Die Politisierung des Bürgers (FRANZ WITSCH)

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Die Politisierung des Bürgers (FRANZ WITSCH)
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Die Politisierung des Bürgers

Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen

Erster Teil: Zum Begriff der Teilhabe

Autor:  Franz Witsch

Verlag: Books On Demand (Januar 2009, überarbeitete Neuauflage Jan. 2015)

ISBN  978-3-8370-4369-3

Paperback, 220 Seiten, Preis € [D] 16,75

Die Politisierung des Bürgers ist bemüht, dem Paradoxon einer Entpolitisierung bei um sich greifender Armut auf die Spur zu kommen, indem sie einmal mehr das Subjekt, resp. den einzelnen Bürger ins Zentrum des Interesses rückt, freilich ohne ihn, wie traditionell üblich, auf einen Sockel zu heben. Dort ist er nicht als ein der Analyse zugänglicher sozialer Sachverhalt begreifbar.

Die Probleme liegen im Innen-Außen-Mechanismus, der sich zugleich im Mikrokosmos des menschlichen Innenlebens abbildet, freilich nicht im Sinne einer Eins-zu-Eins-Identität von Innen und Außen (Ist-Soll-Differenz). Die subjektive Seite existiert unter der Voraussetzung sozialer Sachverhalte, die primär und zugleich dem Subjekt von außen gegeben sind. Sie stehen zum imaginativen Innenleben des Subjekts in einem notwendigen Verhältnis, das heißt, das Subjekt als solches ist nicht existent.

Innen (imaginative Intersubjektivität) und Außen bilden sprachgestützt interaktive Strukturen aus (reale Intersubjektivität). Diese sind im Interesse eines zureichenden Gesellschaftsbegriffs gehalten, sich an Normen auszurichten, auf die sich alle Menschen einer Gesellschaft verständigt haben, und die für jedes Subjekt unmittelbar einklagbar gelten müssen. Sie sind indes nicht unverrückbar und schon gar nicht unmittelbar einklagbar für alle im Grundgesetz definiert, so das in Art.2 verankerte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das gemäß Art.79 mit 2/3-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat angetastet werden kann.

Ein Gesellschaftsbegriff, der sich lediglich unter Vorbehalt an unteilbare und unveräußerliche Grundrechte gebunden fühlt, kann nicht als hinreichend gelten. Genau dies, so die Arbeitsthese des Buches, ist der tiefere Grund für eine Entpolitisierung der Öffentlichkeit (bei gleichzeitig um sich greifender Armut), die der Bürger in sich befördert, weil eigene Bestandsregungen ihm das unausgesetzt zuflüstern (meinem Kind soll es besser gehen; S. 197f). Der herrschenden Politik kommt das entgegen, denn sie gedeiht als Geschäft am besten auf dem Rücken eines entpolitisierten Bürgers.

 

Inhalt

 

Vorwort von Werner Hajek......................................... 9

Vorwort zur Neuauflage........................................... 14

Einleitung............................................................... 22

1.   Begriffliche Grundlagen....................................... 31

     1.1 Auch Erzieher müssen erzogen werden............. 31

     1.2 Wandel und Wandlungsfähigkeit....................... 33

     1.3 Die drei strukturellen Ebenen sozialen Wandels... 35

     1.4 Der Struktur- und Prozessfetisch..................... 40

     1.5 Das Rationalisierungsproblem.......................... 41

2.   Krankhafte Projektion......................................... 47

3.   Theoriebildung durch die Wahrnehmung hindurch..... 54

4.   Vom Gefühlsimpuls zur Wahrnehmungsstörung........ 64

Exkurs zur Geldtheorie:

Kritik am Mindestlohn und Überlegungen zur Expropriation der Expropriateure.................................................. 88

     Ex.1 Gibt es eine Alternative zum herrschenden System?  102

     Ex.2 Die Expropriation der Expropriateure............. 115

     Ex.3 Der Mindestlohn setzt auf Marktgläubigkeit..... 120

5.   Zur Verdrängung des alltäglichen Nahbereichs....... 131

     5.1 Verschiebung des Gefühls im Objektbezug....... 132

     5.2 Imaginative Intersubjektivität........................ 141

     5.3 Zur Funktion des Intimen.............................. 144

6.   Zur Politik des alltäglichen Nahbereichs................. 148

     6.1 Rührseligkeiten........................................... 150

     6.2 Abheben im Locked-in-Syndrom... ................. 157

     6.3 ...geht mit Bewegungsunfähigkeit einher......... 167

     6.4 Sich selbst tragende soziale Strukturen........... 172

7.   Ödipus, ein Theoriekonstrukt zur Entpolitisierung.... 183

8.   Auf der Suche nach der verlorenen Zeit............... 190

Quellen................................................................ 216

Namensregister..................................................... 220

Abkürzungen, siehe Die Politisierung des Bürgers, 2. Teil


____________________________________________________

Vorwort

Dieses Buch könnte der Ansatz zu einem Manifest sein. Allerdings ist die vorliegende Arbeit ein Suchen und Vortasten, und deshalb kann hier niemand ernstlich die erschütternde Wucht des 1848-er Pamphlets von Marx und Engels erwarten. Doch ergeben sich zwischen beiden Texten durchaus wesentliche Parallelen. Von der Methode her ist es die Bereitschaft, bei der Beobachtung des Zeitgeschehens und der Auseinandersetzung mit anderen Autoren ausgetretene Pfade zu verlassen. Es wird nach neuen Horizonten gesucht. Von der Sache her ist es die jeweilige Widerspiegelung eines historischen Umbruchs mitsamt seinen schweren sozialen Verwerfungen. Wie Marx und Engels den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft reflektierten, beschreibt auch "Die Politisierung des Bürgers" das Ende einer historischen Epoche und das Heraufdämmern einer neuen. Von ihr weiß noch niemand wirklich, was sie uns bringen wird. Wie das kommunistische Manifest der sich formierenden Industriearbeiterschaft eine Stimme geben wollte, kann auch "Die Politisierung des Bürgers" als Manifest verstanden werden, nämlich als Manifest von ausgegrenzten Schichten, deren Recht auf Teilhabe es nachdrücklich vertritt. Wobei Teilhabe, das Thema des hier vorliegenden ersten Bandes, sich ausdrücklich nicht nur auf die zur Disposition Gestellten bezieht. Ganz im Gegenteil: Grundlage des Konzeptes ist “das Allgemeininteresse, das alle Menschen einschließt”. Teilhabe soll als das gemeinsame Recht aller Bürger zum Hebel der Veränderung werden.

Der Autor des Buches lebt in Deutschland, und das merkt man – auch wenn er in der Auseinandersetzung mit anderen Autoren ganz selbstverständlich nationale Grenzen ignoriert. Sein Daseins-Hintergrund ist die Implosion zweier deutscher Lebensformen. Gleichheit und Gerechtigkeit für alle war Anspruch und Heilsversprechen der einen deutschen Republik. Wohlstand und Gerechtigkeit für alle hatte die andere zum offiziellen Daseinszweck erhoben. Weder der marktwirtschaftliche noch der staatsmonopolistische Kapitalismus zeigten sich dauerhaft in der Lage, solche Verheißungen in die Praxis umzusetzen und allen ihren Bürger zugleich Freiheit, Würde und wirtschaftliches Wohlergehen zu garantieren. So wurde der autoritäre Gleichheitsstaat der Monopolkapitalisten von Wandlitz genauso Geschichte wie die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der Wirtschaftswunder-BRD.

Aus dem Zusammenbruch der DDR und dem Zerbröseln der alten Bundesrepublik erheben sich graue Massen von Ausgemusterten und auf die Seite Geschobenen. Das Stichwort Hartz-IV hat den Marxschen Begriff der industriellen Reservearmee ins Reich der Geschichte verbannt. Er passt nicht mehr. Denn das Wort von der Reservearmee hat bei aller Bitterkeit doch mehr Hoffnungsbotschaft als ein Fördern und Fordern, dessen Unaufrichtigkeit sein dauerhaftes Kainsmerkmal bleibt. Der Begriff der Reserve trägt immerhin das schwache Versprechen in sich, dass man irgendwann auf sie zurückgreift. Dieses Versprechen kann unter gegenwärtigen Verhältnissen keiner mehr guten Gewissens geben. Arbeitslosengeld-II scheint für eine wachsende Mehrheit der Betroffenen die Weiche zu einem dauerhaften Abstellgleis zu werden. Hier entsteht keine Reservearmee, sondern eine Heerschar von Überflüssigen und vermeintlich Untauglichen, von armen Kindern und Altersarmen, deren Zukunftsgewissheit nur in der Gewissheit besteht, keine Zukunft zu haben. Ein weiteres Wort, das nicht mehr auf die neuen Phänomene passt, ist das viel benutzte von den Randgruppen. Wo ist der Rand einer Gesellschaft zu suchen, deren Mitte sich auflöst?

Dieser erste Band handelt also von Teilhabe. Dafür, dass der Begriff im Mittelpunkt steht, bleibt er (noch) erstaunlich vage, er wird noch mehr mit Leben gefüllt werden müssen.

  • Wie könnte lebendige Teilhabe in der Praxis aussehen?
  • Wie könnten gegenläufige Interessen verhandelt werden?

Die Voraussetzung für die angestrebte Teilhabe wird hingegen wiederholt hervorgehoben: die konkrete, individuell einklagbare Gültigkeit der Menschenrechte auf Unantastbarkeit der Würde und auf körperliche Unverletzbarkeit. Sie sollen den Ausschluss aus der Teilhabe unmöglich machen. “Eine zu schmale Basis für ein strategisches Konzept”, befand ein Kritiker des ungedruckten Manuskriptes, und man ist spontan geneigt, dem zuzustimmen. Doch letztlich ergeben sich aus diesen beiden als absolut gesetzten Rechten erstaunliche und weitreichende Konsequenzen. Sie leiten zum Beispiel zu einem Pazifismus nach Innen wie nach Außen, der sich gegen Panzer, Folter und Schlagstöcke, aber auch gegen geworfene Pflastersteine richtet. Und welche Folgerungen ergeben sich aus beiden Grundrechten für die soziale Versorgung, gegen mangelnde Förderung von Kindern? Ein einklagbares Recht auf Würde und Unversehrtheit führt auch zwangsläufig zum Angriff auf Abhängigkeitsverhältnisse, so in der Pflege oder der Behinderten-Betreuung. Denn es bleibt ein ständiges Verleugnen, wie schnell hier Abhängigkeit zu alltäglicher Gewalt führt, und das sowohl in der privaten wie in der institutionellen Pflege und Betreuung. Gerade haben übrigens die Sozialtechniker ein sperriges neues Fachwort für Teilhabe ausgeheckt: Inklusion (deutsch: Einschluss) soll Integration toppen. Doch was ist der muntere Wechsel von Worten, wenn die Realität unbefriedigend bleibt? Wie ernst gemeint ist Inklusion, wenn schon das unbekannte Wort, anders als Teilhabe oder Integration, nicht inklusiv wirkt, sondern exklusiv den Fachleuten vorbehalten bleibt?

Lesen wir hier ein marxistisches Buch? Der Schein trügt. In Nachfolge von Marx wird zwar entschieden gefordert, “die Ökonomie vom Regelmechanismus der Kapitalverwertung zu lösen”. Die Berufung auf die ökonomischen Theorien des Kapitals sollte aber nicht täuschen. Man mag Seite für Seite nach einer Klassenanalyse durchsuchen, man wird sie genauso wenig finden wie das revolutionäre Subjekt. Dieses von Marxisten begehrte und in der Arbeiterklasse gefundene Wesen hat der Autor schon per Überschrift in den Bürger (rück-)verwandelt. Dabei ist dieser Bürger durchaus nicht brav, es ist eher der Citoyen der französischen Revolution, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so energisch einforderte wie unser Autor die Würde des Menschen und seine körperliche Unverletzlichkeit. Sind die Menschenrechte überhaupt etwas anderes als die Übersetzung der Forderungen von 1789?

Was ist Marxismus? Engels hat seinerzeit mit dem Buch Anti-Düring den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft erheben wollen. Herausgekommen ist eine Ersatzreligion mit heiligen Büchern, Propheten, Gläubigen und Verdammten, mit einem irdischen Paradies und mit höllischen Glaubenskriegen. Witsch hat in aller Beiläufigkeit einen Anti-Engels geschrieben. Statt der Engels´schen Zwangsläufigkeit historischer Entwicklungen wird gezeigt, dass es in der Ökonomie nur um einfach zu behebende Strukturfehler geht. Sah Engels Naturgesetze am Wirken, die sich in Wirtschaft und Gesellschaft ohne und gegen den Willen der Beteiligten immer wieder durchsetzen, steht Witsch auf dem Standpunkt des souveränen Staatsbürgers: Der Markt ist ihm kein Gott, sondern ein einfaches Medium der Wirtschaft, denn: “Der Markt macht rein gar nichts. Es ist der Mensch, der alles tut.” Auch in seiner Verantwortungs-Ethik bleibt Witsch auf Konfrontation mit den marxistisch-leninistischen Ayatollahs: Der utopische Zweck heiligt nicht die diesseitigen Mittel.

Die einfach zu behebenden Strukturfehler nehmen als Echo auf die Finanzkrise viel Raum in einem längeren Exkurs ein. Anders als Frau Merkel und Die Linke zieht der Autor dabei keine wesentlichen Gegensätze zwi-schen dem, was von braunen Propagandisten das raffende und das schaffende Kapital genannt wird. Die spielsüchtigen Zocker der Wallstreet und in deutschen Staatsbanken sind bei Witsch nicht Urheber, sondern Produkte der Störung. Ihre Zügelung kann den Strukturfehler nicht heilen. Witsch unterscheidet zwar auch zwischen Produktions- und Finanzsphäre, bei Marx Zirkulationssphäre genannt. Aber beide Bereiche sieht er, ganz Marx-Schüler, gleichermaßen einem destruktiven Zwang zur Mehrwertrealisierung unterworfen. Sein Rezept ist deshalb die Befreiung des Geldes vom Zwang, sich zu vermehren. Das autonom gewordene (Euro-)Geld wird nur noch als Schmiermittel des Marktes eingesetzt, seine Menge hat sich am Produktionspotential der Volkswirtschaft zu orientieren. Der Konsum hat die Produktion zu bestimmen. Stattdessen geht es jetzt um verselbständigte Produktion, die den Konsum sucht, nicht regelmäßig finden kann und daher in Überproduktionskrisen endet. Die werden durch Spekulationsblasen nur verdeckt. Dadurch erscheint die Produktionskrise als bloße Markt- bzw. Finanzkrise und das Problem des Arbeitslosen als bloßes Preisproblem seiner Arbeitskraft. Wie all die Gedanken alltagspraktisch umzusetzen sein könnten? Eine gute Frage.

Die Politisierung des Bürgers kann also kaum marxistisch genannt werden, während die ökonomische Analyse sehr viel enger den Theorien von Marx folgt, als es außerhalb des Marxismus akzeptiert ist. Mit anderen Worten: Mit seinem Text setzt sich der Autor zwischen die Stühle und grenzt sich selbst aus den üblichen linken Diskursen auskein schlechter Platz für jemanden, der an einem Manifest der Ausgegrenzten arbeitet.

Dieses Buch ist auch in anderer Hinsicht vom Rande her geschrieben. Es bewegt sich gedanklich am Rand der politischen und wissenschaftlichen Spielfelder. Genau darin besteht unabhängig von den Ergebnissen seine Qualität. Bereits die Auswahl der Autoren, mit denen die Auseinandersetzung gesucht wird, ist originell und verblüffend. Die Schriften von Jürgen Habermas und Karl Marx als Gegenstand linker Reflexion sind noch üblicher Standard. Auch ein Sigmund Freud hat seinen Stellenwert in diesem Milieu. Durchaus überraschend werden dagegen die Schriften von Marcel Proust zu Rate gezogen, und vermutlich hat nur eine Minderheit der deutschen Intellektuellen je von dem dänischen Theologen Søren Kierkegaard gehört, und der Schweizer Jean Piaget ist eigentlich nur Fachleuten der Psychologie und Pädagogik ein Begriff.

Zum gedanklich verarbeiteten Material gehören auch banale Alltagsquellen wie TV-Talkshows, Zeitungsartikel und Filme. Diese allgemein zugänglichen Quellen verknüpfen die wissenschaftliche Literatur mit den Alltagserfahrungen des interessierten Zeitgenossen. Darin kann man vielleicht einen ersten, notwendigen Schritt vom Rande weg erkennen, hin zu einer höheren Verbreitungsmöglichkeit. Denn ein leicht geschriebenes und zu verstehendes Werk ist das vorliegende nicht. Das griffige, populärwissenschaftliche Manifest steht noch aus.

Die Politisierung des Bürgers ist ein ungehaltenes, ein zorniges Buch, geschrieben aus der Enttäuschung einer großen politischen Hoffnung heraus. Der Autor hat sich in Hamburg mit Verve bei der kurzlebigen WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit) eingebracht, jener Organisation, die den neuen Schichten der Ausgegrenzten zum ersten Mal eine deutlich vernehmbare Stimme gab. Mit aller Kraft und Erbitterung bekämpfte er eine Vereinigung mit der politisch-programmatischen Resterampe PDS. Die Gegenwehr galt nicht der Ablehnung einer Vereinigung als solcher, nicht der Ablehnung der Bündelung oppositionellen Potentials. Sie galt dem Verzicht auf programmatische Inhalte und Ziele, sie galt der Jagd nach Mandaten und Macht als verselbständigtem Daseinsziel eines Karriere-Rudels. Die Verachtung für die billige und leichte Käuflichkeit von sich selbst stilisierenden Barrikadenkämpfern ist nachvollziehbar, auch die durchschaubare Demagogie eines Oskar Lafontaine, der als Rächer der Enterbten doch nur seinen ganz privaten Egotrip reist.

Der Anlass des Buches ist längst Zeitgeschichte, doch seine Themen bleiben aktuell, da soll man sich nicht täuschen lassen. Mit dem programmatischen Sieg der PDS innerhalb der Partei Die Linke hat sich letztlich das Ideengebäude des Staatssozialismus durchgesetzt. Dass Die Linke für mehr Staat ohne Sinn und Verstand sei, schreibt Witsch, habe u.a. den Grund, dass sie sich von eben diesem Staat ernähren wolle. Diesen Gedanken könnte man weiterspinnen. Denn geht man z.B. an Ideen der angeblich radikalen Sahra Wagenknecht mit dem Instrumentarium der marxistischen Klassenanalyse heran, wird man zu überraschenden und für eben diese Marxisten peinlichen Ergebnissen kommen. Die Folge einer Verstaatlichung der Wirtschaft ist die Herausbildung einer bürokratischen Klasse – Wandlitz lässt grüßen, die Marxistische Plattform als erhoffte Karriere-Plattform für künftige Monopolkapitalisten nach Ostblock-Vorbild...

Zurück zum Zorn des Franz Witsch! Vor dem Hintergrund einer großen Enttäuschung erklärt und entschuldigt sich der passagenweise polemische und manchmal fast pöbelnde Ton dieser Streitschrift. Ob er auch Personen außerhalb der Linken trifft, möge der Leser abzuwägen wissen. Bekanntlich fragte ein anderer Polemiker, was der Überfall auf eine Bank sei gegen die Gründung einer Bank.

  • Was sind Kraftworte, sei ergänzt, im Vergleich zu der kaltherzigen und harten Höflichkeit, mit der sich viele Verantwortliche in Wirtschaft, Politik und Verwaltung ausstatten?
  • Was ist eine ehrliche Verunglimpfung gegen die strukturelle Brutalität, die hinter mancher wohlgesetzten Formulierung hervorgrinst?

Übrigens war der Anfang der Studie längst gemacht, bevor die WASG ihr Sternschnuppendasein begann. Schon das erste Vortasten wurde auf www.film-und-politik.de publiziert, und so ist es bis heute geblieben. Es ist eine Arbeit, die im Internet seit ihrem Anbeginn laufend zur Diskus-sion steht. Als Teil dessen war für dieses Vorwort Kritik ausdrücklich gefordert worden. Der Aufruf zur weiteren Diskussion bleibt Bestand-teil des Fortschreibens. Er sollte nicht ungehört bleiben.

Heide, November 2008,    Werner Hajek
 


 

Die Politisierung des Bürgers

Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen

Zweiter Teil: Mehrwert und Moral

Autor:  Franz Witsch

Verlag: Books On Demand (Dezember 2012)

ISBN-13:  978-3-8482-5273-2

Paperback, 212 Seiten, Preis € [D] 13,90

Der zweite Teil führt den ersten weiter im Bemühen, das Verhältnis von Moral und Ökonomie zu entziffern – zumal im Kontext einer Theorie der Gefühle, ist jenes Verhältnis doch hochgradig emotional besetzt. Indes liegt es im Kapitalismus im Mehrwertzwang verborgen; dieser treibt das Subjekt in die Atomisierung, der es mit Gefühlen auf Gegenstände der Verheißung zu entrinnen sucht.

Dieser einer Analyse zugängliche Sachverhalt findet in der veröffentlichten Meinung wie in der Sozialtheorie keine zureichende Würdigung. Sie wäre aber die wesentliche Voraussetzung einer wirksamen antikapitalistischen Politik, die auf die Abschaffung des Kapitalismus zielen muss und nicht, wie von Keynesianern und der PDL betrieben, auf seine Fortführung im veränderten Gewand; was die Zerstörung überlebenswichtiger sozialer wie ökonomischer Strukturen zusätzlich beschleunigt.

 

Inhalt

 

Ein Vorwort von Werner Hajek.............................................................................. 7

Einleitung: eine Entwicklung hin zum Kommunismus ist möglich........ 11

   E1. Ausgangspunkt: die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise............... 11

   E2. Sozialpsychologische Implikationen der Wirtschaftskrise................. 21

   E2.1 Absurdes Theater: über den Film Cosmopolis........................................ 26

   E3. Ansätze zur Krisenbewältigung.................................................................. 33

1. Grundlegendes über Wert und Mehrwert................................................. 45

   1.1 Die drei Komponenten der Produktion.................................................. 45

   1.2 Faktizität und Konstrukt (Geltung)............................................................ 51

   1.3 Mehrwert: ein logisches Konstrukt............................................................ 62

   1.4 Bedeutungsphilosophische Implikationen.............................................. 68

   1.4.1 Die Sprache klebt am Gegenstand......................................................... 81

   1.5 Auswege aus der Krise durch wachsende Ausbeutung....................... 89

   1.6 Mehrwert und Ausbeutung.......................................................................... 94

2. Moralische Implikationen................................................. 109

   2.1 Definitiver Gesellschaftsbegriff (Ethik und Moral)........................... 109

   2.2 Infiniter Regress und Begründung sozialer Strukturen .................... 112

   2.3 Unmoralische soziale und ökonomische Strukturen......................... 116

   2.4 Mehrwert, ein reduktionistisches Konstrukt........................................ 126

   2.5 Zur Überwindung des Kapitalismus’...................................................... 133

   2.6 Wie das alles begreifen?............................................................................... 142

3. Annäherung an eine Theorie der Gefühle................................................. 153

   3.1 Schein und Sein oder steht das Zeichen für einen Gegenstand?.. 153

   3.2 Maß und zu Messendes zugleich? – Verschiebung der Gefühle... 158

   3.2.1 Das Gefühl weiß nichts von einem Begriff...................................... 162

   3.3 Verobjektivierung des Gefühls in der Verschiebung......................... 165

   3.3.1 Das Missverständnis als Makel oder der Regelverstoß ist primär 165

   3.3.2 Verinnerlichung des Objektiven (Norbert Elias)............................. 175

   3.3.2.1 Etikette als Substrat der Vernunft..................................................... 179

   3.3.2.2 Geheime Ziele der Vernunft (Theodizee)....................................... 190

   3.4 Von der Unordentlichkeit der Gefühle.................................................. 193

   3.4.1 Thilo Sarrazin (Aufbegehren: Deutschland schafft sich ab)........ 196

   3.4.2 Andrea Nahles (Verdrängung).............................................................. 200

4. Ausblick................................................. 203

Anhang

   Abkürzungen (inkl. Zitiermethoden).............................................................. 209

   Quellen..................................................................................................................... 210

   Filme, die besprochen oder erwähnt werden.............................................. 214


____________________________________________________


Vorwort: Auf der Suche nach dem verlorenen Wir

Befindet sich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem im freien Fall? Gerade jetzt, im Verlauf des Jahres 2012, scheint der Erdboden auf uns zuzurasen. Doch wer kann schon in die Zukunft sehen? Bisher ist es gut gegangen. Bloß nicht für alle und bloß nicht überall in der Einen Welt. Und die Unwetter rücken näher, haben schon die Küsten Europas erreicht und weite Gebiete der bundesdeutschen Gesellschaft.

Die Verantwortlichen reagieren mit Ratlosigkeit und Hektik, die Opfer mit Ratlosigkeit oder Zorn. Nichts gilt mehr, nichts geht mehr. Keynes samt Schuldenblase oder Kaputtsparen samt Schuldenblase? So oder so, wir sehen gerade das Platzen der Blase, während der Knall noch auf sich warten lässt. Lichtwellen sind eben schneller als Schallwellen.

Wie konnten wir nur in so einen Schlamassel geraten? Alles Nieten die da oben? Alle kriminell und korrupt? Alle vielleicht Teil einer großen Verschwörung?

Nein, sagt Franz Witsch, es sind nicht die Menschen da oben: Unser ökonomisches System hat eine Geburtskrankheit, die lange vertuscht werden konnte. Der Gen-Defekt unseres Wirtschaftens ist die Ausrichtung auf den Mehrwert, auf die Ausbeutung der Arbeitskraft im Marx’schen Sinne. Mit Rückblick auf den Realsozialismus fügt Witsch aber gleich hinzu: Nein, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel löst das Problem nicht. Witsch setzt an der Funktion des Geldes und des Finanzsektors an, um den ewigen Zwang zu Mehrwertproduktion und Wachstum zu unterbinden. Der Autor variiert die Theorie von Marx und schreibt sie fort, Stichwort Mehrwert und schuldenfinanziertes Wachstum. Der gedankliche Nachvollzug des Kapitels kostet allerdings einem ökonomischen Laien wie mich etwas Mühe. Vor allem entdecke ich offene Fragen, auf die das vorliegende Buch die Antwort schuldig bleibt, bleiben muss und – bleiben will. Warum das? Dazu später.

Ohne Geld ist alles nichts, aber Geld ist nicht alles. Verengen wir also nicht den Blick auf den Kreis- und Heißlauf der Wirtschaft! It’s the economy, stupid? Für Wahlkämpfe mag diese Schlichtformel reichen, für die Analyse der Gesellschaft nicht. Folgerichtig wagt Witsch im vorliegenden 2. Teil der Politisierung des Bürgers (DP2) eine Zusammenschau von Wirtschaft, Moral und Gefühl. Das Private ist politisch, hieß es bei den 68-ern. Witsch untersucht den Zusammenhang neu und auf eigene Weise. Schon in Teil 1, Kapitel 6.4, gibt er die Richtung seiner Untersuchung an: “Was die politische Theorie betrifft, so sind wir der Meinung, sie von ganz unten neu entwickeln zu müssen. Ganz unten heißt auch: radikal aus intimer (Selbst-)Beobachtung heraus Analyse zu betreiben, um das Große und Ganze mit dem Mikroskopischen zu konfron-tieren.” (Zitat gekürzt, Hervorhebungen FW).

Das Große Ganze und das Mikroskopische, die Gesellschaft und ihre Individuen, die Gesellschaft und wir, das Innere und das Äußere. Witsch konstatiert, dass die Menschen es bislang nicht gelernt haben, sich selbst, ihr Inneres, in die Analyse der äußeren sozialen Strukturen zureichend einzubeziehen. Ihr Bestandsinteresse steht dem laut Witsch entgegen, zumal es von inneren Bestandsregungen gefüttert und zementiert wird. Ich übersetze das für mich so: Wir neigen stark dazu, unser jeweiliges vordergründiges Eigeninteresse schnell als unantastbar zu heiligen. Das verweist auf das Bestandsinteresse. Und das eigene Muster des Fühlens, Denkens und Handelns wird als das einzig Wahre und Richtige verallgemeinert. Das verweist auf die Bestandsregungen. Selbst die Angehörigen von prügelnden Alkoholikern fühlen sich im vertrauten Elend wohler als auf der riskanten Überfahrt zu besseren Ufern.

Der Komplex aus Bestandsregung und Bestandsinteresse ist nie deckungsgleich mit dem Großen und Ganzen. Gleichwohl, darauf weist Witsch hin, fordert der Einzelne stets und ständig, seinen Interessen und seiner Lebensweise allgemeinverbindlichen Rang zu geben. Witsch setzt gegen diesen egozentrischen Begriff von Gesellschaft seinen definitiven Gesellschaftsbegriff, dessen Ausgangspunkt unverwirkbare und einklagbare Grundrechte für alle bilden, darunter das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Freiheit von Arbeitszwang. Über diese Idee von Gesellschaft habe ich mit dem Autor oft und kontrovers diskutiert. Doch möchte ich hier einen anderen Gedankengang verfolgen. Wie politisiert sich ein Bürger, der sich in den Strudeln der Desinformation und den Wüsten defekter Sozialstrukturen angstvoll und latent aggressiv an Bestehendem klammert? Solange er klammert, spricht alles gegen die Erwartung, dass sich irgendwo irgendeine Gruppierung oder Strömung von hinreichender Durchschlagskraft entwickelt. Im obigen Zitat aus (DPB-6.4) sagt Witsch sinngemäß, das jede Politisierung in die Irre läuft, in der wir Bürger uns nicht als Teil des Problems erkennen und ändern.

Ein beliebter, von Witsch gründlich beleuchteter Irrweg ist die Projektion aller Schwierigkeiten auf einen Fremden, einen Sündenbock: Man fantasiert sich den faulen Griechen, den gebärfreudigen Türken und den faulen UND gebärfreudigen Hartz-Vierer. Um den Wahrheitsgehalt solcher Zerrbilder geht es nicht. Mit der Entdeckung von Sündenböcken wird vielmehr eine einfache Erklärung für komplexe Zusammenhänge geschaffen.

Auf dem anderen Ende der sozialen Leiter gilt der Börsenzocker nicht als Symptom, sondern als Verursacher wirtschaftlichen Übels. In gut eingefahrener Spur eilt der Spießer im Bürger zu antisemitischen Verschwörungstheorien weiter. Im Internet munkelt es schon allenthalben: Der Jude Rothschild ist der Strippenzieher hinter der Krise. Er beherrscht die Welt, zusammen mit den Illuminati und dem Papst. Mein Tipp: Thomas Gottschalk und Hansi Hinterseer stecken mit unter der Decke. Die tun nur so lieb! Umberto Eco hat diesem gefährlichen Schwachsinn in seinem aktuellen Roman "Friedhof von Prag" ein kritisches Denkmal gesetzt. Plausibilität spielt im Verschwörungswahn keine Rolle. Wichtig bleibt nur und immer der Wunsch: Gib mir Orientierung, gib mir einfache Erklärungen für chaotische, bedrohliche Zustände! Viele Verschwörungstheorien leben und sterben mit dem vermuteten Wirken einer zentral steuernden Macht, die sich verborgen hält. Die gibt es offensichtlich nicht, da ist der Denkfehler. In der globalisierten Welt ist die Macht in konkurrierende Zentren zersplittert, auf staatlicher wie auf wirtschaftlicher Ebene. Aber die Idee eines allmächtigen Strippenziehers gibt ein praktisches und handliches Weltbild.

Ach ja, der Allmächtige Strippenzieher! Wenn wir gedanklich einen bösen und einen guten Strippenzieher ins gleiche Universum sperren, haben wir Gott und den Satan und damit das Inventar für den religiösen Fundamentalismus sämtlicher Handelsmarken und Geschmacksrichtungen. Fundamentalismus bringt Millionen von Menschen in Bewegung, aber bestimmt nicht zur Emanzipation. Denn gerade Fanatiker fühlen sich immer auf der richtigen Seite und projizieren von sich weg.

Viele wirklich empathische und kritische Menschen dagegen verlieren sich in esoterischen Allmachts-Fantasien. Sie hoffen, allein mit ihrer positiven Energie und mit der Kraft ihres Guten Willens die Welt zu verändern, spätestens mit einer ordentlichen Portion Meditierens für den Frieden. Ich halte das für eine Regression in die magische Phase der kindlichen Entwicklung. Fünf- und Sechsjährige meinen, dass Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man nur fest daran glaubt. Traurige Ironie: Der Rückzug von Erwachsenen in kindliche Träumerei nennt sich auch noch Awakening, also Erwachen.

Können wir hoffen, dass wenigstens das Internet die Welt revolutioniert, ein neues Zeitalter der demokratischen Kommunikation einleitet? Jeder hat Zugang zu allen Infos, kann selbst alle informieren. Eine schöne Illusion! Das mit der Revolution stimmt, das mit der Demokratie nicht. Das Internet wälzt die Welt um, macht sie aber nicht freier. Denn wie in bisher jeder Revolution folgt im Internet auf eine Phase der Anarchie die Etablierung neuer Herrschaft. Auf der technisch-ökonomischen Seite arbeitet man längst an automatischen Zensurmethoden und ungleichen Beförderungsgeschwindigkeiten. Ob und wie schnell meine Datenpakete in Zukunft die Empfänger erreichen, wird von Dringlichkeit, Zulässigkeit und Zahlungskraft abhängen.

Zurück zum veränderungsscheuen Individuum: Ihm ist das Internet vorrangig eine große Spielwiese und Sucht-Maschine, noch heftiger als das Fernsehen. Man kämpft und rammelt in virtuellen Welten und flieht vor der Welt jenseits der heruntergelassenen Jalousien. Das Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" [Anm. Admin: von Neil Postman] über die Verblödung und Infantilisierung [siehe FAZ-Artikel] durch die elektronischen Medien ist eine olle Kamelle von 1985, aber brandaktuell.

Nicht zuletzt beginnen Propaganda, PR, Lobbyarbeit und Werbung die entscheidenden Diskurse auch im Internet an sich zu reißen. So wird selbst das urdemokratische Wikipedia von Werbestrategen unterlaufen. Die bezahlten Trommler für ökonomische und politische Auftraggeber sind eine Weltmacht, die in der Tendenz das bestehende System zementiert. Hier ist tatsächlich eine Größe, die aus dem Untergrund heraus die Menschheit beherrscht. Das Wort "Publik Relations" sagt klar, worum es geht: Beziehungen zur Öffentlichkeit gestalten und darüber hinaus die öffentlichen Beziehungen. In Stoßrichtung auf uns Normalbürger, auf unser Denken und Fühlen sind PR und Werbung eine riesige Verwirrungsindustrie. Zum Glück wird auch die PR nicht zentral gesteuert, sondern verfolgt ein Chaos widerstrebender Ziele. Aber in der Summe macht sie dumm und konsumgeil.

Das alles sieht gar nicht gut aus. Kann man als Ersatz für die Politisierung des Bürgers auf Einsicht bei den Mächtigen hoffen? In seinem satirischen Erfolgsroman "Stark" von 1989 erzählt Ben Elton, wie die mächtigsten Wirtschaftsbosse lieber ihre Auswanderung zum Mond organisieren als auf der Erde die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu stoppen. Soweit wird in der Realität niemand gehen, und natürlich ist es auch das Interesse der Reichen und Superreichen, in einer intakten Gesellschaft und einer geschonten Umwelt zu leben. Doch dem stehen nicht nur die Strukturen entgegen, sondern wiederum das, was Witsch als Bestandsinteresse und Bestandsregungen identifiziert. Zur Not tut es statt der Flucht zum Mond auch ein schwer bewachtes Reichen-Ghetto, aus dem heraus man sich nur in Hubschraubern und Panzerlimousinen bewegt.

Nun gut, Schluss mit dem Klagelied, die restlichen Strophen lasse ich unter den Tisch fallen. Bisher hat die Menschheit noch alles überstanden, sogar sich selbst. Das gibt mir Hoffnung. Überall auf der Welt entstehen soziale Bewegungen. Teils entwickeln sie sich gegen die Macht der neuen Medien, teils mit deren Hilfe. Attac, Landarbeiterbewegungen, Hungerrevolten, Montagsdemonstrationen, arabischer Frühling, Occupy. Wir sehen zwar, dass die Anläufe regelmäßig versanden oder unterwandert und eingefangen werden durch eine geübte Befriedungsmaschinerie. Doch ist das zwangsläufig? Bloß weil es bisher so war?

Die wichtigste und wertvollste Botschaft von Witsch steht schon in Die "Politisierung des Bürgers" (DPB), und ich kann sie nicht deutlich genug hervorheben: Die Märkte sowie unsere komplette Wirtschafts- und Lebensweise samt ihrer ungeheuren Zerstörungskraft sind keine Naturkräfte. Sie sind menschengemacht und können von Menschen verändert werden. Versuchen wir es, trotz alledem!

Das vorliegende Buch liefert einen positiven Beitrag. Originell in der Methodik und streitbar im Inhalt lässt es viel Raum für Gegenrede. Die ist sogar erwünscht, wie es der Autor gleich in Kapitel 1.1 demonstriert. Witsch will nichts Abgeschlossenes anbieten, sondern über seine Internet-Seite und seine dort herangewachsenen Bücher eine Plattform für kollektives Nachforschen schaffen. Aus dieser gemeinsamen Arbeit an den grundlegenden Themen unserer Zeit erhofft er sich Antworten, die er alleine nicht bieten kann und will. Der Leser ist zum Mitmachen, zum Bestreiten und Mitstreiten ausdrücklich aufgefordert.

Heide, Oktober 2012    Werner Hajek

 



Die Politisierung des Bürgers

Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen

Dritter Teil: Vom Gefühl zur Moral

Autor:  Franz Witsch

Verlag: Books On Demand (Februar 2013)

ISBN-13:  978-3-8482-5231-2

Paperback, 196 Seiten, Preis € [D] 13,90

Die beschleunigte Zerstörung ökonomischer wie sozialer Strukturen liegt, wie im zweiten Teil untersucht, in der wachsenden Unfähigkeit des Subjekts, Mehrwert zu erzeugen, begründet, die wiederum seine emotionalen und moralischen Fähigkeiten begrenzt.

Der dritte Teil bemüht sich um die Folgen: die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung. In diesen ist das Subjekt gehalten, Zerstörungen aktiv zu begleiten, mehr noch, zu exekutieren in Anlehnung eines sozialen Sachverhalts, den Hannah Arendt die Banalität des Bösen genannt hat: Das Subjekt fühlt sich unbeteiligt, gar unschuldig, zurecht, denn es gibt einen Weg vom Gefühl zur Moral, den zu beschreiten das Gefühl nicht umhinkommt. Allerdings ist die moralische Verantwortung des Subjekts in dem Maße rekonstruierbar wie es im Kontext seiner (Re-)Sozialisierung gelingt, die Moral der heutigen Gesellschaft im Innenleben als krank freizulegen.

 

Inhalt

 

Vorwort: über den Begriff der Weltlosigkeit bei Hannah Arendt................ 7

1. Projektionsformen: Entfaltung des Krankheitsbegriffs..................... 11

   1.0 Vorrede............................................................................................................... 11

   1.1 Kant: Wahrheit beginnt und endet im Innen........................................... 13

   1.2 Krankhafte Projektion: Fritzl von Amstetten......................................... 22

   1.3 Der Projektionsbegriff bei Feuerbach....................................................... 23

   1.4 Gerechtigkeit durch Rache: projizieren im Gut-Böse-Schema.......... 29

   1.4.1 Sidney Lumet: Sein Leben in meiner Gewalt...................................... 32

   1.5 Krank: Privatisierung sozialökonomischer Probleme.......................... 38

   1.5.1 Interaktive Voraussetzungen für den Faschismus............................. 50

   1.5.2 Die Gesellschaft ist krank: Weimar lässt grüßen................................ 54

   1.6 Angst vor zu viel Bewegung......................................................................... 58

   1.6.1 Projektion und Verschiebung (Womb)................................................. 64

   1.6.2 Plädoyer für ein lebendiges Innenleben................................................ 67

   1.6.3 Spezifikation des Projektionsbegriffs..................................................... 70

   1.6.4 Analytische Kurzschlüsse........................................................................... 73

   1.7 Problematisch: die Strukturen fallen von uns ab................................... 82

   1.7.1 Das Kranke in den Strukturen freilegen............................................... 86

   1.7.2 Den Verlierer in sich entdecken (The King’s Speech)...................... 92

   1.7.3 Strukturen geraten in Bewegung.............................................................. 99

   1.7.4 Bewegung, Erinnerungen und Psychose............................................ 105

   1.8 Krank: Ödipus als Metapher für das Ganze........................................ 111

2.  Störfall: das Zeichen will nichts mehr bedeuten..................... 118

   2.0 Vorrede............................................................................................................. 118

   2.1 Systematische Kommunikationsverweigerung..................................... 120

   2.2 Verstehen und Verständigung.................................................................. 125

   2.3 Ein universales Beziehungsmodell (zum Begriff soziale Praxis)....... 134

   2.4 Der Fall Baring: Helden braucht das Land........................................... 138

   2.5 Über den Sinn ökonomischer und historischer Gegenstände...... 146

   2.5.1 Sinn und Unsinn historischer Fakten................................................. 149

   2.5.2 Immunisierung der Gefühle durch leere Begriffe................................. 155

   2.6 Zum Begriff des strukturellen Desinteresses....................................... 160

   2.6.1 Das Subjekt haucht sein Leben aus..................................................... 167

   2.6.2 Ethik und Moral......................................................................................... 174

   2.6.3 Probleme der Subjektbildung bei Kant............................................... 178

   2.6.4 Mit Gefühl gefühlsfrei gestalten (Begriffsschematismus)............. 184

Anhang

   Quellen..................................................................................................................... 192

   Filme, die besprochen oder erwähnt werden ............................................ 195

   Abkürzungen: siehe Die Politisierung des Bürgers, Teil 2

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Vorwort: über den Begriff der Weltlosigkeit bei Hannah Arendt

Die beschleunigte Zerstörung ökonomischer wie sozialer Strukturen liegt, wie in DP2 untersucht, in der wachsenden Unfähigkeit des Subjekts, Mehrwert zu erzeugen, begründet. Sie begrenzt seine Fähigkeiten, moralische Normen und Werte aus sich selbst heraus zu entwickeln mit der Folge, dass diese seinem Innenleben immer autoritärer, von oben herab, appliziert werden, so dass es ihm in einer Zeit erodierender universaler Strukturen der Verheißung, etwa im Glauben an Gott, immer schwerer fällt, diese mit seinen Gefühlen zu besetzen. Über jene Universalien erkennen sich die Menschen nicht mehr als ihresgleichen im Sinne moralischer Verobjektivierung (DP2-3.3.2) oder Kanalisierung ihrer Gefühle; die Verinnerlichung moralischer Werte haftet nur in dem Maße, wie jene übermoralischen Universalien: über Jahrtausende gewachsen als Glaube an die Verheißung Gottes, überzeugen – definitiv im Sinne eines Allgemeininteresses: einer übergeordneten Moral, an der sich jede besondere Moral zu bemessen hat.(DPB,15,26-31; DP2,27f,109-112)

Heute überzeugen jene großen Glaubens-Universalien nicht mehr; sie geben ein Maß auf gesellschaftsumfassende Weise, an dem sich die Verinnerlichung besonderer moralischer Werte bemisst, nicht (mehr) ab.(DP2-3.1,-3.2) Daher werden sie zunehmend ersetzt durch quasi universelle Gegenstände der Verheißung, die sich, ohne es wirklich zu sein, lediglich universell gerieren; sei es im Glauben an die Arbeiterbewegung, an eine Ideal-Gesellschaft, an einen guten Kern im Menschen (zur Rechtfertigung zukünftiger Idealität) – bis hin zum Glauben an kleine Schrullen der Verheißung, so der naive Glaube, dass mehr Frauen in Führungspositionen die Gesellschaft humaner machen. (DP2,158) Es sind dies beliebige Gegenstände der Verheißung, in die hinein das Subjekt Gefühle – verobjektivierend: Moral erzeugend – projiziert; dies auf dem Weg vom Gefühl zur Moral, um auf diese Weise auch ohne Gott als Maß aller Dinge seiner Atomisierung zu entrinnen. Jene beliebigen Quasi-Universalien erheben nicht selten den Anspruch, ein Maß für alle sozialen Strukturen: den gesellschaftlichen Kontext, zu repräsentieren, so dass sich dieser letztlich auf Gefühle reduziert sieht;(2.4) schon weil das Subjekt primär und fundamental soziale Strukturen, in die es unmittelbar involviert ist, mit Gefühlen besetzt, ohne an den gesellschaftlichen Kontext zu denken. Von einer bewusst hergestellten Subjekt-Gesellschafts-Verbindung (S.166) kann keine Rede sein; sie entsteht zum Leidwesen des Subjekts gewöhnlich intuitiv, hinter seinem Rücken, um nicht zu sagen: bewusstlos, gedankenlos, als sei sie, und damit der gesellschaftliche Zusammenhalt, auf natürliche Weise gegeben, gleichsam in den Genen des Subjekts verankert.(DP4-3.1; DEW-OCN)

Heute wissen wir: Gegenstände der Verheißung spiegelten reale Weltbezüge schon immer nur vor, während hinterm Rücken des Subjekts, im Windschatten verinnerlichter Idealitäten, soziale Katastrophen, von Gefühlen intensiv besetzt, anschwellen – bis hin zum Faschismus. Es sind dies Katastrophen, die Hannah Arendt mit den Begriffen Weltverlust oder Weltlosigkeit umschreibt.(HEW-HAA,78-84) Das Innenleben bleibt indes außen vor, auch wenn sie von innerer Weltlosigkeit spricht;(aaO,67) ohne aber innere Vorgänge über außersubjektive Strukturen des Wirtschafts- und Gesellschafts-systems zureichend zu explizieren; so dass dem inneren Vorgang oder Zustand unversehens der Status einer Ursache für die Entstehung sozialer Katastrophen zukommt: die Ursache für den deutschen Faschismus sieht Arendt in einem Bruch der Tradition (der Aufklärung) begründet.(aaO,92ff) Als gäbe es in der geistigen Entwicklung so etwas wie eine gesunde Kontinuität als Voraussetzung für eine gesunde soziale Entwicklung zu wahren, damit Menschen ihren Verstand nicht verlieren. Ja, der Faschismus sei nur möglich auf der Basis von Gedankenlosigkeit, wie sie bei Adolf Eichmann 1961 im Prozess gegen ihn zutage trat.(aaO,56ff) In diesem Zusammenhang prägte Arendt den berühmten wie umstrittenen Satz von der Banalität des Bösen.

Die wesentliche geistige Eigenschaft von Eichmann ist in der Tat banal: seine Gedankenlosigkeit; doch heißt das auch, dass demzufolge der (richtige innere) Gedanke die (äußere) Welt regieren müsse oder könne? Ich denke nein; zumal dafür die (äußeren) sozial-ökonomischen Strukturen nicht entsprechend eingerichtet sind. Aber auch wenn sie es wären, wäre der Satz Richtige Gedanken müssen die Welt regieren belanglos. Eine Trivialität. Nichtssagend.

  • Oder wenn er etwas aussagt, wozu mag er gut sein?
  • Wem mag er dienen?
  • Könnte es nicht sein, dass jener Satz dazu beiträgt, das Tun – die soziale Praxis, den außersubjektiven Bezug, den alltäglichen Nahbereich – zu diskrimi-nieren?

Ich fürchte ja, – wenn dem Denken mehr Bedeutung als dem Tun beigelegt wird. Als bestünde sprachgestützte interaktive Kommunikation, der Ort realer und daher wahrer Solidarität, nur aus dem (inneren) Denken. Dann wäre das menschliche Zusammensein tatsächlich nur eine Angelegenheit der Phantasie. Als sei das Denken, die Phantasie, der innere Vorgang, nicht bloß notwendige Bedingung der Kommunikation. Schlichter formuliert: dass wir denken, ist eine Plattitüde, die außer acht lässt, dass das Denken zuweilen gar nichts nützt, vor allem dann nicht, wenn’s in der realen Praxis drauf ankommt: wenn das Kind gerade in den Brunnen fällt. Dann lassen große Geister es fallen; ohne mit der Wimper zu zucken; und fühlen sich im Recht.

Dennoch kann in diesem Diskriminierungs-Kontext der Begriff Weltverlust ein wichtiger Begriff sein, den Arendt nur nicht zureichend expliziert, wie übrigens auch den Freiheits-Begriff, den sie so schwammig wie inflationär verwendet – mit zuweilen rassistischer Einfärbung; so wenn sie gegen gemischtrassige Erziehungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder plädiert, wenn diese sich nur mit Zwangsmaßnahmen durchsetzen lassen. Das sei gegen die Freiheit (des Einzelnen) gerichtet, zumal mit der guten alten amerikanischen Freiheit unvereinbar.(aaO,56)

Dummes Zeug. Ich würde den Begriff Weltverlust lieber so verwenden, dass er auf eine gestörte Innen-Außen-Beziehung verweist. Dann kann beschrieben werden, was genau auf dem Weg des Gefühls von Innen nach Außen (Welt) schief läuft, an welcher Stelle und warum die Externalisierung des Gefühls scheitert: die Vorstellung nicht zur sozialen Praxis drängt – mit der Folge, dass der alltägliche Nahbereich diskriminiert oder die Gefühle, die auf ihn verweisen, abgespalten werden; auf diese Weise würde Weltlosigkeit auf Kommunikationsverweigerung (2.1), bzw. strukturelles Desinteresses verweisen.(2.6) Einen solchen Weltverlust hätte man mit einer kritischen Einbeziehung der Theorie von Freud erarbeiten können. Dieser hat zumindest die Begriffe dafür bereitgestellt. So weit ist man bis heute nicht: zu erfassen, was im Innenleben falsch läuft im Sinne eines Quasi-Abdrucks dessen, bzw. einer notwendigen Bedingung dafür, was in der Gesellschaft (Welt) falsch läuft. Das eine, das gestörte Innenleben, ist in der Tat, wie Arendt wohl meint, die notwendige Bedingung dafür, dass etwas in der Welt falsch läuft, nicht aber – und exakt das analysiert Arendt unzureichend – die hinreichende Bedingung, die uns zur wesentlichen Ursache führt; diese sozialphilosophisch und systemtheoretisch begründbare Differenz wird in der heutige Sozialtheorie nicht zureichend berücksichtigt: für die meisten Sozialtheoretiker ist eine notwendige Bedingung gleich schon so etwas wie eine Ursache; unter vielen, versteht sich. Dadurch wird die Analyse indifferent, ein Fehler, der übrigens die ganze TKH von Habermas durchzieht.(S.173f) Mit ein wenig mehr Systemtheorie wäre ihm das vielleicht nicht passiert.

Die Ursache für einen gestörten Weltbezug liegt natürlich in den äußeren sozial-ökonomischen Strukturen begründet, die wiederum genau jene (inneren) Bedingungen hervorbringen, die das (äußere) System braucht, um zum Leidwesen des Innenlebens sozialunverträglich zu funktionieren. Und über deren Analyse überhaupt erst der analytische Zugang zum Innenleben erfolgt. In diesem Sinne bemühe ich mich im dritten Teil um die normativ-moralischen wie emotionalen Modalitäten der Zerstörung; mit diesen ist das Subjekt gehalten, Zerstörungen (des Systems) emotional-moralisch zu begleiten, mehr noch, im Interesse der Verheißung zu exekutieren, in Anlehnung eines sozialen Sachverhalts, den Arendt ganz richtig die Banalität des Bösen nennt: das Subjekt fühlt sich unbeteiligt, gar unschuldig, zurecht, denn es gibt einen Weg vom Gefühl zur Moral, den zu beschreiten das Gefühl nicht umhinkommt; zu beschreiten immer wieder aufs Neue. Ohne diesen iterativen Objektbezug existieren Gefühle nicht; deshalb kommen sie nicht umhin, moralische Urteile zu fällen; krankhaft und krankmachend genau dann, wenn auf dem Weg des Gefühls zum (moralischen) Gegenstand etwas schief geht, – die Externalisierung des Gefühls scheitert; wie gesagt, jeden Tag aufs Neue, wenn keine therapeutisch-(re-)sozialisierenden Hilfen, mithin kein intaktes soziales Umfeld zur Verfügung stehen.

Schief geht immer dann etwas, wenn sich Gefühle auf welche Objekte der Verheißung auch immer ergießen, etwa den Führer, der alles und nichts repräsentiert, während konkrete, fassbare Gegenstände des alltäglichen Nahbereichs, der Ort wahrer Solidarität, sich dabei diskriminiert sehen, bis zu einem Punkt, wo sie von sozialverträglichen Gefühlen kaum mehr kontaminiert sind, um schließlich phobisch zu Gegenständen bloßer Verrichtung zu degenerieren, weil sich Gefühle nicht abstellen lassen, sich irgendwann entladen – sozialunverträglich, von moralischen Imperativen begleitet. So etwas werde ich Missbrauch nennen. Er geht einher mit sauberen (Gefühls-) Ausschabungen des Innenlebens: völliger Weltverlust droht dann, wenn von dieser Ausschabung auch ferne Objekte der Verheißung betroffen sind, bis auch sie als Gegenstände der Besetzung ausfallen – Gefühlsbesetzungen dann aber mit Gewalt, von oben nach unten, durchgereicht werden; während die Gegenstände des Nahbereichs sich weiterhin diskriminiert sehen, um schließlich von Gewalt bedroht zu werden – etwa in Form von Kriegen, Terror, Einsätzen der Bundeswehr im Inneren, Gewalt in Familien, wachsender Kriminalität.

Aber schon im Vorfeld weitgehender Gefühlsarmut neigen Gefühle, wenn sie sich auf ferne Objekte der Verheißung ergießen, krank und krankmachend dazu, sich zur obersten Bewertungsinstanz zu erheben über gut und böse, richtig und falsch, schuldig und unschuldig, unverhandelbar, Kommunikation verweigernd, so dass sich, umgekehrt, der moralische wie gesellschaftliche Kontext auf Gefühle reduziert sieht.(2.4) Auch jeden Tag aufs Neue, im Sinne eines iterativen Vorgangs, der allerdings so lange zum Brunnen geht, bis er bricht – mit der Folge umfassender Orientierungslosigkeiten, Gewaltausbrüchen bis hin zum Massenmord.(DP4-1.4.1)

Kurzum: es gibt eine Moral, die in die Katastrophe führt. Dennoch ist die moralische Verantwortung des Subjekts in dem Maße rekonstruierbar wie es im Kontext seiner (Re-)Sozialisierung in immer neuen Anläufen gelingt, die Moral unserer heutigen Gesellschaft im Innenleben als krank freizulegen. Dies wird allerdings umso weniger gelingen wie der ökonomische Spielraum von immer mehr Menschen durch den Mehrwertzwang immer enger wird; dieser, nicht der Kommunismus, ist das eigentliche Gespenst, das, um es mit Derrida zu sagen, zusammen mit anderen Marxschen Begriffen durch die Welt geistert, seit mehr als 150 Jahren, um uns bis heute heimzusuchen. (BRK-VDN)

Hamburg, Februar 2013    Franz Witsch

 



Die Politisierung des Bürgers

Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen

Vierter Teil: Theorie der Gefühle

Autor:  Franz Witsch

Verlag: Books On Demand (Juli 2013)

ISBN-13:  978-3-7322-4461-4

Paperback, 252 Seiten, Preis € [D] 16,90

Nachdem es im dritten Teil um die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung sozialer Strukturen sowie um die psychosozialen Bedingungen einer Rekonstruktion der moralischen Verantwortung des Subjekts ging, ist der vierte Teil bemüht zu zeigen, dass und auf welche Weise Gefühle eine tragende Rolle im Hinblick auf eine sozialverträgliche Ausbildung sozialer wie ökonomischer Strukturen spielen; sie spielen genau dann eine tragende Rolle, wenn es dem Subjekt

  • (1.) gelingt, Gefühle als Ressourcen der Verständigung zu begreifen, wenn
  • (2.) die Externalisierung des Gefühls nicht nachhaltig scheitert: der externe Objektbezug des Gefühls gewahrt bleibt, wenn
  • (3.) negative Gefühle nicht ausgegrenzt werden aus Verständigungsbemühungen, und wenn
  • (4.) ..bezugnehmend auf den zweiten Teil - die Mehrwertfähigkeit des Subjekts nicht mehr als das entscheidende Kriterium seiner sozialen Existenz gilt.

 

Inhalt

 

Ein Vorwort von Klaus-Jürgen Bruder................................................................. 7

Einleitung: Bemerkungen zum Strukturbegriff............................................... 13

1. Die Gestaltungskraft der Gefühle................................................................ 24

   1.1 Der Gefühlsjunkie oder von der Reinheit der Gefühle.............................. 24

   1.2 Über den Film Naokos Lächeln (Norwegian Wood).............................. 29

   1.3 Gefühle als verhandelbare Ressource....................................................... 34

   1.4 Negative Gefühle verarbeiten, nicht ausgrenzen................................... 46

   1.4.1 Massenmörder Breivik............................................................................... 46

   1.4.2 Über den Film Der Albaner........................................................................ 50

   1.5 Verbindung von Gefühl und Moral (Gesellschaft).............................. 54

   1.6 Von der Autonomie der Gefühle oder was ist Freiheit?........................ 62

2. Regelwidrigkeiten................................................................  69

   2.1 Tarnung der Gefühle und Gesetzesmythos........................................... 69

   2.2 Prozesshaftes vs. affirmatives Verstehen................................................. 83

   2.3 Feeling und Emotion (Philosophie der Gefühle).................................. 97

   2.3.1 Über den Film Melancholia........................................................................ 102

   2.4 Verstehen und Verständigung als soziale Praxis................................. 111

   2.5 Kritik an Heideggers Sein und Zeit......................................................... 126

3. Philosophie des (Augen-)Scheins................................................................ 136

   3.0 Vorrede: im Anfang war die Norm........................................................ 136

   3.1 Ursprungsfetisch und Praktik-Begriff.................................................... 141

   3.2 Praktik und Behavioralismus oder Ordnung ist das ganze Leben 148

   3.3 Generik und Projektionsmodus............................................................... 157

   3.4 Definieren bis zum Abwinken.................................................................. 162

   3.5 Terminologische Puzzlespiele.................................................................... 169

4. Analyse und psychosoziale Störungen................................................................ 177

   4.1 Projektion und Individuierung.................................................................. 177

   4.2 Psyche und strukturelle Gewalt................................................................. 186

   4.3 Innen und Außen bei Habermas............................................................. 196

   Exkurs: Notre Nazi – das Ganze ist das Unwahre (Adorno)............... 207

   4.4 Kapital und Psyche....................................................................................... 210

   4.5 Über den Film Barbara: Begehren ohne Gier....................................... 220

Anhang....................................................................................................................... 240

   Quellen..................................................................................................................... 240

   Filme, die besprochen oder erwähnt werden.............................................. 243

   Namensregister..................................................................................................... 244

   Sachregister............................................................................................................. 247

   Abkürzungen: siehe Die Politisierung des Bürgers, Teil 2


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Vorwort: Ein überaus ambitionierter Versuch

Die Politisierung des Bürgers (DPB) ist die gründliche Dokumentation der Zerstörung der Bedingungen der Politisierung und der Notwendigkeit ihrer Wiedergewinnung, die die Marxsche Theorie an ihre Grenzen und zugleich weiterführt. Sie geht davon aus, dass der von Marx herausgearbeitete Zwang zur Mehrwertproduktion die Gesellschaft nach wie vor nicht nur beherrscht, sondern mittlerweile ihre Strukturen schon dem Augenschein nach zerstört; so dass mit ihm alle Versuche, den Kapitalismus menschlicher zu machen, als Investition in ihr Scheitern eingeordnet werden können. Gleichzeitig sind damit aber noch nicht jene menschlichen Verhältnisse wie von selbst erreicht, die bei Marx die bewusste und entschiedene Abschaffung der Mehrwertproduktion durch die Menschen selbst zur Voraussetzung haben. Diese steht immer noch aus.

Das Dilemma besteht darin, dass die Versuche, den Kapitalismus, also den Zwang zur Mehrwertproduktion zu erhalten, zugleich jene – subjektiv-moralischen – Voraussetzungen seiner Überwindung zerstören. So gesehen stellt sich die Frage, wie die Mehrwertproduktion an ihr Ende kommen kann: aus ihrer eigenen Logik heraus ohne revolutionäre Nachhilfe? Für Witsch ist offensichtlich, dass alle Versuche, den Kapitalismus zu retten, in den Worten von Jürgen Habermas: zu zivilisieren (S.217f), sinnlos sind, ja nur noch zerstörerische Auswirkungen haben. Hinzu kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger dem Abbau des Sozialstaats tatenlos zusieht; zu befürchten ist, dass sie bis hin zu seiner vollständigen Vernichtung zusehen – heute auf europäischer Ebene.

Die These vom Ende des Zwangs zur Mehrwertproduktion aus der Logik der Entwicklung der Mehrwertproduktion selbst zu beurteilen, liegt allerdings außerhalb des Feldes der Psychologie und der dort gegebenen Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung. Der Psychologe kann nur Vermutungen über die Wirkung dieser These anstellen: sie könnte eher dazu führen, dass man die Skrupellosigkeit der Mächtigen und Herrschenden aus den Augen verliert und damit die Notwendigkeit des Kampfes gegen diese, als dass sich die Unmöglichkeit der Rettungsversuche erweist. Um das zu vermeiden, plädiert Witsch für eine Trennung von Ökonomie und Moral (WIF-SUL): die Moral u.a. mit den Methoden der Psychoanalyse und Psychologie unabhängig von technisch-ökonomischen Imperativen zu analysieren.

In diesem Zusammenhang erscheint mir eine Unterscheidung, die Franz Witsch macht, durchaus auch als eine für die Psychologie und damit für eine durch die Kritik der Psychologie fundierte Gesellschaftsanalyse wichtige hervorzuheben: die zwischen “Subjekt”, “Gesellschaft” und “sozialer Struktur”. Ich halte diese Unterscheidung für die Entscheidende in der Analyse der Vermittlung zwischen Macht und den der Macht Unterworfenen. Auf der Nichtbeachtung dieser Unterscheidung beruhen die – psychologischen – Wirkungen der Macht wie der Verdeckung dieser Macht. Wie ist das zu verstehen?

Zunächst können wir davon ausgehen, dass gesellschaftliche Macht, die Macht der Mächtigen, der Herrschenden letztlich auf ihren Möglichkeiten beruht, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der weniger Mächtigen so zu gestalten, dass diese tun, was jene wollen. Die Mittel, die sie dabei benützen, sind vielfältig. Immer aber müssen sie, wie Michel Foucault festgestellt hatte, diese anderen als Subjekt respektieren. Witsch sieht ein wesentliches, ganz generelles Mittel darin, dass Mächtige das, was sie wollen, in Leerbegriffen, wie er sagt (DP3-2.5.2), – ich würde von Allgemeinbegriffen sprechen – beschreiben, so dass sie nicht sagen müssen, was sie für jedes beliebige Subjekt wollen (DP2-3.3.2.2). Damit behaupten sie, wir seien nicht der Macht Unterworfene, sondern selbstbestimmte Subjekte, wir führten unseren eigenen Willen aus und nicht den der Herrschenden. Darin besteht der harte Kern der Ideologie des selbstbestimmten Subjekts, ob des Neoliberalismus oder des alten Liberalismus, spielt dabei keine Rolle. Es ist überdies ein behauptetes Respektieren, das in allererster Linie dargestellt wird und zwar in den dafür eingerichteten Medien, die sich auch so nennen. Sie sind tatsächlich das Medium, das die Macht als Verbindung zu den ihr Unterworfenen einrichtet.

Die Aufgabe, Funktion der Medien ist es, etwas zu behaupten, darzustellen, – und damit Wirklichkeit werden zu lassen, indem es wirklich erscheint, behauptet wird. Diese Wirklichkeit, die die Medien schaffen, ist nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, sondern, wie sie uns gezeigt wird, wie wir sie wahrnehmen sollen, für Wahr nehmen: die Figur des Simulacrums (Jean Baudrillard) bzw. der performativen Rede, der Performanz durch Behaupten, es sei so, wie behauptet, indem es behauptet wird (John L. Austin, John R. Searle).

Es gibt aber die andere Wirklichkeit noch: wir spüren ihre Konsequenzen, die Wirkungen ihrer Macht, sie wird uns durch die Darstellung der Medien nur versteckt. Pierre Bourdieu hat deshalb für die Arbeit der Medien die Formel Verstecken durch Zeigen geprägt.

Wir aber reagieren auf das, was man uns zeigt, machen uns unsere Gedanken – wenn wir sie nicht direkt den Behauptungen der Medien entnehmen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass man uns nicht alles zeigt, bzw. gar das Entscheidende vorenthält, wir haben nichts anderes als das, was man uns bietet, an dem wir uns orientieren, worauf wir reagieren können.

Wenn die Macht die Subjekte als Subjekte ansprechen muss, dann können wir im Sprechen auch das entscheidende Medium der Psychoanalyse erkennen: deren zentrale Stellung ist in diesem Sprechen begründet: Freud hatte bereits Psychoanalyse dadurch definiert, dass zwei miteinander reden. In diesem Reden zwischen Zweien haben wir die Grundstruktur der Beziehung zwischen (zwei) Subjekten. Sie ist durch das Sprechen vermittelt. Eine Beziehung zwischen Zweien könnte auch durch etwas anderes vermittelt sein, durch eine gemeinsame oder arbeitsteilig organisierte Tätigkeit, durch Spiel, Zärtlichkeit, Sexualität. Immer aber ist das Reden, das Sprechen die privilegierte, weil alle anderen Formen sozusagen deutende Vermittlung.

Diese Grundstruktur ist das, was Witsch soziale Struktur nennt und zwar in Abgrenzung zum Begriff der Gesellschaft, die für ihn primär ein Allgemeininteresse in Gestalt von Grundrechten repräsentiert: das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit begründet, das das Recht auf keine Armut und keinen Arbeitszwang einschließt, die jedes beliebige Subjekt unmittelbar einklagbar in Anspruch nehmen können muss, wenn man es denn als gesellschaftliches Wesen begreifen will, und wenn dem Begriff Gesellschaft überhaupt eine Bedeutung in Abgrenzung zum Begriff soziale Struktur zukommen soll.(WIF-SUL)

Die begriffliche Nicht-Unterscheidung zwischen sozialer Struktur, in der Subjekte unmittelbar miteinander verkehren, und Gesellschaft ist das Mittel der Medien, der Herrschaftsvermittlung. Wir sehen diese Nicht-Unterscheidung tagtäglich in gefühlsgeladenen Inszenierungen, in den Medien, wenn politische Entscheidungen, politische Strategien erklärt und zurückgeführt werden auf Beziehungen zwischen Politikern, Personen, auf ihre Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, um diese mit den Gefühlen: Hoffnungen und Ängsten der Unterworfenen zu verbinden. Das gelingt, weil das Subjekt den gesellschaftlichen Kontext primär nicht über Grundrechte (die allen Menschen zukommen, und zwar unabhängig wie und was wir ihnen gegenüber fühlen), sondern im fürsorglichen und integren Politiker (Staat) repräsentiert sieht – ein fatales Fühlen, das in den gesellschaftlichen Kontext hineinprojiziert wird, so dass sich dieser auf Gefühle reduziert, bzw. sich im Gefühl aufgelöst sieht. (DP3,138-146,165f) An dieser Stelle zeigt sich die Illusion von einem selbstbestimmten Leben. Die dem zugrundeliegenden Erklärungen verdecken die tatsächlichen Bedingungen und Gründe der Entscheidungen und Prozesse, die Gesetze der Macht und des Marktes, des Kapitalismus, der Mehrwertproduktion, bzw. des Zwanges zu dieser.

Die Charaktere der handelnden Personen sind eher Ausdruck der und Antwort auf die Erfordernisse, innerhalb der kapitalistischen Produktion und Verfasstheit der Lebenszusammenhänge zu handeln, so wie, mit Marx gesprochen, “die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Per-sonifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.”(Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 100).

Die psychologischen Erklärungen dagegen erfüllen allerdings ihren ganz anderen Zweck: sie stellen die als Charaktermasken fungierenden Personen, Politiker, Unternehmer usw. auf unsere Stufe der Erfahrung: der Vergleich der Kanzlerin mit der Mutti oder mit einem strengen oder schwachen, verständnisvollen oder begriffsstutzigen Vater, oder anderen Verwandten ist sprichwörtlich. Wir können (und sollen) darin die Sorgen und Nöte der Familienmitglieder verstehen und damit auch die Härten, die uns treffen, erdulden. Unser Fühlen in die Figuren projizieren, die den gesellschaftlichen Kontext repräsentieren; das schließt die begriffliche Identität von sozialer Struktur und Gesellschaft ein, so dass wir das, was von Oben kommt, hinnehmen, u.a. Folter an einem Kindesentführer oder Terroristen – eben ganz besondere Härten aufgrund ganz besonders böser Taten.

Auf dieser Ebene heißt etwas verstehen tatsächlich es hinnehmen (wenn auch nicht akzeptieren), nichts dagegen unternehmen – und sei es, weil man nichts dagegen unternehmen kann – ohne einen Preis dafür zu zahlen, den man nicht zahlen will. Darin gründet die Psychologisierung der Herrschaftsverhältnisse als entscheidendes Mittel, mit dem die Loyalität der Beherrschten hergestellt wird – weit über die ökonomische Zufriedenstellung der Bevölkerung hinaus, so weit, dass sie ihre Unterdrückung selber wollen. Um es mit Anti-Ödipus zu sagen: sie gehen dafür auf die Straße. Darin liegt zugleich die Bedeutung, die dieser Psychologisierung zugrunde liegende Verleugnung der Differenz zwischen sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen heraus gearbeitet zu haben. Diese Differenz bedarf umgekehrt einer Berücksichtigung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Psychologie (und Psychotherapie).

Die Diskussion darüber begleitet die Geschichte der Psychoanalyse. Die überwiegende Mehrzahl der Psychoanalytiker sperrt sich dagegen, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Psychoanalyse zur Kenntnis zu nehmen, überhaupt zu sagen, was man für alle Menschen einer Gesellschaft, auch für Straftäter, will: einklagbare Grundrechte, um überhaupt erst ein Verhältnis des Subjekts zur gesellschaftlichen Realität zu ermöglichen. Diese gesellschaftlichen Ver-hältnisse werden als äußere Realität von der inneren als dem eigentlichen Gegenstand der Psychoanalyse abgetrennt.

Wenn aber Psychoanalyse das Sprechen zwischen Zweien ist, dessen Ziel es ist, das Unbewusste ins Sprechen zu bringen (das “volle” Sprechen: Jacques Lacan), so kann dieses nur dadurch erreicht werden, indem das (“leere”) Sprechen von allen Fesseln der – gesellschaftlichen – Rücksichtnahmen befreit wird: d.i.: das Unbewusste aus den Fesseln des Diskurses der Macht zu befreien.

Vor fast 40 Jahren hatte Paul Parin diese Forderung wieder erhoben, die gesellschaftliche Realität nicht aus der Psychoanalyse auszuschließen, sondern sie explizit in die psychoanalytische Therapie einzubeziehen, indem Ergebnisse der Gesellschaftstheorie und Kritik in die Deutungsarbeit eingebracht werden: “Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß” (Parin 1975). Der Analysand sollte dadurch in die Lage versetzt werden, seine Problematik nicht nur als Resultat seiner individuellen und insofern zufälligen Biographie zu deuten, sondern sie zugleich als Ergebnis einer von bestimmten Machtstrukturen gekennzeichneten Gesellschaft zu verstehen. Dadurch würde sich die Analyse selbst vertiefen.

Inzwischen – Parins Vorschläge sind ohne Nachfolge geblieben – haben wir ein neues Stadium erreicht: nun kommt diese äußere Realität, vor der die Psychoanalyse so gerne ihren Blick abwendet, über sie und entzieht ihr auch noch die bisherigen Bedingungen ihrer Arbeit. Nun geht es nicht mehr – wie noch bei Parin – um die Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit der Analyse, sondern um ihre Arbeitsbedingungen selbst. Es geht nicht mehr nur darum, die gesellschaftliche Realität in der psychotherapeutischen Praxis (im Deutungsprozess) sichtbar werden zu lassen, sondern inzwischen müsste der Analytiker die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Praxis selbst verteidigen, also: aus den Grenzen (sic!) seines Settings heraustreten, in die Öffentlichkeit, vor deren grellem Licht ihn bisher die Abstinenz vermeintlich geschützt hatte.

In einem viel beachteten Beitrag “Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Die ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie” (Psycho-therapeutenjournal 2/2011,132-138) stellte Giovanni Maio fest: die gegenwärtige Psychotherapie sei wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft auch dem Diktat der Ökonomie so weit unterworfen, dass darunter ihre ureigene Identität verloren zu gehen droht, nämlich ihre Identität als verstehende Sorge um einen leidenden Menschen. Unter dem Druck der Ökonomisierung gehe der Begegnungscharakter der Psychotherapie verloren, das Singuläre und Unverwechselbare der Begegnung werde ausgeblendet. An die Stelle der Vertrauensbeziehung trete eine Vertragsbeziehung, eine sachliche statt einer persönlichen Beziehung. Der Patient [iS eines Not leidenden Hilfesuchenden] ist stattdessen Konsument geworden, ein anspruchsvoller Verbraucher von Gesundheitsleistungen, ein Kunde. Mit der Ökonomie komme durch die Hintertür die Vorstellung der wissenschaftlichen Machbarkeit hinein, die in den Kategorien der Naturwissenschaft den Menschen als Maschine sehe. Hier spreche man von evidenzbasierter Wissenschaft, von verobjektivierbarer Wirksamkeit, mit der jede Krankheit und Krise steuerbar, planbar, behebbar ist, wenn man das richtige Mittel anwendet (S.135). Daher werde nach einem Schema gesucht, nach einem standardisierten Verfahren, weil sich innerhalb vorgegebener Schemata besser abrechnen lässt, aber nicht nur deshalb, sondern weil die Schemata versprechen, dass man Psychotherapie auch effizienter, schneller, ergiebiger machen kann. Das aber gehe an dem Kern der Psychotherapie vorbei, und dieser Kern sei ja die Beziehung, die Zuwendung, das authentische Verstehen: darin liege das Heilsame der Psychotherapie, und dies könne nicht reduziert werden auf evidenzbasierte Verfahren, auf messbare Parameter (S.136). Die Auswirkungen der Ökonomisierung seien deswegen besonders prekär, weil sie nicht nur den äußeren Rahmen psychotherapeutischer Arbeit diktieren, sondern weil sie zu einem allmählichen inneren Bewusstseinswandel führen, der sich schleichend und kaum merklich vollzieht.

Nun rächt es sich, dass die Psychoanalyse die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zur Kenntnis genommen hat, dass sie die sozialen Probleme nicht in den Blick genommen hat. Eigentlich ist es doch so: die Psychoanalyse hat über Generationen hinweg die Realität vernachlässigt, als äußere Realität aus ihrem Horizont ausgeschlossen. Und jetzt überfällt diese sie hinterrücks. Darauf ist die Psychoanalyse nicht vorbereitet.

Geht es also darum, die Gesellschaftstheorie in die Psychoanalyse hineinzutragen? Machen die Psychoanalytiker das nicht immer schon? Oder geht es nicht vielmehr darum, sich das bewusst zu machen und in die Analyse einzubringen.

Gesellschaftstheorie trägt der Tatsache Rechnung, dass wir gesellschaftliche Wesen sind. Gesellschaftstheorie ist also notwendiger Teil der Selbstreflexion, Selbstvergewisserung, Selbstbestimmung. Sie aus der Psychoanalyse auszuschließen widerspricht dem Anspruch der Psychoanalyse nach Selbstreflexion als Bewusstmachung.

Nicht jede Gesellschaftstheorie fördert die Aufgabe, die Freud dem aufklärerischen Projekt der Psychoanalyse gestellt hat: Zu diesem Punkt gibt es eine klare Aussage von Freud: “Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche […] es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall”, “weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.”(Freud 1927: “Die Zukunft einer Illusion”, S. 333).

Eine Gesellschaftstheorie, die diesen Zustand beschönigt, verteidigt oder ver-leugnet, kann nicht im Sinne des Erfinders der – mit aufklärerischem Auftrag in die Welt geschickten – Psychoanalyse gewesen sein. Freud nennt sie eine Illusion, und formuliert damit die Aufgabe der Psychoanalyse als die Befreiung von dieser Illusion: “Das Ende der Illusion”. Das Ende dieser Illusion wäre erreicht, wenn die Analyse an ihr Ende gekommen ist. Freud hat das Sprechen des Subjekts in der Analyse als den Weg zu diesem Ende gesehen. Der Analytiker: der Begleiter auf diesem Weg, seine Deutung: der Kommentar des Sprechens des Analysanden, wie Bedingung, Förderung, Er-leichterung seiner Befreiung, Lockerung der Zwänge der Affirmation, Resignation, der Illusion. Echo der Deutung, die der Analysand seinem Sprechen selbst gegeben hat.

Der Analysand deutet immer und vor jeder Deutung des Analytikers (Jean Laplanche). Seine Deutung begleitet, kommentiert sein Sprechen (und Handeln) bereits selbst. Für gewöhnlich ist diese Deutung des Analysanden in der Illusion befangen. Die Deutung des Analytikers kann eine andere sein, allein indem sie der Illusion den Spiegel vorhält, stärkt sie die Lockerung der Fessel der Illusion.

Was Freud Illusion nannte, hatte Marx der Ideologie zugerechnet. Damit war er einen (oder viele) Schritt(e) über Freud hinaus gegangen: Illusion ist Privatsache, eine persönliche Verrücktheit, wenn vielleicht auch vieler; Ideologie oder der Ideenhimmel, wie Marx auch sagte, ist das, was sich über dem Boden, dem Alltag einer Gesellschaft hält, ihr Spiegel, in dem sie sich sieht, sehen möchte, bzw. in dem die Mitglieder derjenigen Klasse, die über diese Gesellschaft herrschen, möchten, dass die übrigen Mitglieder der Gesellschaft die Gesellschaft sehen.

Diesen Schritt über Freud hinaus ist es, den Parin zu gehen vorschlägt, und der gleichzeitig die Schwierigkeit der Aufklärung und Selbstfreisetzung benennt: der Illusion den Spiegel vorhalten vermag nur, wer sich seiner Gesellschaftstheorie bewusst geworden ist und des Wissens, dass Selbstreflexion und Selbstfreisetzung ohne bewusste gemachte Gesellschaftstheorie nicht möglich ist: Theorie der gesellschaftlichen Emanzipation.

Es ist der Diskurs der Macht, der die Illusion ständig reproduziert; das Denken in seinen Fesseln hält. Die Deutung vermag die Befreiung des Denkens aus den Klauen des Diskurses der Macht zu erleichtern, indem sie als Echo des Sprechens des Analysanden zu dessen Selbstfreisetzung beiträgt, wenn sie aus einer Gesellschaftstheorie heraus formuliert wird, die die gesellschaftlichen Zwänge und Illusionen als solche und als zu überwindende benennt.

Ich habe viel davon bei Franz Witsch in anderer Sprache wieder gefunden. Ich habe seine Schriften gelesen – nicht nur: ich habe mit ihm einen Gedankenaustausch angefangen. Er kann Wertvolles und Wichtiges zu dieser Diskussion beitragen, – wenn ihn denn die Analytiker zur Kenntnis nehmen wollten.

Berlin, Juni 2013    Klaus-Jürgen Bruder