Die Vorsokratiker (WILHELM CAPELLE)

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Die Vorsokratiker (WILHELM CAPELLE)
DruckversionPDF version

Die Vorsokratiker  Fragmente und Quellenberichte.

 

Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Mit einem Geleitwort und Nachbemerkungen von Christof Rapp

Verlag: Alfred Kröner Verlag, Stuttgart – zur Verlagsseite

ISBN-13: 978-3-520-11909-4

9. Auflage 2008, 487 Seiten, 1 Karte, 1 Stammbaum, Leinen mit Schutzumschlag, 16,90 EUR

Bitte beachten: Das überaus detailierte und informative Inhaltsverzeichnis, das mehrseitige Geleitwort von Christof Rapp und als Leseprobe ein längerer Auszug aus dem zweiten Kapitel findet ihr unter dem Coverfoto ganz am Ende des Beitrages als pdf-Anhang. Herzlichen Dank an Alfred Klemm - programmverantwortlicher Geschäftsführer des Verlages - für die stets freundliche und konstruktive Unterstützung.

 


Eine kurze Buchvorstellung von Rolf Dobelli, Luzern/CH):

Wer an die antike griechische Philosophie denkt, hat vor allem das Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles vor Augen. Deren Vorgänger sind hingegen so gut wie unbekannt. Allein Pythagoras ist heute, aufgrund seiner mathematischen Erkenntnisse, noch ein Begriff. Zu den Gründen für diese Unkenntnis gehört, dass die Werke der Vorsokratiker in der Regel nur sehr unvollständig oder z. T. überhaupt nicht erhalten sind. Häufig sind sie allein durch die Bezugnahme späterer Philosophen, die jene Werke noch in der Urfassung studiert haben, nicht in Vergessenheit geraten.

Wilhelm Capelles Zusammenstellung »Die Vorsokratiker« ist ein Versuch, die weltanschaulichen Positionen jener frühen Epoche einer breiten Leserschicht näherzubringen. Das Werk vereint die inhaltlich oft sehr weit auseinanderklaffenden Theorien großer antiker Denker in einer einzigen Übersicht. Selbst anhand dieser kommentierten Fragmente wird deutlich, dass Denker wie Thales, Empedokles oder Demokrit nicht nur Vorbereiter waren, sondern mit ihrem ausgeprägten Willen zur Erklärung der Welt die Grundlagen der abendländischen Philosophie legten. (Text: Rolf Dobelli)
 




Die nachfolgende informative Buchvorstellung wurde von »Die Berliner Literaturkritik« am 24.07.08 verfasst:


© Alles und Nichts – Wilhelm Capelles „Die Vorsokratiker“
Von Sokrates und den Protagonisten zu reden, heißt, über die Vorsokratiker Bescheid zu wissen


Sind (übersetzte) Texte der griechischen Philosophen (nur) von philologischem und akademischem Interesse; sind sie vielleicht sogar entbehrlich, weil nur die Originaltexte wirklich original und nur denjenigen verständlich sind, die des Altgriechischen mächtig sind; gar: sind die von Platon und Aristoteles überlieferten Quellen und Fragmente der Vorsokratiker überhaupt zuverlässig? Der 1964 geborene Christof Rapp, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des August-Boeckh-Antikezentrums, macht in seinem Geleitwort des in neunter Auflage erschienenen Bandes „Die Vorsokratiker“ von Wilhelm Capelle (1871-1961) deutlich, dass die Capellesche Auffassung bis heute gilt, dass die Vorsokratiker „vor allem die kühnen Wegbereiter aller Wissenschaft und Philosophie“ seien.

Als Editor trägt er mit „Nachbemerkungen“ (S. 418ff) der Tatsache Rechnung, dass sich in der Forschung der Begriff und die Reichweite der „Vorsokratiker“ verändert hat und weiterhin kontrovers diskutiert wird. Ansonsten jedoch folgt die neueste Capelle-Ausgabe der zuletzt vor mehr als fünfzig Jahren zum letzten Mal aktualisierten Fassung, weil sich „der Benutzer (…) ungeachtet solcher Entwicklungen an der Übersichtlichkeit, der Kompaktheit und dem Informationswert dieser Ausgabe erfreuen“ dürfte. Ob nun die Vorsokratiker von Thales bis Demokrit einzuordnen sind, oder ob die Sophisten, wie in der Capelle-Ausgabe, dazu gehören, oder eine eigene philosophische Interpretation erfordern, ist letztlich eine akademische Streitfrage und behindert nicht den Zugang zu den reichhaltigen antiken Denk- und Forschungsschulen.

In der Capelleschen Einleitung geht es um die „Anfänge der Philosophie“. Sein Loblied auf das „alte Ionien“ an der Westküste Kleinasiens, mit den ionischen Städten, Milet vor allem und dem Ionier mit „seiner jugendfrischen Aufnahmefähigkeit für alle Eindrücke der sinnlichen Erfahrung, in seiner unvergleichlichen Beobachtungsgabe“, klingt geradezu euphorisch. Es sind die homerischen Gleichnisse und Gedichte, wie die hippokratischen Krankenjournale; es ist „der älteste Denker in der Geschichte der abendländischen Menschheit“, Thales von Milet (etwa 624-546 v. Chr.), der mit seinen epochemachenden Grundgedanken, dass „alles Sein einen gemeinsamen natürlichen Ursprung haben muss“, sowie die Erkenntnis, dass „hinter dem Wechsel der Erscheinungen, wie ihn gerade das Leben der Natur in Sommer und Winter, Blühen und Verwelken, Geburt und Tod (...) ein allen Dingen gemeinsamer, schlechthin unzerstörbarer, in seinem innersten Wesen ewig unveränderlicher Urgrund steht“.

Die Vorsokratiker, was waren das für Philosophen? Die griechische Philosophie vor Sokrates gliedert Capelle in zwei sich nach Inhalt und Form des philosophischen Denkens unterscheidende Perioden. In der ersten (600 bis etwa 450 v. Chr.) beherrscht die „Allnatur“, der Makrokosmos das griechische Denken und die Zusammenhänge zu meteorologischen, astronomischen und physikalischen Fragestellungen, während in der zweiten Periode (450 bis etwa 390 v. Chr.), dem Zeitalter der Sophistik, der Mensch „als denkendes, wollendes, handelndes Wesen, als Individuum sowohl wie als Glied der Gesellschaft“, in den Mittelpunkt des Denkens gerät. Bei der Frage nach den Quellen der vorsokratischen Philosophen tut sich für die philosophische und historische Forschung ein Problem auf: „Die Werke der vorsokratischen Denker sind sämtlich verloren“.

Es sind Fragmente ihrer Werke, die zudem wohl auch nur jeweils in wenigen Exemplaren vorhanden waren, die von den nachfolgenden Philosophen, wie etwa Platon und Aristoteles, Eudemos, Menon und Theophrast, benutzt und überliefert wurden. Es ist die Kosmogonie, die das Denken der Menschen im 8. und 7. Jh. v. Chr. bestimmte: Die Naturkräfte wie die Weltensicht wurden im Zusammenhang mit persönlichen, göttlichen Wesen gesehen. Die „Dämonen“, wie sie sich in Vulkanausbrüchen, Gewittern und Erdbeben darstellen, können vom Menschen nicht bezwungen, höchstens besänftigt und freundlich gestimmt werden.

Diese Betrachtung, wie sie sich in Verstexten der Hesiodischen Theogonie zeigt, beruhte auf einem Schöpferglauben, der einen Gott kannte, der seine weiteren Götter schuf, wie Aristoteles in seiner Metaphysik ausdrückte: Es waren nicht die ursprünglichen Götter wie die Nacht oder der Himmel oder das Chaos oder der Okranos, die die Welt regierten, sondern Zeus, und „Zuerst war nur das Chaos“, wie Aristophanes schilderte. Der Athener Musaios (um 600 v. Chr.) sei es gewesen, so Diogenes Laertius (3. Jh. n. Chr.), der zum ersten Mal eine „Theogonie“ und eine „Sphaira“ gedichtet und behauptet habe, dass alle Dinge aus einem einzigen (Urgrund) entstanden seien und sich (dereinst) wieder in diesen auflösten.

Und Pherekydes von Syros (6. Jh. v. Chr.) sei es gewesen, so die Überlieferung Ciceros, der die Lehre von der Seelenwanderung eingeführt habe. Die frühen Philosophen, die seit Platon als die „sieben Weisen“ der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. bezeichnet werden, waren Männer „starker Sittlichkeit und großartigen Gemeinsinns“. Ihr Denken und Handeln ist uns in moralischen Anweisungen, ja beinahe in gebotscharakterlichen Sprüchen überliefert; etwa in Kleobulos „Maßhalten ist das Beste“, aber auch „Ein Mädchen aus gleichem Stande heiraten. Denn nimmst du eine aus vornehmem Geschlecht, erhältst du Herren und nicht Verwandte“; in den Sprüchen Solons „Wenn du gehorchen gelernt hast, wirst du auch zu befehlen verstehen“; Chilon, des Damagetos Sohn aus Sparta „Erkenne dich selbst“, und Sprüche des Thales, Sohn des Hexamyes aus Milet: „Sei nicht reich durch Schlechtigkeit“ und „Schädlich ist Mangel an Selbstbeherrschung“.

Diese Fragmentbeispiele sind, wie die in den folgenden Kapiteln aufgeführten Texte und die hilfreichen Einführungen in die jeweilige Periode der vorsokratischen Philosophie sind eine wahre Fundgrube. Sie ermöglichen nicht nur eine philologische Nachschau, sondern auch eine durchaus alltagstaugliche Standortbestimmung für unser heutiges Nachdenken über die Menschen und die Welt, unsere Endlichkeit und die Sehnsucht nach Erkenntnis.

Im zweiten Kapitel werden die Texte der altionischen Naturphilosophen vorgestellt: Thales (etwa 624-546 v. Chr.) mit seinem Weltbild und seinen Vorstellungen vom „Urgrund der Dinge“; Anaximandros (um 611-546 v. Chr.) mit dem in seiner Zeit revolutionären Vorstellungen vom „Weltgesetz“; sein Schüler Anaximenes (546-525 v. Chr.), der die Erforschung der Naturvorgänge mit der Lehre begründete, dass „aus dem Urgrunde (…) alle Dinge durch Verdichtung oder Verdünnung hervor(gehen)“. Im dritten Kapitel werden Pythagoras und die älteren Pythagoräer vorgestellt; auch hier ist der Hinweis wichtig, dass es offensichtlich keine Schriften des Pythagoras gegeben habe, sondern nur mündlich überlieferte Lehren.

Deshalb bildeten sich auch um sein Leben und das seiner „fest organisierten Genossenschaft mit religiös-ethischen Idealen“ im unteritalienischen Kroton bald Legenden, die auch die heutige Forschung noch beeinflussen. Die Pythagoräer waren es, die das Weltprinzip der „den Stoff bewegende bzw. gliedernde und gestaltende Form“, also die mathematische Zahl, entdeckten. Petron von Himera, Hippasos von Metapont, Alkmaion von Kroton, gehören dazu.

Im vierten Kapitel wird Xenophanes von Kolophon genannt, den der Autor wegen seines kritischen Denkens gegenüber dem Nomos, der Konvention, als „Sturmvogel der Aufklärung“ bezeichnet; durchaus berechtigt, wegen seiner das damalige griechische Denken verändernden Betätigung, als „spekulativer Theologe“. Die uns überlieferte und viel benutzte Kurzformel „ Panta rhei – Alles fließt“ hat Herakleitos von Ephesos geprägt, der zwischen 540 und 475 v. Chr. zurückgezogen und einsam über den Logos nachdachte und Kritik an der oberflächlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit der Menschen und deren Lebensführung übte.

Diesem Heros widmet der Autor das fünfte Kapitel. In den Fragmenten finden wir Aussagen, die uns als Welten- und Menschenrechtsgesetz vertraut sind: „Alle Menschen haben die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu denken“, wie „gemeinsam (...) allen die Vernunft (ist)“. Die „Eleaten“ werden sie genannt, die Denker aus dem unteritalienischen Elea, die im sechsten Kapitel dargestellt werden.

Parmenides, der mit seiner Ontologie die „Existenz des Nichtseienden“ in den philosophischen Diskurs brachte und als „Vater der Logik“ gelten kann: „Lass allein die Vernunft die Entscheidung fällen (…)“. Sein Schüler Zenon (etwa 490-430 v. Chr.) hat für das spätere philosophische Denken, etwa von Aristoteles, mit seiner dialektischen Beweisführung neue Gedankengebäude erschlossen, die im späteren bis zum heutigen philosophischen Diskurs angewandt, verifiziert und falsifiziert werden: „Er gibt dem Gegner zunächst seine Grundvoraussetzung zu und entwickelt aus eben dieser für ein und dieselbe Sache wie einander durchaus widersprechende Konsequenzen“.

Das Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung als Kontinuum hat Zenon in mehreren Beweisen gegen die Annahme von der Vielheit der Dinge als, wir würden heute sagen „Gedankenspiele“ entwickelt; etwa vom fallenden Scheffel Hirse und der Schallerzeugung eines einzelnen Hirsekorns, oder das uns bekannte Rätsel von Achilles und der Schildkröte: „Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raum, wo es sich befindet, noch in dem Raum, wo es sich nicht befindet“ – die, wie verschiedene Interpreten herausgefunden haben wollen, „primitivste Form der Einsteinschen Relativitätstheorie“.

Als exakten Physiker und gleichzeitig enthusiastischen Mystiker bezeichnet Capelle im siebten Kapitel Empedokles aus Akragas (um 495-435 v. Chr.). Als Entdecker der immerwährenden „Vier-Elementen-Lehre hat er dem naturwissenschaftlichen wie dem philosophischen Denken neue Impulse gegeben: „Alle Veränderungen in der sichtbaren Welt (können) auf wenn auch noch so komplizierte, so doch unbedingt wirkliche, wenn auch unsichtbare Bewegungsvorgänge kleinster, ungewordener und unveränderlicher Stoffteilchen zurückgeführt werden“; gleichzeitig aber hat er auch mit seinen mystischen Vorstellungen von der „abwechselnden Obmacht von Liebe und Streit auch im Reich des Organischen“ bei späteren Denkern und Forschern für Irritationen gesorgt: „Nach der jeweiligen (Beschaffenheit des Körpers) wächst dem Menschen die Denkkraft“ – und: „Unter keinen Umständen die Blätter des Lorbeers antasten, der dem Apollon gehört!“.

Anaxagoras (499-428 v. Chr.) gilt „zumindest für Europa (als) das Urbild des der reinen Forschung geweihten Denkens“, wie ihn der Autor im achten Kapitel einordnet. Der in Klazomenai in Kleinasien aufgewachsene heißblütige, phantasievolle und unternehmungslustige Anaxagoras kam als etwa 20jähriger in das damalige „altgläubige“ Athen und wirkt mit seinen Lehren auf die Entwicklung der Attischen Demokratie ein: „Der Geist hat seine Macht allein aus sich selbst“, und, das mutet im Sinne der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen an: „Jeder Geist ist gleicher Art, der größere wie der kleinere“. Im neunten Kapitel setzt sich Capelle mit dem Monisten und „Begründer der Atomtheorie“, Leukippos oder Leukipp auseinander. Er, der Lehrer Demokrits, widersprach der Annahme Zenons und der Zeitgenossen, die Zerlegung der Stoffe sei bis ins Unendliche durchführbar.

Nach Leukipps Auffassung muss es „gewisse, feste, nicht weiter teilbare Urteilchen der Dinge geben“. Es gibt, wie Aristoteles die Theorie erklärt, „das Volle und das Leere, indem (…) das eine als seiend (= wirklich), das andere als nichtseiend (= nicht wirklich)“ sich darstellt; was sowohl im naturwissenschaftlichen, wie auch im erkenntnistheoretischen Sinn einen enormen Perspektivenwechsel erfordert hätte – der jedoch in seiner Zeit und auch lange Zeit später nicht von den Philosophen vollzogen wurde. Das hängt damit zusammen, dass in den folgenden Jahrzehnten Denker am Werk waren, die in der philosophischen Geschichtsschreibung als „Eklektiker und Epigonen“ bezeichnet werden, weil sie „die Lehre des Meisters vom Fluss aller Dinge derartig auf die Spitze (treiben), dass sie daraus folgern, dass man dann überhaupt von keinem Dinge (…) die Wahrheit erkennen oder überhaupt etwas Bestimmtes wissen könne“.

Erst Leukipps Schüler Demokrit, dessen Fragmente jedoch erst im zwölften Kapitel vorgestellt werden, konnte den Zusammenhang von der naturwissenschaftlichen Vorstellung der Teilbarkeit der Stoffe bzw. der Atome mit der philosophischen Grundlegung vom Menschen herstellen. Zu den Eklektikern und Epigonen zählt Capelle Diogenes von Apollonia und Kratylos. Im elften Kapitel, dem Zeitalter der griechischen Aufklärung im 5. Jahrhundert v. Chr., der Sophistik, wenden sich die Denker eher den praktischen Bedürfnissen der athenischen Demokratie zu. Bildung und Erziehung der Menschen steht für diese „Lehrer der Weisheit“ im Mittelpunkt.

In den Fragmenten der Lehren von Protaoras (etwa 481-411 v. Chr.), Gorgias von Leontinoi, der mit der unerhörten Behauptung Unruhe in die „religiösen und gesellschaftlichen Gewissheiten“ seiner Zeit bringt, dass es weder das Nichtseiende, noch das Seiende gebe, was ihn den Ruf eines Nihilisten eingebracht hat, Kallikles, Thrasymachos von Chalkedon, Prodikos, der sich mit seinen Werken, wie etwa „Die Horen“, den Ruf eines „moralisierenden Pädagogen“ erwarb, Hippias von Elis, Antiphon, Kritias und Anonymus Iamblichi, wird der „Mensch als erkennendes und handelndes Wesen“ dargestellt.

Diese philosophische und denkerische Entwicklung führt schließlich zu Demokrit von Abdera (etwa 460-370 v. Chr.). Als Physiker, Erkenntnistheoretiker und Psychologe lehnt er metaphysische und religiöse Herleitungen für seine umfangreiche Lehre ab, sondern begründet sie mit einer materialistischen Weltanschauung. Der Mensch sei ein Kosmos im Kleinen, und „seine Seligkeit oder Unseligkeit hängt allein vom Menschen selber ab“. Im dreizehnten und letzten Kapitel der Sammlung von vorsokratischen Fragmenten werden die „jüngeren Pythagoräer“ genannt und damit das spekulative Element der (späteren) pythagoräischen Philosophie betont. Philolaos von Kroton, Archytas von Tarent, Hiketas und Ekphantos von Syrakus und die Anonymen Pythagoräer.

Das Sammeln, Sichten, Sortieren, Kartographieren, Katalogisieren, Systematisieren, Kategorisieren und Erforschen der in Fragmenten überlieferten Texte der Vorsokratiker ist nicht nur eine akademische Pflichtaufgabe und sollte auch nicht nur denjenigen vorbehalten bleiben, die vorhandene Urtexte in der griechischen Originalsprache zu lesen und zu interpretieren in der Lage sind. Weil sie Bestandteil unserer philologischen und philosophischen Geschichte sind, gehören sie zu unseren kulturellen Quellen. Ob aus beruflichem, erkenntnistheoretischem, geistesgeschichtlichem Interesse, etwa für Studierende und im Bildungsbereich Tätige, oder aus der „Lust an der Freud’“ an der Nachschau, „wie wir geworden sind, wie wir sind“ – die vorliegende neunte Auflage der Capelleschen Sammlung, ergänzt durch die Rappschen Nachbemerkungen, Forschungs- und Quellenhinweisen bietet wegen der Übersichtlichkeit, der Kompaktheit und des Informationswertes vielfältige Nutzungsmöglichkeiten.

Quelle: Der Originaltext bei Berliner Literaturkritik.de – klick hier


 



Rezension von Daniel Bigalke:

Die vorliegende Ausgabe der Fragmente der Vorsokratiker ist mehr als 75 Jahre im Gebrauch. Die Vorsokratiker waren kühne Wegbereiter aller Wissenschaft und Philosophie, gewaltige Persönlichkeiten auf dem Wege zu großer Erkenntnis. Thales behauptete, dass alles aus dem Wasser entstanden sei. Andere fassten ihre philosophischen Gedanken in Visionen und Bilder zusammen, die oft dogmatisch und nicht dialektisch reflektierend, aber dennoch – wie Friedrich Nietzsche betonte – Höhepunkt und Anfang des griechischen Denkens und damit auch des Philosophischen Denkens in Europa überhaupt waren. Erst später kamen Platon und Aristoteles hinzu, die die alten Schriften der Vorsokratiker noch besessen haben müssten, obwohl der Buchhandel erst im Entstehen war. Heute sind die Schriften größtenteils verschollen. Die großartige Leistung des vorliegenden Buches besteht in der Zusammenfassung aller vorhandenen Fragmente und Aussprüche dieser alten Philosophen. Sie wurden geordnet und ins Deutsche übersetzt. Die Philosophie und Wissenschaft der Vorsokratiker löste sich vom Mythos, bzw. ging aus Mythen hervor, ist häufig noch eine Mischung aus wissenschaftlicher und philosophischer Welterklärung und Mythenbildung. Das sieht man z. B. an den Weltmodellen des Anaximandros und des Empedokeles.

Die vorsokratische Philosophie entstand nicht im griechischen Mutterland, sondern in den griechischen Kolonien, besonders in Ionien. Deshalb wird die vorsokratische Philosophie auch "Ionische Philosophie" genannt. Der spannendste Vertreter ist zweifellos Heraklit, dessen Lehre im Buch optimal enthalten ist. Schneidende Aphorismen, voll Bitterkeit, den Zeitgeist verurteilend und getragen von der Überzeugung, daß die Welt vom Kampf entgegengesetzter Prinzipien bestimmt werde, beschwört er den Kampf als Weltprinzip. (29 fr. 53, S. 101)

In dem Jonier Heraklit erreicht die griechische Philosophie des 6. Und 5. Jahrhunderts ihren Gipfel. An Stelle der kühlen Strenge des Unterscheidens und Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt, findet man hier, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, die „exakte sinnliche Phantasie“, eine Richtung auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze. Heraklit ist nicht nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste Geist unter ihnen. Der Gedanke in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen, stofflosen, gesetzmäßigen Geschehens. Er ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle anderen Systeme enthalten den Begriff der substanziellen Grundlage.

Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner Schriften unmöglich geworden, doch das vorliegende Buch bietet eine ernst zu nehmende Hilfe beim Nachvollzug seines Denkens. Wir sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung stark angelegt und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert war. Er hat durch seine Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Helenen festgestellt, eine unvergleichlich edle und hohe Kultur des einzelnen Menschen; er vertrat nicht nur Rechte und Interessen, sondern eine Weltanschauung und Sitte. Dieser stolze unbeugsame Mann unter den Vorsokratikern liebte den Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht vor den althergebrachten Sitten und Institutionen, die der Demokratie nicht mehr heilig waren. Durch Abkunft und tiefe Anhänglichkeit an ein Lebensideal geknüpft, wurde er zu einer Zeit geboren, wo dies Ideal keine Daseinsmöglichkeit mehr hatte.

Er betrachtet die Natur nicht an sich selbst als Objekt, nach Erscheinung, Ursprung und Zweck, sein Verfahren ist vielmehr eine Analyse der Naturvorgänge, soweit sie Vorgänge, Veränderungen sind, ihren gesetzlichen Verhältnissen nach. Heraklit kann als der erste Sozialphilosoph, der erste Erkenntnistheoretiker, der erste Psychologe gelten. Er ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern und hat nicht im bescheidensten Sinne didaktisch, geschweige denn populär, zu wirken versucht. Das beweist sein nicht auf leichtes Verständnis Rücksicht nehmender Stil und entspricht seiner misanthropen Weltanschauung vollkommen.

Das antike Griechenland war die Wiege der abendländischen Kultur und die griechischen Philosophen sind die Stammväter der abendländischen Philosophie. Kaufleute und Seefahrer lernten verschiedene Religionen und Kulturen kennen. Dies wurde zum Nährboden für Zweifel und eigenes Denken. Unmittelbar und spannend führt uns diese Sammlung von Texten also der großen griechischen Denker den Ursprung der abendländischen Geistesgeschichte vor Augen, als Begriffe wie Natur, Geist, Kosmos, Wissenschaft oder Atom zum ersten Mal überhaupt gedacht wurden. Dabei ziehen vier Jahrhunderte der griechischen Philosophie am Leser vorüber: von Thales und Pythagoras, Xenophanes und Empedokles über eben vor allem Heraklit. Neben den Originalfragmenten der Vorsokratiker in der inzwischen klassischen Übersetzung von Wilhelm Capelle enthält die Ausgabe antike Berichte über sie (die Doxographen). Die Anordnung der Texte nach Gedankenkomplexen, begleitet von ausführlichen Erläuterungen, läßt die Konturen der verschiedenen Denksysteme in ihrem Gesamtzusammenhang aufscheinen.

Quelle: Der Originaltext bei webcritics.de – klick hier


 

 


Peter Möllers philolex.de Seite ist eine exzellente Online-Quelle zum Thema Vorsokratiker - hier bitte klicken