes zu ändern“. (S. 25) So kommt es, dass wir „die Zerstörung solidarischer Vorsorgesysteme wie Renten- und Krankenversicherung widerstandslos hinnehmen.“... Das sei der Selbsterhaltung angepasstes Verhalten. Dem sich zu entziehen hieße, „die Rationalität der Anpassung zu durchschauen“. (S. 26/ 27)

Dies aber wollen und können, wie der Autor nachweist, weder die SPD mit ihren nicht eingehaltenen Wahlversprechen zur Sozialpolitik, noch die Grünen, die sich von einer sozial-ökologischen Reformpartei verabschiedet haben, noch die Linke, die es könnte, aber konkretere Alternativen anbieten müsste. Erst recht nicht ein Joachim Gauk noch die Bundeskanzlerin, die Reformen nur so weit begrüßt, „wie sie mit den Interessen der Unternehmen noch vereinbar sind“. (S.128)

Es gelte, so Stephan Hebel, „den Kapitalismus in seiner heutigen Form zu überwinden“. (S. 20) Er meint, deshalb müsse man nicht sofort das Kanzleramt blockieren, aber es tun auch kleine Schritte, sozusagen ein Spektrum des Widerstandes. Dazu zähle er nicht nur das Beispiel der Erhaltung des Tempelhofer Flughafens, sondern auch die Wiederbelebung von Dorfläden, den Kampf gegen die Privatisierung des Wassers, Wahlentscheidungen, Bürgerbegehren sowie öffentliche Projekte und Volksentscheide und die Proteste gegen TiSA und TTIP. Dabei warnt Stephan Hebel auf Seite 187 vor der Gefahr, „von bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen einverleibt zu werden“. [Anm. Admin H.S.: das ist doch längst passiert :p]

Fazit ziehend schreibt er auf Seite 211: „Wenn sich die Initiativen aus der Gesellschaft vermehren und immer besser miteinander verbinden“, … besteht Hoffnung, den Tiefschlaf in Deutschland zu beenden.

Das in einem guten Sprachstil geschriebene Buch gibt reichlich Stoff zum weiteren Nachdenken. So vor allem hinsichtlich der Machbarkeit eines Umbruchs der alles beeinflussenden Macht des großen Kapitals und der Banken. Mit Vernunft und gutem Willen ist da nichts zu deichseln. Auch hat der Autor in diesem Buch nicht ausdrücklich vor den weiteren Gefahren der Schläfrigkeit gewarnt, wie vor neuer militärischer Aufrüstung, vor dem weiteren Vorrücken der NATO gen Osten. Wer glaubt, mit mehr Wachheit z.B. die forcierten Aggressionsbestrebungen der USA gen Russland und China bremsen zu können, dürfte nur in einem weiteren Tiefschlaf seine innere Ruhe finden. Das Duell zwischen OBEN und UNTEN mit einem „Sich-Gegenseitig-Nicht-Wehtun“ geht ohnehin weiter – zur weiteren Täuschung und Verulkung der Völker. Tief schlafen bis es zu spät ist? Die Samthandschuhe sollte man für später aufheben.

Harry Popow, Schöneiche b. Berlin

Erstveröffentlicht in der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) und auf meinem Blog http://cleo-schreiber.blogspot.com
 



Rezension von Rudolf Hickel / via NachDenkSeiten


Wider das herrschaftssichernde Weiter-so à la Merkel:


Machtpolitisch unterdrückte Alternativen sind machbar


Wie gelingt es dieser Großen Koalition bis auf wenige populistische Ausnahmen eine Politik der Status-quo-Stabilisierung durchzusetzen? Welches sind die Kosten, die der Gesellschaft zur ungebrochenen Stärkung der privatisierten Gewinne aufgebürdet werden? Und vor allem wie kann diese als neoliberale „Sachlogik“ zementierte Politik durch gestaltende Alternativen abgelöst werden?

Auf diese brennenden Fragen gibt Stephan Hebel in seinem neuen Buch beeindruckend gut lesbare klare Antworten.

Die Herausforderungen an die aktuelle Politik in Deutschland sind gigantisch. Mitten im Nachbeben der ersten Runde der Finanzmarktkrise, der noch lange nicht bewältigten Eurokrise, wachsender sozialer Ungleichheit, Belastungen der öffentlichen Infrastruktur und neuer geopolitischer Risiken wäre ein demokratisches, strategisch-fundiertes Regierungshandeln dringend erforderlich. Vielleicht haben Viele gerade angesichts dieser Herausforderungen Hoffnungen auf eine Große Koalition gesetzt. Bereits nach einem knappen Jahr der Bundes-GroKo sind solche Erwartungen jedoch zutiefst enttäuscht worden. Das Merkel-Prinzip eines lähmenden „Weiter-so“ prägt mit einigen nur scheinbaren Kurskorrekturen die Politik. Sicherlich liegen zwischen dem Wechsel vom kleinen, liberalistisch frech wie dummen Koalitionspartner FDP zur alten SPD programmatisch Welten.

Trotz vordergründigen Streits etwa über die Regulierung der Arbeitsmärkte setzt sich jedoch am Ende die brutale Merkel-Kompromissmaschine in Diensten der Stabilisierung der privilegierten Herrschaftsverhältnisse durch. Obwohl regierungsoffiziell der Begriff Neoliberalismus kaum auftaucht, ja am Rande sogar kritisiert wird, dient diese GroKo- Politik im Sinne der Marktpflege als Erfüllungsgehilfe der Wirtschaftsmächtigen, die die Wettbewerbswirtschaft oftmals auch gegen die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen dominieren. Da stellen sich viele grundlegende Fragen:

  • Wie gelingt es dieser Großen Koalition bis auf wenige populistische Ausnahmen diese Politik der Status-quo-Stabilisierung durchzusetzen?
  • Welches sind die Kosten, die der Gesellschaft zur ungebrochenen Stärkung der privatisierten Gewinne aufgebürdet werden?
  • Und vor allem wie kann diese als neoliberale „Sachlogik“ zementierte Politik durch gestaltende Alternativen abgelöst werden?

Auf diese brennenden Fragen gibt Stephan Hebel in seinem neuen Buch beeindruckend gut lesbare klare Antworten. Der Titel lautet: „Deutschland im Tiefschlaf – Wie wir unsere Zukunft verspielen“. Diese engagierte Analyse steht für einen unerschrocken aufklärenden Journalismus, der jedoch im medialen Meinungsstrom nur noch am Rande vorkommt. Stephan Hebel vertieft und führt seine Enttarnung des „Merkelismus“ im Vorgängerbuch „Mutter Blamage“ von 2013 fort. Damals stellte er fest:


„In mehr als zwei Jahrzehnten Politikbeobachtung habe ich niemals einen derart eklatanten Widerspruch erlebt zwischen dem Image einer politischen Persönlichkeit und ihrer tatsächlichen Politik. Nie ist es einem Politiker in Deutschland gelungen, derart konsequent auf Kosten der Mehrheit zu handeln und zugleich die Sympathie dieser Mehrheit zu gewinnen.“


Das jetzt auf den Stand der ersten wichtigen Erfahrungen mit der GroKo konzentrierte Buch führt nach einer souverän dokumentierten Analyse zu dem Fazit: Auch mit dem neuen Koalitionspartner SPD ist die Auflösung dieses Widerspruchs nicht zu erkennen. Von den Sympathiewerten Merkels trotz einer schlechten Politik wird jedoch die SPD, die für diese Politik nunmehr (Mit-) Verantwortung trägt, nicht profitieren.

Stephan Hebels wählt für den Buchtitel den mehrfach variierten Begriff „Schlaf“. Konsequent lauten neben dem „Tiefschlaf“ im Buchtitel die vier Kapitelüberschriften: „Wie wir uns in den Schlaf wiegen“, „Verschlafen: Vom Ende der Alternativen“, „Verschnarcht: Politik des Stillstands“ und „Aufgewacht: Protest und Widerstand“. Die fundierten Ausführungen zu den Kapiteln zeigen jedoch, vor allem hinter diesem gesellschaftlich erzeugten Tiefschlaf, der am Ende systemstabilisierenden Stillstand gebiert, verbergen sich harte Auseinandersetzungen allerdings mehr außerhalb des Parlaments sowie die klammheimliche Sicherung der Privilegien der hochkonzentrierten Wirtschaft und der Vermögenden. Schlaf wird zur Droge, die dem Einsatz für Alternativen durch „Protest und Widerstand“ entgegengesetzt wird.

Auf dem Hintergrund der großen Herausforderungen begründet Stephan Hebel sein bitteres Urteil mit vielen Fakten und guten Argumenten. Die GroKo sei die beste Garantie dafür, dass sich trotz eines vorgespielten Aktivismuses an der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, am Abbau von Umweltbelastungen, aber auch an der Benachteiligung des Mittelstands durch den Vorrang für den monopolistischen Wettbewerb grundsätzlich nichts ändern wird. Gemessen am Titel des Koalitionsvertrags vom Dezember 2014 „Deutschlands Zukunft gestalten“ ließen sich die Defizite plakativ benennen: Außer dem Wort Deutschland erwiesen sich die Begriffe „Zukunft gestalten“ als substanzlose, dilatorische Floskeln.

Die kritisch durchleuchteten aktuellen Aktionsfelder der Politik, die meistens mit der Hoffnung auf marktkonforme Selbstlösung wegdefiniert werden, sind: das die Armut nicht bewältigende Sozialsystem, die nach innen und außen rücksichtslose Exportexpansion, die durch unzureichende Verteilung vernachlässigte Binnenwirtschaft, die nicht beherrschte Finanzmarktkrise, die weiter treibende Arbeitsmarktspaltung, die finanzpolitische Schwarze-Null-Manie im Dienste der Schuldenbremsen, die verpassten Chancen der Energiewende sowie die spalterische Europolitik zu Lasten verarmender Krisenländer. Auch die Notwendigkeit einer gerechteren Umverteilung vor allem mit den Instrumenten der Steuerpolitik wird in diesem „Weckruf“ eindrucksvoll begründet. Aber auch die konzeptionslos gefährliche Außenpolitik, die derzeit den Ost-West-Konflikt schürt sowie die Rolle der hochkonzentrierten Unternehmen in der Internetwirtschaft zusammen mit der Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch subtile Spionageinstrumente werden offengelegt.

Gegenüber diesen lesenswerten Politikfeldern wäre es hilfreich, wenn Stephan Hebel zum einen auf die organisierte Lobbyarbeit stärker eingegangen wäre. Die erfolgreichen Bremsmanöver in Deutschland und in der EU bei den sog. Finanzmarktreformen sind ohne die Lobbyarbeit der Finanzmarktoligarchen nicht zu verstehen. Viele gut gemeinte Gesetzesvorhaben, wie das Beispiel Mindestlohn zeigt, werden am Ende auch noch in der letzten Phase der Implementierung durch massive Lobbyarbeit durchlöchert. Zum anderen wäre es hilfreich, die Anatomie Wettbewerbsverhältnisse, die durch die machtvolle und die Politik beeinflussende Unternehmenskonzentration geprägt sind, stärker zu berücksichtigen. Schließlich waren es große Versicherungsunternehmen, die die rot-grüne Bundesregierung erfolgreich für expandierende Lebensversicherungsgeschäfte im Rahmen der ausgeweiteten privaten Kapitalvorsorge bestochen haben.

Dagegen liefert die Verortung des Einflusses der Medien neue Erkenntnisse durch den Insider Stephan Hebel. Es sind vor allem der Kommerzialisierungsdruck sowie die Boulevardisierung, die die neoliberale Grundorientierung zugunsten der Wirtschaftsmächtigen erzeugen. Dabei geht es weniger um direkte Zensur, sondern vor allem um Zugangssperren für kritische Themen. Über Alternativen wird nicht mehr nur unrichtig, sondern gar nicht mehr informiert. Hier zeichnet sich das Ende einer pluralistischen Aufklärung der Öffentlichkeit ab. Hebel spricht von einer systematischen „Analphabetisierung“ durch die Medien.

Stephan Hebel bringt viel Mühe auf, die Rolle der SPD in der GroKo zu analysieren. Schon allein am Wahlprogramm 2013 der Sozialdemokraten gemessen fällt das Urteil über die aktuelle Regierungspolitik negativ aus. Die SPD hält sich zugute, im Koalitionsvertrag einige positive Marken gesetzt zu haben. So etwa die Überschrift zum Arbeitsmarktkapitel „gute Arbeit“, die aus dem gewerkschaftlichen Vokabular stammt. Hier steht der flächendeckende Mindestlohn im Zentrum. Jedoch sind im Gesetz untragbare Ausnahmen etwa für Arbeitslose, die einen neuen Job finden wollen, eingeführt. Auch bei der Kontrolle seien ärgerliche Aufweichungen vorgenommen worden.
 

 

Hebel macht deutlich, dass die SPD das Vertrauen in eine Politik für soziale Gerechtigkeit so lange nicht zurückgewinnen wird, so lange sie sich für die Hartz-Gesetzgebung feiern lässt. Dabei wäre die Entschuldigung gegenüber vielen Betroffenen so logisch wie einfach. Denn die heutigen Mindestlöhne sind die Antwort auf eine Spaltung des Arbeitsmarktes, den die SPD zusammen mit den GRÜNEN vor allem über die Hartz IV-Zumutbarkeitsklausel ausgelöst hatten. Das Hebelsche Fazit leuchtet ein: Wer auf Hartz IV politisch besteht, der wird bei den Mindestlöhnen auch nicht ernst genommen. Auch in anderen wichtigen Feldern zeigt der Autor die Glaubwürdigkeitsfalle der SPD. Auf einen höheren Spitzensteuersatz, eine Vermögensteuer sowie wieder die volle Versteuerung der Kapitaleinkünfte im Rahmen der Einkommensteuer verzichtet die Regierungs-SPD. Dabei ist die wahlpolitische Folge absehbar: Diese Hilfsdienste für die Vermögenden und die konzentrierte Wirtschaft wird, da hat Hebel recht, bei der ökonomisch geförderten Klientel nicht zu wachsender Wertschätzung der SPD führen. Allerdings ist der Frust der von Arbeitsplätzen Abhängigen gewiss.

Der dem Stillstand im Buch gegenübergestellte „Weckruf“ für Alternativen setzt auf „Proteste und Widerstand“. Es geht um eine Zurückdrängung der marktkonformen Ökonomisierung aller Gesellschafts- und Lebensverhältnisse. Die Transformation zielt auf die Rückbettung einer der großen Mehrheit dienenden Ökonomie in die Gesellschaft. Dabei setzt Hebel nicht auf eine Zurückdrängung des zerstörerischen Kapitalismus durch große revolutionäre Bewegungen. Anstatt jedoch auf den St. Nimmerleinstag zu warten, werden erfolgreiche Projekte als „Inseln das Fortschritts“ propagiert. Sie dienen zugleich zur Überwindung der vorangeschrittenen Entdemokratisierung: Zum Beispiel die Proteste gegen die Kommerzialisierung des ehemaligen Flughafens Tempelhof und gegen den Ausbau der Flugbahnen in Frankfurt. Hebel verweist auf Personen im Kampf gegen üble Behördenwillkür gegenüber Arbeitslosen, auf eine Renaissance der Dorfläden durch Genossenschaften, auf Projekte lokaler Energieversorgung sowie auf die Kampagnen zur Sicherung von Wasser als öffentliches Gut. Auch Rekommunalisierungen privatisierter Dienstleistungen stehen auf der alternativen Agenda. Widerstandsbewegungen wie „OCCUPY“ gegen die Finanzmarktmonopole sowie die neuen Protestgruppen gegen TiSA [hier] und TTIP [hier und hier] sind für Hebel hoffnungsvolle Aktionen des Widerstands. Dieser Pragmatismus, mit dem sich zugleich neue Demokratiepotenziale bilden können, ist zwar zurückhaltend, aber mit großer perspektivischer Reformkraft ausgestattet.
 

 

Stephan Hebels Buch geht weit über den selbst gesteckten Anspruch eines „Weckrufs“ hinaus. Im Mittelpunkt steht eine „solidarische Gesellschaft, die den gleichen Zugang zu den wichtigsten Gemeingütern sichert“. Allein die passive Lektüre dieses Buchs lohnt sich. Der volle Ertrag geht jedoch erst auf, wenn die Erkenntnisse aktiv in eine der vielen Bewegungen für eine solidarische Gerechtigkeit, zu der vor allem eine gerechte Teilhabe am Einkommen und Vermögen gehören, eingebracht und weiterentwickelt werden.

Rudolf Hickel / NachDenkSeiten.de

Erstveröffentlicht bei NachDenkSeiten.de > Rezension (Text ist unter Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial. nutzbar)

 


 

Bild- und Grafikquellen:


1. Buchcover: Westend Verlag, Frankfurt/M. – zur Verlagsseite

2. SPD - DIE BÜRGERWÜRGER-PARTEI. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs, QPress.de

3. Cem Özdemir ist seit Nov. 2008 einer der beiden Parteivorsitzenden der Partei Bündnis90/Die Grünen. 2013 wurde er mit dem Orden wider den tierischen Ernst des Aachener Karnevalsvereins ausgezeichnet. Grafikgestaltung: Wilfried Kahrs / QPress

4. siehe 1.

5. "Nie wieder Grosse Koalition". Grafik: Flickr-User wahlkampf09. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0)

6. "Kindchen, lass uns fröhlich sein. Deine Zukunft haben wir längst versemmelt!" Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

7. Rezept zur GroKo: Die SPD, Merkels Zäpfchen. Idee: Helmut Schnug / Technische Umsetzung: Wilfried Kahrs, QPress.de

8. "DIE ABKOMMEN TTIP UND TiSA - wie die EU Lohndumping vorantreiben, die Umsetzung von Sozialstandards untergraben und geltendes Recht umgehen will."  Foto: Artsenal Wordpress. Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e. V. > Homepage > Foto aus einem Eventflyer