Die USA und Lateinamerika

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Wolf Gauer
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Die USA und Lateinamerika
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Die USA und Lateinamerika

von Wolf Gauer, São Paulo - Brasilien

Ein Thema mit Variationen – endlos und trostlos. Wo anfangen? Bei der fragwürdigen Lächeloffensive Obamas gegenüber Kuba oder doch eher mit einem Rückblick auf längst Vergessenes und Verschwiegenes? Denn nach der Emanzipation von den europäischen Kolonisatoren ist die Geschichte der lateinamerikanischen Nationen durchgehend gezeichnet vom Hegemoniestreben der USA. Von deren Einmischung in die Konsolidierung der jungen Staaten, von Indoktrination, kultureller Demontage, Ausbeutung, Chaotisierung, Krieg, Invasion oder Blockade – die bekannte, bis heute gängige Praxis. Sie spiegelt den Werdegang der US-amerikanischen Nation, ihr eigenes, gnadenloses „making of a nation“ auf fremdem Boden.

Der amerikanische Doppelkontinent (43 Millionen Quadratkilometer) beherbergt rund 930 Millionen Menschen. Ein knappes Viertel seiner Fläche haben die USA an sich gebracht, in kaum 200 Jahren. Ihre Bürger (319 Millionen) sprechen von ihrem Land als „Amerika“ und von sich selbst als den „Amerikanern“. Sie verbrauchen jährlich ein Fünftel der Primärenergie unseres Planeten, das heißt pro Kopf siebenmal mehr als die ungeliebten „Latinos“ aus Mittel- und Südamerika. Denken sie an Ressourcen, so denken sie grenzenlos – an die ganze Hemisphäre.

1910, vier Jahre vor der Fertigstellung des Panamakanals – die USA hatten dazu Kolumbien den Isthmus von Panama entrissen und darauf den Staat gleichen Namens gegründet – erklärte US-Präsident William H. Taft: „Der Tag ist nicht mehr fern, wo das Sternenbanner an drei ... Punkten unser Territorium markieren wird. Am Nordpol, am Panamakanal und am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird unser sein, so wie sie uns ja schon moralisch gehört dank unserer Überlegenheit der Rasse (Noam Chomsky, „Year 501“, London 1993).
 
Die Landnahmen nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898), darunter Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, hatten schon 1901 den Schriftsteller Mark Twain bewogen, sich der "American Anti-Imperialist League" anzuschließen. Ein US-Kolonialreich erschien ihm unvereinbar mit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung (1776) und der Fackelschwenkerin im New Yorker Hafen. Da waren 200.000 Tote allein auf den Philippinen, die Halbierung Mexikos, die Genozide an der Urbevölkerung und anderes mehr. Schon 1920 gab die Liga auf. Die Wall Street dekretierte längst die „national purposes“ (nationale Zwecke). 1925 diesen: „Es gibt weltweit kein besseres Terrain zur Exploration als Brasilien.“ (Wall Street Journal)

Bleiben wir beim Beispiel des demographisch zweit- und geographisch drittgrößten Landes der Hemisphäre, dessen Wirtschaftsleistung weltweit Platz sieben einnimmt: Brasilien gilt als Schlüssel zu Südamerika. Es verfügt über die bedeutendsten Reserven an Agrarflächen, Süßwasser, Zellulose, Erzen, Bauxit, an strategisch wichtigem Niobium, Mangan, Kobalt und Thorium, an erneuerbarer und fossiler Energie und anderen guten Dingen, deren Bedeutung Henry Kissinger 1979 als Repräsentant von David Rockefellers Trilateraler Kommission hervorhob: „Die Industrieländer werden nicht in derselben Weise leben können wie bisher, wenn sie nicht über die nicht-erneuerbaren Ressourcen des Planeten verfügen. Deshalb müssen sie feinere und wirksamere Pressions- und Zwangssysteme ausarbeiten, die das Erreichen ihrer Ziele garantieren.“ (Notícias Militares, 12.1.2012). Kissingers „Systeme“ waren längst weltweit erprobte US-Praxis, die Tricks und Verbrechen der selbsternannten Führungsnation.

Brasilien suchte schon 1786 Kontakt zu der jungen nordamerikanischen Republik. Animiert von deren Gelingen, bat ein empörter Aufklärerzirkel der von Portugal extrem geschröpften Goldprovinz Minas Gerais Präsident Jefferson um Rat und Waffen (gegen Vergütung). Jefferson sagte ab, wegen der vorteilhaften Handelsverträge seiner allerfreiheitlichsten Republik mit dem absolutistischen Unterdrücker Portugal. Die Erhebung des 21. April 1789, die „Inconfidência Mineira“ (Treubruch von Minas) scheiterte mangels Know-how, inspirierte aber Brasiliens eigenen Weg zur Unabhängigkeit (1822). Ohne Hilfe aus dem Norden und noch vor Präsident James Monroes Doktrin „Amerika für die Amerikaner“ (1823), die man alsbald als „Amerika für die Nordamerikaner“ begreifen sollte.

Erst 1824 erkannten die Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit des nunmehrigen Kaiserreichs Brasilien an. Ihr erster Botschafter, der Banker Condy Raguet, gab 1826 die bis heute gültige, sendungsbewusste präpotente Tonart vor: „Es ist nun an der Zeit, dass wir die [brasilianische] Regierung den Einfluss fühlen lassen, zu dessen Erhaltung wir in dieser Hemisphäre der Freiheit bestimmt sind.“ (Bianca C. Pazinatto et.al.: „Relações entre Brasil e Estados Unidos no Século XIX”, Curitiba s. a.). Es setzte diplomatische Provokationen, bewaffnete Übergriffe auf See und in den Handelshäfen – Piraterie gehört zum britischen Erbe –, erpresserische Kriegsdrohungen und erste unverblümte Ansprüche auf das Amazonasbecken. Auf dessen Öffnung, auf territoriale Teilhabe und Internationalisierung des ganzen Flusssystems. Nordamerikanische „Siedler“ wurden infiltriert, lokale Indigene gegen die Zentralregierung aufgehetzt: die Taktik der heutigen „Entwicklungshelfer“ von USAID und anderen US-finanzierten sogenannten Nichtregierungs-organisationen in Lateinamerika, die zum Beispiel in Bolivien und Venezuela längst ausgewiesen wurden.

Sehr aktuell auch die Erzwingung von Freihandelsabkommen und freier Kapitalzirkulation. Brasilien war erpressbar. 75 Prozent der Kaffee-Ernte gingen schon 1870 in die USA, und zollfreie US-Importe lähmten die brasilianische Industrieentwicklung. Noch 2013 machten Rohstoffe und Agrarprodukte 47, Industrieerzeugnisse aber nur 36 Prozent des brasilianischen Exports aus. Letztere produziert von Firmen ausländischen oder gemischten Kapitals, darunter rund 200 der 500 größten US-amerikanischen Unternehmen. Auch dazu Kissinger: Globalisierung ist ein anderer Name für die Dominanz der USA (Sens Public, 5.3.2005).

Zur „Überlegenheit der Rasse“ und „Dominanz der USA“ gehören die Versuche, Kultur und Eigenart der Brasilianer zu beeinflussen. 1850 beginnt die forcierte Verbreitung des Protestantismus mit Hilfe US-amerikanischer Prediger. Protestantische Observanz als mentales Trampolin zu Fortschritt, zu „time is money“ und „money is god“. Frei nach der Prädestinationslehre Calvins, die kapitalistischen Erfolg und Reichtum als göttlichen Vorabkredit verbucht. Der Name des Reverend James Cooley Fletcher wurde Synonym der landesweiten Propagierung US-amerikanischer Religiosität. Nach dem nordamerikanischen Sezessionskrieg landeten spezielle Schifffahrtslinien etwa 15.000 amerikanische Protestanten an. Mormonen, Scientology und andere Sekten aus dem Norden komplettieren heute im Verein mit Hollywood & Co. die Pervertierung angestammten Denkens und Empfindens.

Trotz allem: Brasilien bewahrte sich beachtliche Eigenständigkeit, vor allem dank seiner kompetenten Außenpolitik. Es unterstützt  unter anderem wirtschaftlich und diplomatisch die Opfer Washingtons: Kuba, Bolivien, Venezuela, Argentinien, Uruguay. Die Maxime „Universalismus, Autonomie und Nichteinmischung“ wurde seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehalten, selbst von Seiten der per se US-nahen Militärdiktatur (1964–1982). Brasilien akzeptierte weder US-Militärbasen noch Geheimgefängnisse der CIA, auch nicht die Einbindung in die Bündnissysteme Washingtons. Das Grauen vor dem globalen US-Staatsterrorismus, vor der Kuba-Blockade, vor der US-internen Faschisierung und sozialen Polarisierung nimmt in allen lateinamerikanischen Staaten zu. Und mit diplomatisch getarnter Besorgnis beobachten sie Obamas ambivalente Annäherung an Havanna.
 

30 Prozent der brasilianischen Exporte gehen derzeit nach Asien; größter individueller Handelspartner ist die Volksrepublik China (17 Prozent, USA: zehn Prozent). Die USA ordnen sich im äußersten Kreis einer gedachten konzentrischen Darstellung brasilianischer Interessen ein. Den innersten Kreis belegen die bolivarisch orientierten Organisationen der lateinamerikanischen Integration: Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) und CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten). Daneben die ebenfalls von Brasilien mitbegründete Gruppe der BRICS-Staaten, die eine multipolare Welt- und Wirtschaftsordnung anstreben.

In ihrer festungsartigen Botschaft in Brasilia brütet jedoch die US-Botschafterin Liliana Ayalde – als USAID-Leiterin aus Bolivien ausgewiesen, als Botschafterin in Paraguay mitverantwortlich für den Rio-Tinto-Alcan-Putsch gegen Präsident Fernando Lugo (2012), zuvor als zweite US-Vize-Außenministerin zuständig für die Beziehungen zu Lateinamerika - einschließlich Kuba. Die Spuren schrecken.

Wolf Gauer, Journalist


► Wolf Gauer  lebt seit vielen Jahren in Brasilien, wo er auch als Filmemacher tätig gewesen ist. Er schreibt u.a. für Ossietzky, Hintergrund, 0815 info - Die News hinter der News, Schattenblick, Seniora (CH), Neue Rheinische Zeitung (bis 2013).

Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 01/2014 > zum Artikel

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.

Redaktionsanschrift:

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Haus der Demokratie und Menschenrechte

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► Bild- und Grafikquellen:

1. Barack Obamas fragwürdige Lächeloffensive gegenüber Kuba oder doch eher mit einem Rückblick auf längst Vergessenes und Verschwiegenes? Urheber: DonkeyHotey. The source image for this caricature was adapted from a photo in the public domain from The White House Flickr photostream. The flag background is from the White House website. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

2. Henry Kissinger Zitat: "Control oil and you control nations, control food and you control the people." Grafik: Internetfund, Ersteller nicht eindeutig ermittelbar.

3. US-Imperialismus kennt keine Grenzen. Die Vereinigten Staaten haben in mehr als 150 Staaten Soldaten stationiert. Karikatur gezeichnet von Carlos Latuff, einem "Politischen Karikaturist", geboren November 1968 in Rio de Janeiro, Brazil. Quelle: latuffcartoons.wordpress.com. Der Urheberrechtsinhaber erlaubt es jedem, dieses Werk für jeglichen Zweck, inklusive uneingeschränkter Weiterveröffentlichung, kommerziellem Gebrauch und Modifizierung, zu nutzen.

4. Rio de Janeiro ist die zweitgrößte Stadt Brasiliens und Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates. Im administrativen Stadtgebiet leben rund 6.453.682 Millionen Menschen (2014). Die Metropolregion hat 11,9 Millionen Einwohner (2010). Bis 1960 war Rio de Janeiro die Hauptstadt Brasiliens und trat danach diese Funktion an Brasília ab, bleibt aber nach São Paulo bedeutendstes Handels- und Finanzzentrum des Landes. Wahrzeichen von Rio de Janeiro sind der Zuckerhut, die 38 Meter hohe Christusfigur auf dem Gipfel des Corcovado und der Strand des Stadtteils Copacabana, der als einer der berühmtesten der Welt gilt.
Foto: Rubem Porto Jr. Quelle: Flickr. Verwendung mit CC-Lizenz Attribution-NonCommercial-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0)

5. "Carl von Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie" von Werner Boldt, Verlag Ossietzky GmbH, Hannover, ISBN:  978-3-944545-00-4, zur  Vorstellung


Die einzige Weltmacht-Amerikas Strategie der Vorherrschaft