Erwachsenwerden

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Erwachsenwerden
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Erwachsenwerden


oder: die geistige Evolution des Menschen hin zu Unabhängigkeit von Gott und anderen Autoritäten


Als ich mich heute zu meinem späten Frühstück an den Tisch setzte, hatte ich zunächst noch nichts Kompliziertes im Sinn. Doch wie aus heiterem Himmel kam mir die Eingebung, über die Befreiung des Menschen von seinen selbst gewählten und aufoktroyierten Abhängigkeiten nachzudenken und dieses dann niederzuschreiben.


Es tut mir zwar für alle diejenigen leid, die des Themas Religion überdrüssig sind, aber ich kann es ihnen nicht ersparen, daß mein Ausgangspunkt doch wieder Gott und die Religion ist. Ob man nun Anhänger einer Religion ist oder nicht, ob man an Gott, den Teufel oder an gar nichts glaubt, Tatsache ist jedenfalls, daß die Religion in der Entwicklung der Menschheit eine entscheidende Rolle gespielt hat – manchmal zum Positiven hin aber zumeist zum Negativen. Deshalb kann dieses Thema in keiner philosophischen Debatte verleugnet werden, weil die Religion als Beeinflussungsfaktor des Menschen eine immense Rolle spielte und immer noch spielt. Nur wenn man die Bedeutung der Religion und Funktionen ihres Mißbrauchs deutlich beschreibt und erkennt, ist man in der Lage, Mittel und Wege zur Abhilfe und Abstinenz zu finden.

Es gibt eine Stufenleiter der geistigen Entwicklung, die symbolisch und anschaulich in der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies verdeutlicht ist. Deshalb muß ich meinen heutigen kurzen Exkurs auch dort bei der Vertreibung aus dem Paradies beginnen. Das Glück und das Einssein des Menschen im Paradies in der metaphorischen Beschreibung der Bibel ist nichts anderes als ein Zustand völliger Abhängigkeit (von Gott) und ein Hinvegetieren ohne freien Willen – vergleichbar mit der Situation des ungeborenen Kindes im Mutterleib. Der Mensch besitzt in dieser Phase des paradiesischen Zustandes noch nicht einmal ein Bewußtsein seiner selbst, quasi befindet er sich in der Rolle eines Tieres. Es handelt sich um das Stadium der frühen Entwicklung der Menschheit, das seine Parallele in der embryonalen Phase findet.

Mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem sog. Garten Eden beginnt die eigentliche psychische Geburt des Menschen. Anlaß der Vertreibung ist der verbotene Zugriff auf die Frucht des Baumes der Erkenntnis, was heißt, daß der Mensch sich seine Erkenntnis und sein Bewußtsein durch einen Akt des Ungehorsams erzwungen hat.  Damit hat er sich allerdings ein Problem eingehandelt, das ihn die gesamte Entwicklungsgeschichte der Menschheit  begleiten würde:  den täglichen Ärger und die stetige Auseinandersetzung mit seinem neu erworbenen freien Willen: die Konfrontation mit den widerstrebenden sprichwörtlichen zwei Seelen in der Brust.


Dieser Augenblick, der als Akt der aktiven Befreiung bezeichnet werden kann,  ist der entscheidende Punkt auf dem Weg des Menschen zur Befreiung von Gott sowie anderen inneren und äußeren Autoritäten. In diesem Zusammenhang von "Erbsünde" zu sprechen, halte ich - gelinde gesagt - für Schwachsinn. Die eigentliche Todsünde des Menschen ist seine Haltlosigkeit und Bereitwilligkeit, sich unter äußere erkennbare, eingebildete oder internalisierte Autoritäten zu unterwerfen. Damit nicht nur immer die römische Kirche das ihr zustehende Fett abbekommt, will ich der Abwechslung halber einmal Martin Luther zitieren, der folgenden Grundsatz wider den Ungehorsam aufgestellt hat:


"Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, daß nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir."


In diesem Sinne und teilweise noch viel krasser hat sich auch Johannes Calvin ausgedrückt. Luther und Calvin sind Vertreter einer Glaubensrichtung, die die völlige Unterwerfung der Menschen unter Gott forderten und den Menschen am Tropf der Gnade Gottes verhungern lassen wollten. Calvin geht sogar so weit, daß der dem Menschen den freien Willen abspricht und dem größten Teil der Menschheit von Geburt an die Verdammnis in Aussicht stellt, der man nicht noch nicht einmal durch eine rechtschaffene Lebensführung entgehen kann. Als Krönung seiner menschenfeindlichen Ideologie behauptet er dann noch obendrein, daß es nur eine Schar von (von Gott willkürlich) Auserwählten gäbe, die des ewigen Heils würdig wären. Da kann ich mich nur fragen: Welches kranke Hirn hat sich so etwas ausgedacht? Und wie kann es sein, daß solche Leute heute noch ernsthaft als seriöse Konfessionsstifter verehrt werden?

Wenn man heute Rückblick auf den Werdegang der Menschheit hält, dann muß man leider konstatieren, daß der Mensch verglichen mit seinem Stand hinsichtlich gewisser Kulturtechniken in seiner geistigen Evolution auf der Stufe eines unmündigen Kindes zurückgeblieben ist. Er hat sich all die Jahrtausende zu sehr an Autoritäten festgehalten, statt sich eigene Stärke und Unabhängigkeit zu erarbeiten. Wenn man z.B. analysiert, über wie viel Einfluß institutionelle Religionen und religiöse Ideologien immer noch verfügen, dann muß man dem Menschen zwangsläufig ein schlechtes Zeugnis ausstellen!

Sollte es überhaupt einen Gottesauftrag an den Menschen gegeben haben, dann stelle ich mir vor, daß er gelautet haben muß, sich von Gottes Abhängigkeit und Gnade zu befreien, sich zu emanzipieren und die in ihm angelegten Potenziale auszubauen. Mit anderen Worten und im Sinne von Marx gesprochen: eine Erlösung von der Fremdbestimmung. Hier komme ich auf den entscheidenden Punkt, die Erlösung des Menschen. Diese ist nicht in erster Linie als Erlösung von der Sünde und dem Bösen sondern von der Abhängigkeit und Fremdbestimmung zu sehen. All die Menschen, die noch immer wie ein verängstigtes Kaninchen auf die Schlange starren und in hilfloser Manier um die Unterstützung Gottes betteln, haben die Botschaft völlig mißverstanden. Letztlich geht es doch „nur“ darum, daß der Mensch es lernt, auf eigenen Füßen zu stehen und sein Leben ohne fremde Hilfe zu meistern. Dadurch erübrigt sich in letzter Instanz der Gottesglaube. Was nicht heißen soll, daß man sich in seiner Phantasie sich nicht mit Mythen, Mythologien, Göttern, Geistern oder anderen überirdischen Phänomenen beschäftigen dürfe – nur darf man sich nicht davon leiten und bestimmen lassen.

Gottesglaube und sein Ersatz in Form der Anbetung von materiellen Werten und weltlichen Autoritäten hat jedoch nach wie vor Hochkonjunktur. Dies ist vor allem darauf zurück zu führen, daß nicht nur die kirchlichen sondern auch die weltlichen Institutionen ein starkes Interesse daran besitzen, den Glauben daran aufrecht zu erhalten und ihn noch zu stärken. Sämtliche politischen und wirtschaftlichen Systeme aller Zeiten haben diese Praxis sehr geschätzt, weil sie doch dazu dient, ihre Machtbasis zu erhalten und noch zu erweitern.


Auf dieser Basis haben Staat/Machthaber und Religion/Kirche, die oft in Personalunion vereint waren, in der Historie voneinander profitiert. Es war kein Wunder, daß der römische Kaiser Konstantin I. (genannt der Große), der in den orthodoxen Kirchen noch als Heiliger geführt wird das Christentum als Staatsreligion eingeführt hatte. Er versprach sich dadurch eine Stärkung des Reiches und der Machtpositionen der Regierenden. Kurz später verfiel zwar das Römische Reich, aber an seine Stelle trat die Römische Kirche, die die unrühmlichen Traditionen ihrer Vorgängerin fortführte. Somit hat sich die Wahl Konstantins als großer Wurf erwiesen. Noch heute haben wir – und mit uns die Welt – unter den Auswirkungen dieser verhängnisvollen Entscheidung  und den sich daraus ergebenden Koalitionen zu leiden.

Ein humanistisch gebildeter, gewachsener und erwachsener Mensch zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, daß er sich Eigenständigkeit und Freiheit erkämpft hat. Dabei ist weniger die Frage wichtig, wovon man sich die Freiheit genommen hat, sondern wozu! Alle diejenigen, die sich noch an Kirche, Gott oder den Staat klammern, sich also quasi prostituieren und ihre Seele verkaufen, sind in ihrer menschlichen Entwicklung stehen geblieben, sind sogar degeneriert – zumindest sind sie noch nicht erwachsen geworden. Aber es sollte niemand verzweifeln. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, daß es niemals zu spät ist und auch Spätentwickler noch eine Chance besitzen.

Ich hoffe, daß meine Provokationen hinsichtlich des Verständnisses von Glauben als solche angekommen sind. Aber leider gehören ja  gerade diejenigen, an deren Adresse meine Postulate gerichtet sind, nicht zu den fleißigsten Lesern des Kritischen Netzwerks.



MfG Peter A. Weber