Die verlorene Menschlichkeit. Das Reich des Todes.

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Die verlorene Menschlichkeit. Das Reich des Todes.
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Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus dem von Heleno Saña verfassten Buch »Die verlorene Menschlichkeit. Wege aus einem Ausnahmezustand« (Patmos-Verlag, 1994, ISBN-10: 3-491-72317-5). Weitere Infos zum Autor findet Ihr am Ende.  
 



Das Reich des Todes

Von Heleno Saña


Die abendländische Agonie

Das Abendland ist Abend- und Götterdämmerung geworden. Nach der Entgötterung der Welt tritt jetzt ihre Entmenschlichung zutage, immer der Reihe nach. Nicht nur Gott, auch der Mensch ist im Begriff zu sterben, auch wenn er sich weiterhin einbildet, daß er sich bester Gesundheit erfreut. Die Menschheit jetzt: ein immer umfangreicheres, düsterer werdendes Reich des Todes. Schillernde Reklamelichter überall, aber Finsternis in der Seele, oder das „Haus der Toten“ von Dostojewski in Gestalt der „affluent society“.

Das Leben: ein monotones, standardisiertes Ritual von materiellem Wohlstand und tief sitzender Frustration, eine Mischung aus Lustgarten und Strafkolonie. Der von der Werbung und den Marketingstrategen verordnete Zweckoptimismus als Ausgleich für das täglich erlebte existentielle Vakuum und als Therapie gegen den sich immer wieder meldenden Schmerz. Die Parole lautet: sich mit möglichst vielen Surrogaten betäuben, um den Schrei der Seele zu überhören. Novalis, der Dichter des Todes, wird aktuell: „Zu suchen haben wir nichts mehr - das Herz ist satt - die Welt ist leer“.

Das bürgerliche Zeitalter neigt sich seinem endgültigen Ende zu, wir wohnen jetzt seinen letzten Atemzügen bei. Paul Nizan: „Der homo oeconomicus marschiert gegen die letzten Menschen, bekämpft die letzten Lebenden und will sie zum Tode bekehren“ (Aden). Danach werden nur die Stille der Friedhöfe, der graue Anblick der verödeten Städte und die mit Abfall und Müll überlagerten Landschaften bleiben. Wir bewohnen schon das Reich der Toten, trotz der hektischen Betriebsamkeit, die wir zur Schau stellen.

Man kann das gängige Leben mit voller Inbrunst genießen und trotzdem innerlich tot sein. Gerade weil der heutige Mensch seelisch am Ende ist, stürzt er sich in das Pseudo-Leben des Alltags, unternimmt Reisen, übt seinen Beruf aus, versucht, Karriere zu machen und Geld zu verdienen. Nur wenn die Nacht hereinbricht und er schlaflos in der Dunkelheit seines Zimmers Bilanz über sein Leben zieht, ahnt er vielleicht, wie es wirklich um ihn steht, auch wenn er am nächsten Tag wieder ritualmäßig sein Auto in Gang setzt und zu seiner instrumentellen Welt zurückkehrt. „Warum all diese Menschen töten, die schon gestorben sind?“ fragt sich der Mörder Paul Hilbert in Sartres Erzählung „Erostrate“, bevor er sich entschließt, doch wahllos auf die Passanten zu schießen.

Wir Abendländer sind innerlich genauso tot wie die toten Seelen (Leibeigene), die Tschischokow, der Held in Gogols Roman, von den russischen Grundbesitzern kaufen wollte. Zu dieser seelischen Agonie gehört die Erstarrung unserer Gefühlswelt, die zunehmende Bereitschaft, uns aus dem geringsten Anlaß von Aggressionen und Irritationen aller Art vereinnahmen zu lassen. Der abendländische Mensch lacht immer weniger, besitzt kaum echten Humor. Deshalb hat die zeitgenössische Literatur keinen Rabelais, keinen Jonathan Swift, keinen Moliere, keinen Voltaire hervorgebracht. Sein üblicher Gemütszustand ist die Bitterkeit und der Groll. Deshalb zieht er sich in seine stumme Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit zurück, umgeben von Apparaten und Haustieren als Ersatz für die fehlende menschliche Wärme. Oder wie sich der Steppenwolf von Hermann Hesse eingestehen mußte: „Aber mitten in der erreichten Freiheit nahm Harry plötzlich wahr, daß seine Freiheit ein Tod war.“ Er ist eine hermetisch verschlossene Monade geworden, der die Sphäre des Nicht-Ich nur als Störung und Last empfindet. Diese Kontraktion auf das nur Eigene und das Distanzhalten zum Mitmenschen sind unbewußte Formen der Selbstzerstörung. Und auch die Langeweile, die Sterilität und die Entzauberung der Daseinsmodi, die uns umgeben, lassen unschwer erkennen, daß die bürgerliche Zivilisation am Vorabend ihrer schöpferischen, lebensbejahenden, libidinösen Kraft ist und nichts mehr als Mechanik und Hygiene zu bieten hat. Die von Max Weber bereits Anfang des Jahrhunderts festgestellte „Entzauberung der Welt“ hat sich in der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft der letzten Dekaden weiterhin bestätigt.

Jahrhundertelang glaubte der abendländische Mensch, daß er den Höhepunkt der Weltzivilisation verkörperte. Jetzt wissen wir, daß wir eine Zivilisation des Todes und für den Tod geschaffen haben: Nihilismus und Lebenshaß als wahrer Hintergrund des bürgerlichen Zeitalters. Die vor allem von der deutschen dialektischen Philosophie vertretene Auffassung, daß die Offenbarung der Welt die Offenbarung Gottes selbst ist, entpuppt sich immer mehr als die Offenbarung des Bösen, Niedrigen und Gewalttätigen, des Gemeinen und Rachsüchtigen.

Die Abende im Abendland: Menschen in ihren Löchern vergraben und mit einem Glas in der Hand erschöpft und resigniert der verfehlten Erfüllung nachtrauernd. Innere Agonie durch audiovisuelles Entertainment, Alkohol und Drogen verdrängt. Was wir erleben, ist nicht nur das Scheitern des Systems, sondern die Auflösung des abendländischen Ich. Nietzsche verkündete zwar den Tod Gottes, aber er stellte zugleich die Heraufkunft des Übermenschen in Aussicht. Er war noch ein Gläubiger, der geniale Prophet. Wir Gegenwärtigen haben nichts mehr festzustellen als den völligen Zusammenbruch all dessen, was noch vor nicht allzu langer Zeit als die Zukunft galt. Daß Scharlatane wie Francis Fukujama und die ganze neoliberale Weltgemeinde das Gegenteil behaupten, wird das sich abzeichnende Fiasko nicht verhindern können.

Die Zivilisationen gehen manchmal durch einen Überfall von außen zugrunde, aber sie können sich selbst durch einen inneren Desintegrationsprozeß zerstören. Das Abendland ist heute physisch von keiner Macht bedroht, aber sie hat selbst einen inneren Feind hervorgebracht, der sich eines Tages als ihr wahrer Todesbringer herausstellen wird. Dieser Feind ist kein anderer als die vom System selbst erzeugte moralische Verkommenheit. Der Mensch hat in den letzten Jahrhunderten versucht, sich emporzuheben und sich an die Stelle Gottes zu setzen. Jetzt ist er im Stadium des Abstiegs und läuft mit offenen Augen dem Abgrund seines Zerfalls entgegen. Die Vollendung des bürgerlichen Credo erweist sich in Wirklichkeit als ihr Grab.

Wir haben geglaubt, daß der Faschismus die letzte große Totenweihe der Weltgeschichte war, ohne zu ahnen, daß der siegreiche Kapitalismus für die Zeit nach dem Sieg schon eine neue Variante des Nihilismus vorbereitete. Es war jene Variante, die Pier Paolo Pasolini „hedonistischen Faschismus“ nannte. Und wenn wir das neue Todesantlitz nicht gleich erkannten, dann nur, weil es versteckt hinter dem Mammonkult und dem Tanz ums Goldene Kalb auf uns zukam und weil wir naiv genug waren, das amerikanische „keep-smiling“ und die Dollars des Marshallplans irrtümlicherweise als Zeichen von selbstloser Freundschaft zu interpretieren, ohne zu merken, daß alles nur eine Falle war, um die alte, gespaltene und am Boden liegende Seele Westeuropas für ein Linsengericht zu kaufen.


Die Rache der Minderwertigen

Das ganze bürgerliche Zeitalter ist das Produkt des Hasses auf alles Erhabene und Edle, ihre Stifter und Epigonen sind minderwertige, ressentimentbeladene Geister, die instinktiv versucht haben, die Welt auf ihr eigenes Niveau herabzusetzen. Hinter diesem Selbsterniedrigungsprozeß stecken der Verfolgungswahn und die Rachsucht derjenigen Kräfte, die Nietzsche die „reaktiven“ (nihilitischen) Kräfte nannte, nur daß ihre Ideologie nicht mehr die Sittlichkeit und die Askese ist, sondern aus plattem Materialismus und Genußsucht besteht. Ihr wahres Ziel ist die Destruktion aller höheren Eigenschaften und Lebensweisen.

Was soll man indes von einer Zivilisation sagen, die im Grunde keinen anderen Wert als das Geld kennt und alles auf Profit und Vermarktung reduziert hat? Nicht von ungefähr wirft Camus in „L’homme révolté“ der Bourgeoisie vor, eine „mittelmäßige Gesellschaft ohne wahren Edelmut“ errichtet zu haben. Auch Rousseau hatte recht, als er vor dem modernen Fortschritt eindringlich warnte und ihn als einen Rückschlag für die Menschheit bewertete. Aber auch seine vernichtende Stellungnahme über die neuzeitlichen Politiker trifft zu: „Die antiken Politiker sprachen unentwegt von Sittlichkeit und Tugend, die heutigen sprechen nur von Kommerz und Geld“ (Discours sur les sciences et les arts).

Nicht die Dichter, nicht die Träumer, nicht die Künstler, nicht die Heiligen, Mystiker und Helden haben die moderne Welt errichtet und gestaltet, sondern die Geldleiher und Händler, Fabrikanten und Techniker, die Henker nicht zu vergessen, also das Anti-Poetische und das Häßliche schlechthin. „Wer sind die neuen Aristokraten?“ fragte sich D. H. Lawrence in seinem Roman „The Rainbow“. Seine Antwort: „Diejenigen, die Geld und Geld-Gehirne haben. Es spielt keine Rolle, was sie sonst haben: aber sie müssen Geld-Gehirne haben, denn sie herrschen im Namen des Geldes.“ In der Sprache Marx’: „Das Geld ist der allgemeine, für sich konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an“ (Zur Judenfrage). Ehre wurde im alten Griechenland als der supremste Wert eingestuft, sie gehörte auch an erster Stelle zum Verhaltenskodex des mittelalterlichen Adels. Das bürgerliche Zeitalter setzt sich von diesem Ethos ab und führt die Ehrlosigkeit als gängige Haltung ein. Sein Motto lautet: Alles ist käuflich, auch die Ehre des Menschen, also seine Würde.

Die Neuzeit hat sich als ein haßerfüllter Kreuzzug der niedrigen Gesinnung gegen die Höherstehenden und Höherblickenden herausgestellt, sie bedeutet die Inthronisierung des Reichs der Mediokrität und des Banausentums, des Kitsches und der Flachheit. Für ihre Träger gilt, was Aldous Huxley über seine zukünftige „Brave New World“ sagte: „In a properly organized society like ours, nobody has any opportunities for being noble or heroic.“

Es war nicht immer so. Die Moderne besinnt sich wieder auf das, was der klassischen Antike bereits vertraut war: die Schönheit der Natur und des Körpers, das Recht auf Glück und Leidenschaft, auf die freie Entfaltung aller menschlichen Attribute und Sehnsüchte. Daher der Aufstand gegen die unerträglich gewordene Herrschaft des institutionalisierten Christentums, gegen Weltflucht, Jenseitigkeit und Entfremdung. Aber der Sieg über die Feudalordnung führt bald zum Entstehen eines Zwangssystems. Die Menschen, die Klassen, die Staaten kämpfen verbittert um die Herrschaft des wichtig gewordenen innerweltlichen Raums. Was zählt, ist Erfolg, Macht, Eigentum, Geltung. Auf den Aufstand gegen die Theologie folgt ein innerweltlicher Kampf, der zu schrecklichen Gemetzeln führen wird und der unter sich unentwegt verändernden Formen und Bedingungen immer wieder von neuem ausbricht.

Seit Machiavelli und Hobbes wird die sittliche Grundlage des klassischen Denkens durch die Realpolitik ersetzt. Dieser Bruch mit der ethischen Tradition der klassischen Antike leitet den Übergang zum modernen Instrumentalismus ein. Die Aufgabe der „politeia“ ist nicht mehr, tugendhafte Bürger hervorzubringen, sondern den Genuß der materiellen, lustbringenden Dinge zu ermöglichen. Wohl werden sich Rousseau und einige andere Aufklärer dieser Entwicklung widersetzen und die Tugend in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken. Aber insgesamt tendiert die neuzeitliche Wissenschaft dahin, den Menschen zum Träger höherer Werte und Anlagen zu entsublimieren und ihn auf Physiologie, Triebhaftigkeit, Egoismus, Libido, Aggressionstrieb und andere materialistische bzw. biologische Kategorien zu reduzieren. Das gilt auch für den „homo oeconomicus“ der Bourgeoisie und des Marxismus. Eine solche Herabsetzung der menschlichen Natur beweist unter anderem, wie ungriechisch das neuzeitliche Denken ist.

Nicht die Suche nach Schönheit und sinnvoller Erfüllung bestimmt die Entwicklung des bürgerlichen Zeitalters, sondern die Suche nach den besseren Mitteln zur Herrschaft über die anderen, also Wille zur Macht, aber nicht im Sinne Nietzsches als qualitative Überwindung des Vorhandenen, sondern in Hobbeschem und Hegelschem Sinn: als Herrschaft über die Mitmenschen und im Rahmen der bürgerlichen Werte: Eitelkeit, Geltungssucht, Renommiererei, „Repräsentation“. Was bleibt, ist oft genug ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, zu dem jeder herbeiströmt, um sich als Ware zur Geltung zu bringen. Oder wie Gilles Deleuze in seinem Buch „Nietzsche und die Philosophie“ bemerkt: „Erniedrigen wir die Macht zum Objekt einer Repräsentation, so unterwerfen wir sie zwangsläufig jenem Faktor, demzufolge eine Sache repräsentiert wird oder nicht, anerkannt wird oder nicht. Nun geben nur die kursierenden, die geltenden Werte Kriterien und Anerkennung an die Hand.“ Was zählt, ist deshalb, etwas zu repräsentieren, ein repräsentatives Individuum zu sein, als Repräsentant irgendeiner Macht zu gelten. Wer nicht unter der Rubrik VIP zu finden ist, ist nichts.

Weil das moderne, bürgerliche Individuum unfähig ist, aus sich selbst etwas wirklich Wertvolles zu machen, strebt es danach, seinen Wert außerhalb von sich selbst zu erreichen, genauer: im Bereich seiner eigenen Entfremdung. Aber die von ihm erreichten Pseudo-Werte - Macht, Erfolg, Geld sind in Wirklichkeit das Zeugnis seiner eigenen Wertlosigkeit, wie Otto Weininger in seiner Studie über Ibsen feststellt: „Aus dem Mangel eines Wertes an sich erfließt das Bestreben, sich Wert von anderwärts zu verschaffen; so entsteht alles Renommieren, alle Hochstapelei im weiteren Sinne“ (Über die letzten Dinge). Leben wird hiermit zu reiner Exteriorität, zur äußeren Fassade, zu einem Sich-zur-Schau-Stellen.

Im Zuge dieser Entwicklung wird der Mensch ein Wolf für die Menschen, betätigt sich als Raubtier, Ausbeuter und Mörder seines Nächsten. Dies erklärt, warum die Gestalt Kains zu einer Massen- und Alltagserscheinung geworden ist. Und all diejenigen, die sich gegen den Zeitgeist stemmen und sich nach einer neuen Sinnbestimmung des Lebens sehnen, werden beiseite geschoben, liquidiert oder als Verrückte und Querulanten gebrandmarkt, wie Foucault in seinem Traktat über den Wahnsinn belegt hat.

Die eigentlichen Schwachen und Kleingeratenen haben es geschafft, sich zu vereinen und zusammen die Stärkeren und Vornehmen zu verdrängen und das von ihnen verkörperte Reich des Quantitativen als das höchste Daseins- und Gesellschaftsmodell planetarisch durchzusetzen. Der „homo triumphans“ ist das in Verbänden organisierte Herdentier, und der Feind, den es immer zu verfolgen gilt, ist Qualitative und Andersartige, das Entgegengesetzte und von der Norm Abweichende. Aber solche Verbandsträger werden nicht mehr von Priestern geführt, wie Nietzsche meinte, sondern von so profanen Gestalten wie Wirtschaftsbossen, Industriemanagern, Technokraten und Politikern. Die ursprüngliche religiöse Gemeinde ist durch die Parteien, Konzerne und Medien ersetzt worden. Als Nietzsche die christliche Religion zum Inbegriff des Ressentiments machte, war sie schon halb tot, mehr eine geduldete als eine angebetete Instanz. Aber in einem Punkt behält er recht: Der bürgerliche Mensch entledigt sich der Idee Gottes, weil er in seiner grenzenlosen Eitelkeit und Rachsucht keinen höheren Wert über sich ertragen kann.


Bestrafung und Einsamkeit

Die Hoffnung Hermann Brochs, daß sich die Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer „starken Humanität“ entwickeln würden, hat sich nicht erfüllt. Nicht die Humanität ist das zentrale Element der westlichen Gesellschaft geworden, sondern die Bestrafung. Schon die Macht, die man auf die anderen ausübt, ist eine Form der Bestrafung, gerade sie. Nicht nur in Gefängnissen wird Strafe verübt, sondern quer durch die ganze Gesellschaft.

Nicht am Ende der Geschichte wird das Jüngste Gericht abgehalten, wie uns das Christentum lehrt. Es findet vielmehr jeden Tag statt. Wir sind von Richtern und Kerkermeistern umgeben, sind frei, aber zugleich verhaftet, wie der Josef K. von Kafka. Die bürgerliche Ordnung hat sich in einen riesigen Dauerprozeß verwandelt. Schlaue Winkeladvokaten, korrupte Mandatsträger und ein allgegenwärtiger Apparat von Gerichtsdienern, Bürokraten, Wächtern und anderen Vertretern der Obrigkeit sorgen dafür, uns in Atem zu halten, zu verunsichern und in Angst zu versetzen. Es walten der eiskalte, reptilartige Geist des Gesetzes und die von ihm unentwegt neu erfundenen Paragraphen und Anordnungen, damit die Kontrolle immer effizienter wird. Ja, wir sind frei, aber die Freiheit, die uns vom System zugestanden worden ist, erschöpft sich darin, unsere Richter und andere Wächter zu wählen. Das ist das wahre Antlitz der bürgerlichen Demokratie, die größte und raffinierteste Farce, die je von Menschen erdacht wurde.

Freilich: Auch andere Zeiten hatten ihre Henker, auch und gerade in der vorbürgerlichen Ära war das Leben eines Individuums nicht viel wert. Menschen wurden enthauptet, lebendig verbrannt, als Sklaven verkauft, in finstere Kerker geworfen, zu Tode gemartert. Folter war eine Selbstverständlichkeit, gehörte zur gängigen Praxis der Herrschenden, nicht nur in der Zeit der Inquisition. Die aufgeklärte Bourgeoisie schaffte nach und nach diese und andere primitiven Formen der Bestrafung ab, um jedoch bald ihr eigenes Bestrafungssystem einzuführen.

Was hat sich geändert? Nur die Methoden, keineswegs der Bestrafungsprozeß als solcher! Wir leben weiterhin in einer erbarmungslosen Welt, die genauso wie früher die Menschen permanent peinigt und kaputtmacht. Man ist immer schuldig, auch dann, wenn man kein Verbrecher kein Mörder im üblichen Sinn ist, wie der Raskolnikow von Dostojewski.

Auch dem bürgerlichen Zeitalter ist es trotz seiner Technik, seiner materiellen Fülle, seines Hedonismus und seines Mammonkults nicht gelungen, die uralte Entfremdung des abendländischen Menschen zu überwinden, ihn von seiner Angst, seinem Weltschmerz und seiner Einsamkeit zu befreien. Eher das Gegenteil ist eingetreten. Das Gefühl der Ohnmacht und des Verlassenseins steigert sich in dem Maße, in dem sich der Positivismus verbreitet und von allem Besitz ergreift. Das Zeitalter des Fortschritts wurde bald zum Zeitalter der menschlichen Vereinsamung. Keiner ist von dieser Strafe verschont worden, am allerwenigsten die edlen, sensiblen Seelen. Auch Nietzsche wurde nicht verschont, gerade er nicht, der Verkünder des Übermenschen, genauso wenig wie vorher Kierkegaard, der ein Traktat über die Verzweiflung schrieb und aus Treue zu seinem religiösen Entweder-Oder aus seinem Leben einen großen Verzicht machte. Die Zerreißprobe war für manche so unerträglich, daß sie keinen anderen Ausweg sahen, als Hand an sich selbst zu legen: Heinrich von Kleist, Gérard de Nerval, Larra, Angel Ganivet, Majakowski, Otto Weininger, Karl Kraus, Ernst Toller, René Crevel, Klaus Mann, Cesare Pavese, Paul Nizan und unzählige andere. Oder sie wurden wahnsinnig, wie Hölderlin, Nietzsche oder Van Gogh. Auch Kafka war ein großer Einsamer, ein Fremder innerhalb seiner eigenen Familie und inmitten seiner eigenen Landsleute. Warum wurden diese großen Suchenden und Empfindenden bestraft? Weil sie es wagten, zu viel anzustreben, die enge, prosaische Welt der bürgerlichen Ideologie abzulehnen und nach mehr zu verlangen.

Aber nicht nur die großen, bekannten Gestalten der Weltliteratur und der Kunst sind zugrunde gegangen oder haben wie verwundete Tiere gelebt. Auch die einfachen Menschen, die Anspruchslosen und Unauffälligen sind Opfer der bürgerlichen Erbarmungslosigkeit gewesen, die große anonyme Masse von Hilflosen, Armen, Schwachen, Kranken, Erfolglosen und Gestrandeten, die ohne jegliche Schuld vom System bestraft wurden, nur weil sie das Pech hatten, Parias und Elende zu sein.

Früher, im Zeitalter der Mythologien und der Mysterien, wurde diese Konstante der menschlichen Geschichte als die Strafe rachsüchtiger und eifersüchtiger Götter gedeutet. Schon Aischylos läßt seinen Helden Prometheus ausrufen: „Seht her, was ich, selbst ein Gott, von Göttern leiden muß.“ Uns Gegenwärtigen bleibt nicht einmal der Trost, zu glauben, daß die Verantwortung für die Weltmisere bei blutdürstigen Göttern liegt. Deshalb haben die Menschen weitgehend aufgehört, an sie zu appellieren, deshalb sind die Tempel leer, und deshalb wird immer weniger gebetet. Wir Abendländer wissen seit langem, daß die einzigen Schuldigen wir Menschen selbst sind, wie der große Leidende Celine in seinen „Voyage au bout de la nuit“ feststellt: „Es ist vor den Menschen und nur vor ihnen, vor denen man Angst haben muß.“

Jede, Zeit des Abstiegs und der Auflösung sinnstiftender Werte treibt den Menschen dazu, in seinem Innern zu bleiben, eine Erscheinung, die auch und insbesondere auf unsere Konsum- und Massengesellschaft zutrifft. Heidegger: „Das faktische Alleinsein wird andererseits nicht dadurch behoben, daß ein zweites Exemplar Mensch ‘neben’ mir vorkommt oder vielleicht zehn solcher“ (Sein und Zeit). Das Verlangen nach Innenleben entspricht dem Bedürfnis, der Exponiertheit des Draußenseins zu entrücken und sich einen sicheren Notaufenthalt inmitten des unmenschlich gewordenen gesellschaftlichen Raums zu beschaffen. Rilke brachte diesen Sachverhalt in paradigmatischer Weise zum Ausdruck in einem am 12. November 1925 an die Gräfin Sizzo gerichteten Brief: „Jedes Unwohl- und innerlich Unheilsein gibt mir vielmehr den Antrieb, mich zu verstecken und zu verkriechen, den ich immer bei Tieren so gut begriff, die sich vom Leben und denen, die es mit Freude und Leichtheit treiben, abwenden, so wie sie selbst nicht mitmachen können.“ Aber schon Descartes fragte sich in seinen „Meditationen“: „Gibt es etwas intimeres und innerlicheres als den Schmerz?“

Die Pythagoräer faßten das Leben hienieden als ein Gefängnis auf und wählten deshalb die Zurückgezogenheit als Vorstufe der Nichtexistenz. Ahnlich bei den Neoplatonikern, die aus Überdruß vor dem Leben die Wahrheit in der ekstatischen Entrückung suchten. Ploin schämte sich sogar, einen Körper zu haben. Auch der Vorsatz der Stoa, sich durch die Adiophorie (Abkehr vom Äußerlichen) gegen die Auswirkungen des gesellschaftlichen Betriebs zu schützen, nimmt die heutige Flucht ins Innenleben vorweg. Die Mystiker vor allem waren seit eh und je mit dieser Seelenerfahrung vertraut, sie haben die „innere Burg“ (Santa Teresa) höher bewertet als das In-der-Welt-Sein und sich an den Rat Augustinus’ gehalten: „Geht nicht nach außen, im Innern wohnt die Wahrheit.“ So preiste Meister Eckehart die „Abgeschiedenheit“ als die höchste aller Tugenden, und mein Landsmann Unamuno sagte, daß seine Seele ein Kloster war, in das er sich vor der Nichtigkeit der Welt zurückzog.

Der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft ist alles andere als religiös oder mystisch ausgerichtet, und dennoch empfindet er ein zunehmendes Bedürfnis nach Weltflucht, und zwar aus Ekel und Angst vor dem realen Leben draußen. Unsere häufige Erfahrung ist die des Winters und der „dunkeln Nacht der Seele“ (San Juan de la Cruz). Subjektivität wird dadurch zum allerletzten Refugium vor einer Welt, die dem Menschen das Selbstvertrauen und die Geborgenheit verweigert, die er brauchen würde, um angstfrei zu existieren. Wir verkriechen uns in unseren vier Wänden, weil wir auf Schritt und Tritt spüren, daß man uns zum subjektlosen Ding, zum quantitativen und statistisch erfaßbaren Objekt degradiert hat.

Herr seines Schicksals wollte das moderne Individuum werden, frei von jeder Bindung zu seinen Mitmenschen. Aber dieses Absolutsetzen des Ichs und die Ausschaltung jeder solidarischen Regung haben sich letztendlich als eine existentielle Falle herausgestellt.

Die Vereinsamung des gegenwärtigen Menschen bestätigt die fehlgeleitete Entwicklung der bürgerlichen Zivilisation und ihre selbstzerstörerische Grundausrichtung. Sie erklärt auch die herrschende Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, daß alles verloren ist und daß den Menschen nichts anderes übrig bleibt, als in ihrer Todeszelle resigniert auf die Vollstreckung der Exekution zu warten.

Es ist Zeit, daß wir versuchen, zu beweisen, daß alles ganz anders werden kann.
 



Informationen zum Autor:

Heleno Saña, 1930 in Barcelona geboren, entstammt einer libertär-antifaschistischen Familie. Seine Jugend war geprägt durch die wiederholten Verhaftungen seines Vaters (Juan Saña) und den Untergrundkampf gegen das Franco-Regime. Nach seiner Ausbildung als Journalist in Madrid übersiedelte er 1959 nach Deutschland und arbeitet als freier Schriftsteller und Sozialphilosoph.

Saña verbindet seine schriftstellerische Tätigkeit mit seinem Interesse für historische, sozialgeschichtliche und philosophische Themen. Er hat über 30 gesellschaftskritische und kulturgeschichtliche Bücher in spanischer und deutscher Sprache verfasst, u.a.:

  • "Die Zivilisation frißt ihre Kinder. Die abendländische Weltherrschaft und ihre Folgen" (1977)
  • "Das Elend des Politischen" (1998)
  • "Die libertäre Revolution. Die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg" (2001)
  • "Macht ohne Moral. Die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen" (2003)
  • "Würde und Widerstand. Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt" (PapyRossa Verlag, ISBN 978-3-89438-367-1, Köln 2007)
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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Die Dekadenz des Abendlandes

[quote=Helono Sana]

Die Vereinsamung des gegenwärtigen Menschen bestätigt die fehlgeleitete Entwicklung der bürgerlichen Zivilisation und ihre selbstzerstörerische Grundausrichtung. Sie erklärt auch die herrschende Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, daß alles verloren ist und daß den Menschen nichts anderes übrig bleibt, als in ihrer Todeszelle resigniert auf die Vollstreckung der Exekution zu warten.

Es ist Zeit, daß wir versuchen, zu beweisen, daß alles ganz anders werden kann.

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Dekadenz des Abendlandes
 
Wir haben es bei der von Saña beobachteten Entwicklung unserer sog. christlich-abendländischen Zivilisation mit einem Stadium der Spätphase der Industrialisierung , einer neoliberalen Postdemokratie und einem  selbstzerstörerischen Marktradikalismus zu tun. Dieses Stadium ist geprägt durch einen Verlust von immateriellen und theistischen religiösen Werten, die durch neue materielle Lebenseinstellungen der konsumistischen Bereicherung und egomanischen Bedürfnisbefriedigung ersetzt wurden.  Die Weltsicht unserer Zeit, die im Grunde genommen eine andere Form der Religion darstellt,  wird von folgenden Begleiterscheinungen charakterisiert:
  • Verlust von Solidaritätsgefühlen, Ehrlichkeit, Mut, Zivilcourage, Mitgefühl, Mitverantwortung, Achtung und Demut
  • als Konsequenz davon Fixierung auf  Gier nach Besitz und Geld als Ersatzbefriedigung, die sich in der Sucht nach kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung äußert
  • Narzißmus, Hoffnungslosigkeit, Depression, Unzufriedenheit, Unmäßigkeit und Suchtverhalten machen sich breit (hört sich fast nach den sieben Todsünden an)
  • bloße Motivation nach Zerstreuung, Entertainment  und oberflächlicher Betätigungen ohne kritischen Ansatz  und inhaltlicher Tiefe aufgrund von Langeweile  sowie als Folge von Verdrängungsprozessen sind signifikant
  • Technologiegläubigkeit und Hybris, die sich über die Natur hinwegsetzten, dominieren zunehmend
  • Entgrenzung von alten Bindungen und Beziehungslosigkeit machen sich breit
Mit anderen Worten läßt sich feststellen, daß das Schwinden der biophilen Lebenseinstellung zwangsläufig zu einer Hinwendung auf Nekrophilie im Sinne Erich Fromms abgleitet. Das heißt, daß die Menschen quasi zur Anbetung  und Verherrlichung von toten Dingen wie Technik, Geld und Waren übergehen – also ihre eigenen Werke vergöttern. Dies haben sie nötig, weil sie diese Ich-Krücken zum Aufbau eines verloren gegangenen oder nie vorhandenen Selbstwertgefühls brauchen. Eine Identifikation findet nicht mit innerem Potenzial, Werten und Stärken statt sondern mit fremdbestimmten Inhalten oder gruppenspezifischen und nationalistischen Parolen.
 
Ganz eindeutig sind dies die Anzeichen eines kulturellen Niederganges, wie wir sie an historischen Beispielen vieler Hochkulturen erkennen können. Bisher hat meines Wissens nach noch nie eine Kultur ihren Niedergang rechtzeitig stoppen können und aus Vernunftgründen eine Umkehr geschafft. Der Gang der Dinge wird offensichtlich durch einen vorbestimmten  Zyklus geleitet, der allen natürlichen Verläufen zugrunde liegt, niemals plötzlich abbricht und erst nach Erreichen einer Talsohle und dem Zusammenbruch alter Werte in eine Neubesinnung und einen Neuaufbau mündet.
 
Die Hoffnung geht zuletzt verloren – sagt man. Da der Mensch mit Bewußtsein ausgestattet ist, kann er nicht wie seine Brüder und Schwestern aus dem Tierreich ohne jegliche Hoffnung längere Zeit überleben. Aus diesem Bewußtsein der Hoffnung und seiner Fähigkeit, aufgrund seines freien Willens eigene Entscheidungen treffen zu können, besteht die Aussicht einer Besserung der Verhältnisse. Vielleicht kann die Welt doch einmal in einem goldenen – dem messianischen Zeitalter, wie es die Alten voraussagten – erwachen. Aber sicher ist das nicht, und falls doch, müssen wir uns in Geduld üben.
 
 
Peter A. Weber
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