Die Last der Vergangenheit

3 Beiträge / 0 neu
Letzter Beitrag
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Die Last der Vergangenheit
DruckversionPDF version

Die Last der Vergangenheit

von Jens Blecker / iknews


Ich traf auf meinem Weg einen jungen Mann, der ging auf und ab. Ich fragte, was er denn mache und er schaute mich an. Seine Augen waren voll Trauer und auch voll Wut. Sein Körper war geschwächt und doch konnte er nicht ruhen. Auf seinen Schultern lastete ein großes Paket – hier und da waren ein paar Löcher, wo wohl ein Stück des Inhalts fehlte; dennoch schien es dadurch nicht minder schwer.

Ich fragte, warum er denn nur ständig auf und ab gehe? Er sagte, dass er gerne über diese Brücke gehen wolle, um auf die wunderschöne Insel gegenüber der Schlucht zu gelangen, doch er wage es nicht, denn seine Last sei so schwer und die Brücke, die er passieren müsse, mache keinen stabilen Eindruck.

Ich fragte ihn, warum er denn die Last nicht ablegen würde, dann könnte er doch ohne weiteres die Brücke passieren. Er schaute mich entgeistert an – ohne sein Gepäck??? Nein, das ginge nicht!

Ich fragte ihn, was denn so Wichtiges in diesem Paket wäre, dass er es denn nicht hier lassen könne. Er lächelte und sagte stolz – es ist meine Vergangenheit.

Er ging auf und ab – sehnsüchtige Blicke folgten dem Weg auf diese wunderschöne Insel – mit Blumen und Früchten und frischem Wasser. Er war wirklich geschwächt, so bot ich ihm Wasser an – dankend trank er.

Ich fragte, ob er seine Last absetzen möge und auf die Insel gehen wolle. Vehement verneinte er – auf keinen Fall würde er seine so kostbare Vergangenheit absetzen, nur, um auf die Insel zu gelangen – es müsse doch schließlich auch einen anderen Weg geben.

Wir schwiegen.

Ich meinte, wenn seine Vergangenheit leichter wäre, so könne er sie vermutlich mit auf die Insel nehmen. Doch wäre sie leichter, so wäre sein Eigengewicht weitaus mehr und so könnte er sowohl mit, als auch ohne Vergangenheit diese Brücke nicht passieren. Dadurch jedoch, dass er nun so lange gegangen sei, mit dieser Last, sei er selber davon so leicht geworden, dass er die Brücke passieren könne, würde er seine Last absetzen.

Er schaute mich erstaunt an – „Es ist also die einzige Möglichkeit diese Brücke zu überqueren?“ fragte er.

Ich schwieg. Er dachte nach.

Dann fragte er mich, ob ich denn kurz für ihn seine Vergangenheit tragen könnte, da er das Paket ungern in den Staub stellen wolle. Er würde jedoch gern einmal auf die Insel gehen, um zu schauen, ob sich denn der Tausch auch lohnen würde.

Ich sagte, dass er gern auf die Insel gehen könne, doch ich würde ihm seine Last nicht abnehmen. Ich zeigte auf den Haufen neben der Brücke und sagte: “All das ist Vergangenheit von vielen anderen, die auch zuvor wie du unentschlossen waren. Es ist deine Entscheidung – wohin es dich trägt.”

Und seit er über die Brücke lief, ruht neben seiner Vergangenheit die Vergangenheit vieler anderer glücklicher, freier Menschen!

Jens Blecker
 



► Quelle der Erstveröffentlichung:  iknews > Artikel

 

Bildquelle:


1. Am anderen Ende der Brücke liegt die Zukunft, vielleicht sogar das Glück.  Foto: Frank Rösch. Quelle: Pixelio.de

2.
Mann auf Karton sitzend, über die Zukunft nachdenkend. Foto: Bernd Kasper. Quelle: Pixelio.de

 

Bild des Benutzers Ludwig der Träumer
Ludwig der Träumer
Offline
Verbunden: 13.12.2012 - 16:25
Brücke wozu, es gibt Versicherungen?


Jeder Tag, morgens noch Zukunft, ist abends gnadenlose unwiederbringliche Vergangenheit. Zu was oder für wen also Vergangenheit leben, die nicht mehr greifbar ist?

Die Last der Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmt mit sich herumschleifen zu müssen, ist eine perfide Lehre der Elite. Erbsünde und Schuld und werden uns seit Urzeiten eingetrichtert. Genauso die Vorstellung einer höheren Ordnungsmacht, der wir uns ‚naturgemäß‘ fügen sollen, um ins Himmelreich zu kommen oder zumindest zur materiell sicheren Existenz bis zum Lebensende. Dafür bezahlen wir freiwillig die nach oben offene Hypothek, die die Elite aufgenommen hat.

Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, lullte mal einer. Was ist des Kaisers? Das, was wir mit uns herumtragen, um es bei ihm zu seinem Wohlergehen abzuliefern. Mit der Schuld(en)-Hypothek, die uns Zukunft verspricht, zahlen wir nie vergänglich den gegenwärtigen Saus und Braus der Elite.

Die Brücke zur selbstbestimmten Freiheit, der Anarchie, trägt die Last der Vergangenheit nicht, auch nicht die der heutigen Gegenwart. Die Angst ist begründet. Wer sie nicht überwindet, kann nur noch versuchen, den Weg über den Styx gehen. Dort wartet schon Mal Charon der Fährmann auf seinen Obolus, sonst droht dir die ewige Verdammnis. Spare schon mal an, wenn du nicht den Ballast abwerfen kannst. Im Hamsterrad der heutigen Ökonomie geht das am besten. Deine Zeit-Sparkasse, Herr Kaiser oder dein Pfaffe berät dich sicher gut um dein Leben für immer zu versichern.
 

Die Hölle ist überwindbar. (Hermann Hesse)

Bild des Benutzers Peter Weber
Peter Weber
Offline
Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Loslassen und Neubeginn
 
Loslassen und Neubeginn
 
 
Die Last der Vergangenheit abzulegen, ist offensichtlich schwerer, als man annimmt. Das Sicherheit verleihende Bekannte ist wohl trotz Unannehmlichkeiten und Belastungen meistens attraktiver als das Neue und Unbekannte, das mit einem gewissen Risiko behaftet ist und aus dem Gewohnheitstrott herausreißt. Die in Jens Bleckers Parabel von der Last der Vergangenheit im Kritischen Netzwerk angesprochene Thematik ist tiefgründig und betrifft das Leben jedes Menschen. Genau genommen ist es sogar sinnvoll, sich bewußt zu machen, daß dieser Schritt der Brückenüberquerung jeden Tag in kleinen Angelegenheiten zu vollziehen ist und nicht nur in entscheidenden Lebensabschnitten. Wer das nicht praktiziert, der tut sich keinen Gefallen und führt ein unnötig beschwertes Leben – auch im übertragenen Sinn.
 
Bei diesem Prozeß fallen – genau betrachtet – zwei Phasen an: Erstens fallen- und loslassen, und zweitens, entlastet und erleichtert einen Neubeginn wagen, der einem symbolischen einem kleinen Tod ähnelt. Es gilt dabei, Ängste zu überwinden und  aus der Sicherheit der Vergangenheit hoffungsvoll und mutig in die Unsicherheit der Zukunft zuschreiten. Als kleines praktisches Beispiel aus dem richtigen Leben ist der aktuelle Fall meiner Lebenspartnerin zu nennen. Sie befindet sich seit letztem Jahr in Rente und hat ihr Leben noch nicht neu sortiert und ausgefüllt. Ich las ihr die Geschichte von der Last der Vergangenheit vor, was sie als lebensnahe Anregung verstanden hat.
 
Im Zusammenhang mit dem Evolutionsprozess menschlichen Lebens – insbesondere dem des Geistes und der Psyche – wurde ich spontan an Erich Fromm erinnert. In seinem Buch „Was den Menschen antreibt“ beschäftigt sich Fromm u. a. mit den Bedingungen der menschlichen Existenz. Dabei arbeitet er fünf Voraussetzungen heraus, von denen eine die der Verwurzelung des Menschen ist. Der betreffende Passus ist für mich einer der grundlegendsten hinsichtlich der individuellen Gestaltung des Lebens jedes Menschen und besitzt einen direkten Bezug zu unserer heutigen Thematik. Deshalb zitiere ich ihn in vollem Umfang:
 
„In den Bedingungen der menschlichen Existenz gründet auch das Bedürfnis des Menschen, irgendwo verwurzelt zu sein. Wir kommen alle aus dem Mutterschoß, aus der Natur. Was heißt es, geboren zu sein? Wir geben dem körperlichen Akt des Geborenwerdens eine viel zu große Bedeutung. In Wirklichkeit ist das Baby nach seiner Geburt in vieler Hinsicht dem Fötus viel ähnlicher, als der Erwachsene dem Baby ähnlich ist. Der einzige Unterschied besteht darin, daß das Baby nach der Geburt körperlich außerhalb der Mutter ist: Es wird von seinem eigenen System ernährt und es hat selbst zu atmen. Das Atmen ist die erste lebensnotwendige Tätigkeit, sobald die Trennung von der Mutter stattfindet. Doch über eine ziemlich lange Zeit bleibt das Baby noch völlig abhängig von seiner Mutter, viel länger als beim Tier. Erst allmählich kommt ein langsamer Entwicklungsprozeß in Gang.
 
Die (psychische) Geburt ist ein Vorgang, bei dem man aus den Bedingungen an Mutter und Natur herauswächst und zu einem eigenständigen Menschen wird. Dieser Vorgang setzt sich das ganze Leben lang fort. Die Tragik des Lebens besteht darin, 
 
daß die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind.
 
Fast jeder Mensch läßt sich dadurch charakterisieren, daß man jeden Punkt benennt, an dem er aufgehört hat, geboren zu werden. Die Geburt eines Psychotikers  hat bereits im Mutterleib aufgehört, weil sich sein ganzes Verlangen darin ausdrückt, in den Mutterleib, zum Tod, in einen Zustand, der vor dem Bewußtsein und vor seiner Individualität liegt, zurückzukehren. Der rezeptive Mensch, der seinen Augenmerk immer auf einen Menschen richtet, der ihn ernähren kann, der ihm etwas gibt, der freundlich zu ihm ist, hat bereits bei der Geburt und an Mutters Brust aufgehört, geboren zu werden. 
 
Geboren zu werden, ist ein andauernder Prozeß, bei dem wir die Bindungen an die Vergangenheit, an die Mutter abschneiden und bei dem sich eine neue Situation ergibt, mit der wir durch unser eigenes Tätigwerden fertig werden. Darum ist das Atmen so wichtig, nicht nur körperlich gesehen, sondern im psychologischen und symbolischen Sinne. Wie der Vorgang der Trennung von der Mutter beim Geborenwerden nur aufgrund des ersten eigenen Tätigseins – durch das Atmen – ermöglicht wird, so ist jedes Geborenwerden psychologisch nur möglich, wenn wir uns ein neues Tätigsein aneignen.
 
Ich glaube, daß man bei jedem Menschen zwei Tendenzen beobachten kann: einen Wunsch zurückzukehren und einen Wunsch, geboren zu werden. Man kann es auch anders formulieren: eine Angst, das, was gewiß ist, die Bindungen an da Vergangene -, loszulassen, und gleichzeitig das Verlangen, sich von der Vergangenheit und Gegenwart dieser Situation weg in eine neue Situation zu bringen und zu einem neuen Tätigsein zu bewegen. Was Freud mit Lebens- und Todestrieb gemeint hat, läßt sich meines Erachtens genauer durch die Neigung zur Aggression oder die Neigung zum Geborenwerden beschreiben.
 
Jeder Vorgang des Geborenwerdens, jeder Schritt zu etwas Neuem, ist mit Ungewißheit und Angst verbunden und erfordert Glauben. Gewiß ist nur das Vergangene, ja das einzig wirklich Gewisse ist das Tote. Jedes Geborenwerden, jeder Fortschritt, jede Evolution, jedes Auftauchen ist mit Ungewißheit verknüpft, und gleichzeitig ist mit der Natur des Menschen der Wunsch gegeben, aus der Vergangenheit aufzutauchen, weil die Vergangenheit ab einem bestimmten Zeitpunkt zur Fessel wird. Neurose wie Psychose kann man als die Unfähigkeit definieren, jenseits eines bestimmten Punktes noch zur Geburt zu kommen.“ 
 
Der nächste Satz folgt im Kontext unmittelbar auf letzten, obwohl er eigentlich einen anderen Bereich, nämlich die psychische Gesundheit betrifft:
 
„Nebenbei bemerkt ist das, was wir Neurose und Psychose nennen, weitgehend kulturell bestimmt: Wir nennen jeden normal, der so verrückt wie der Durchschnitt ist, das heißt, der nur so entwickelt ist wie der Durchschnitt.
 
In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein weiteres Buch von Fromm, die „Pathologie der Normalität“Übertrieben ausgedrückt könnte man sagen, daß die wahren Irren und Kranken nicht in der Psychiatrie sitzen, sondern draußen frei herumlaufen!
 
 
MfG Peter A. Weber
Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden.