Besprechung zum Film „Eine fantastische Frau“
(Chile, BRD 2016, Kinostart 07.09.2017, Regie: Sebastián Lelio)
Filmen kommt eine wichtige sozial- und politikwissenschaftliche Funktion zu: Sie tragen heute entscheidend dazu bei, soziale Sachverhalte, die ansonsten im Innenleben des Bürgers ein indifferentes Leben fristen würden, zu verbegrifflichen, zumal in einer Welt ausdünnender Kommunikation, in der Menschen zunehmend überfordert sind, über Gefühle zu sprechen, wenn sie negativ sind. Sie illustrieren mentale Dispositionen in ihrer Verbindung zu sozialen Kontexten, um dem Zuschauer zunächst zu bedeuten, dass es sie gibt oder geben könnte, was allerdings nicht einschließt, dass er außerhalb des Kinos in der Lage wäre, über jene Verbindungen zu sprechen; ist das Kino für die meisten Zuschauer doch eine (von der realen Welt isolierte) Welt für sich, in der „große Gefühle“ gelebt werden können, mithin schon mal Tränen fließen, die Zuschauer außerhalb des Kinos zu verbergen bemüht sind.
Kommen Gefühle (außerhalb des Kinos) ins Spiel, wird’s eng. Sie entziehen sich einer (außersubjektiven) Institutionalisierung: einer vorhersehbaren, konventionellen resp. allgemein anerkannten Versprachlichung. In dieser geht es um Bedeutungsgehalte, die man dem Wort oder Zeichen(-ketten) zuschreibt, um Menschen normgerecht bzw. vorhersehbar zu verbinden, während das Kino, wenn es denn gutes Kino sein will, bemüht sein sollte, im Zeichen vergegenständlichte außersubjektive Bedeutungsgehalte innersubjektiv zu rekonstruieren, gewissermaßen neu zu erfinden – nicht indem Kino neue Zeichen mit einem zeichenspezifischen Bedeutungsgehalt erfindet, sondern dem Zuschauer hilft, Bedeutungsgehalte geläufiger Zeichen mit neuen oder modifizierten Bedeutungsgehalten zu überschreiben.
Derart tragen sie zur Verbegrifflichung bislang unsagbarer sozialer Sachverhalte bei. Ein zunächst mentaler (innerer) Vorgang, heute immer schwieriger zu bewältigen wiewohl wichtiger in einer Zeit gesellschaftlichen Niedergangs, in der Menschen im unmittelbaren Kontakt zueinander immer weniger voneinander erfahren, das überrascht: ihre Beziehungen wie ihr Innenleben sind institutionalisiert, nahezu vollständig, könnte man vermuten. Gleichwohl sind soziale Strukturen, insbesondere Massengesellschaften ohne einen angemessenen Grad der Institutionalisierung des Innenlebens nicht lebensfähig; sie regressieren (wie ihre Menschen, die sie tragen) allerdings, wenn Menschen nur „nachplappern“ (was alle sagen), zumal wenn man ihnen auch noch abverlangt, dass sie nachplappern.
Mit anderen Worten: Abweichungen von der Norm werden immer weniger geduldet: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Du redest wie ein Putin-Freund. Hinweg mit Dir! So ticken die meisten Menschen mental; so will es der Mainstream; so wollen es sogenannte seriöse (Print-)Medien, der öffentlich-rechtliche Diskurs. Und werden doch alle immer wieder konfrontiert mit besonderen Filmen wie u.a. “Eine fantastische Frau” oder “It Comes at Night”, die in ihrem Bedeutungsgehalt zu entschärfen jene sogenannten seriösen Medien immer wieder bemüht sind, ganz generell, indem sie das Besondere, das Differenzielle, das guten Filmen wie der “Fantastischen Frau” zukommt, gleichschalten, mehr oder weniger im Gut-Böse-Schema: hier die Guten, dort die Bösen.
Das geschieht konventionell, indem Figuren, die es verdienen, überhöht, auf einen Sockel gehoben werden, um sie allgemeiner Bewunderung auszusetzen, indes mit der Nebenwirkung, dass sie dort, in luftiger Höhe, als soziale Sachverhalte nicht mehr begreiflich, einer differenziellen (und damit substanziellen) verbegrifflichenden Analyse nicht mehr zugänglich sind.
Marina (Daniela Vega) ist diese fantastische Frau, ein unglücklicher Titel, wie gleich deutlicher wird; sie wird in den seriösen Medien oder solchen, die sich dafür halten, herablassend entsorgt mit Sätzen wie “Eine Frau geht ihren Weg”, “Marina lässt sich nicht unterkriegen” (kino-zeit.de), “Die Kamera ist verliebt in Marinas Gesicht” (Tagesspiegel) oder betulich – den Experten raushängend – mit dem folgenden Fazit: “Marina ist tatsächlich eine ganz fantastische Frau” und habe deshalb “einen besseren Film verdient gehabt.” (filmstarts.de).
Mit solchen Sätzen bringen Filminterpreten, ohne es zu ahnen, zum Ausdruck, dass sie sich für Menschen, die sich einer Überhöhung verweigern, nur begrenzt interessieren. Dass sie sich für Kino nur begrenzt interessieren. Es fragt sich, für was sie sich überhaupt interessieren außer für sich selbst? Marina ist alles Mögliche, doch warum sie gleich “fantastisch” nennen? Es ist ein Eigenschaftswort, das charakterliche Indifferenzen transportiert und damit das Innenleben (der Filmfiguren wie der Zuschauer) gleichschaltet. Und Filmverantwortliche entblöden sich auch nicht mit mensch-überhöhenden Filmtiteln wie „Eine fantastische Frau“ die üblichen Zugeständnisse an den Mainstream zu machen, wie um seine Repräsentanten in ihren Interpretationsbemühungen mental nicht zu überfordern.
Ihren Weg geht Marina, eine Transsexuelle, deren Freund und Geliebter Orlando (Francisco Reyes) nach einer Liebesnacht unter ihren Händen wegstirbt, gerade nicht. Wie auch in einer Umgebung, die sie ausgrenzt und diese Ausgrenzung mit zum Teil gewalttätigen Demütigungen begleitet. Insbesondere Sonja (Aline Küppenheim), die eifersüchtige Ex-Frau von Orlando, macht ihr das Leben zur Hölle, z.B. indem sie das Gerücht eines Verbrechens streut und Marina eine Kommissarin (für Sexualstrafdelikte) auf den Hals hetzt, außerdem dafür sorgt, dass sie sich einer peinigenden gerichtsmedizinischen Untersuchung aussetzt, angeblich um sie zu entlasten, in Wirklichkeit zur eindeutigen Identifizierung ihres Geschlechts und damit ihrer “Perversität”.
Demütigung folgt auf Demütigung, der sich Marina nicht zu entziehen vermag. Dazu müsste sie sich für die Umgebung unsichtbar machen, differenzielle mentale und körperliche Eigenschaften verbergen, sein wie jede(r) andere(r). Geht nicht; also muss sie ihre Umgebung ertragen. Beziehungen, die ihr nicht ohne Mühe bleiben, helfen nicht wirklich weiter. Einer Untoten gleich bewegt sie sich in einer ihr feindlich gesonnenen Welt; man könnte vielleicht sagen, traumatisiert; freilich in gewisser Weise ohne Begriff (einer Traumatisierung); erfahrbar in bewegten und bewegenden Bildern des Films, jedenfalls für Zuschauer, die in Dialoge hineinhören (können), als käme ihnen ein Innenleben zu, das explizit im Satz „Marina ist traumatisiert“ nicht aufgeht. Man sagt ihn und kann nicht sagen, was das „konkret“ ist: ein Trauma, es sei denn, es ergibt sich in einer extremen Ausnahmesituation unmittelbar zu erkennen, z.B. bei Kriegsheimkehrern oder Holocaust-Überlebenden wie dem Pianisten in Polanskis Film „Der Pianist“.
So gesehen bleibt das Traumatische, wenn es denn im alltäglichen Normalbereich spürbar ist, zunächst unsagbar, wiewohl für Ausgegrenzte wie Marina im Vorfeld eines sagbaren sozialen Sachverhalts schon allgegenwärtig durch eingeübte Denk- und Verhaltens-Mechanismen, mit denen es Marina – wie um ihr Trauma zu bannen – zwar gelingt, ihrem Leben eine Struktur zu verleihen, allerdings mehr schlecht als recht: ver-institutionalisiert (wie wir es auch bei Hartz-IV-Abhängigen kennen), um Überraschungen, die Leben lebenswert machen, aus dem Weg zu gehen, weil ihre Umgebung Überraschungen nicht will und mit ihren Demütigungen unsagbares Traumatisches auslösen könnte. Das lässt den obigen Satz “Eine Frau geht ihren Weg” deplaciert erscheinen.
Sie geht ja, doch was für ein Weg soll das sein? Vielleicht den zu ihrem Gesangslehrer, der sie mag, sich aber nicht für ihre Einsamkeit, sondern nur für ihre Gesangstechnik zuständig fühlt. Damit sie in der Musik – ihrer Musik – zur Ruhe kommt, allerdings abgeschottet von der Realität, die traumatisiert. Zuweilen tut’s ein psychodelischer Disco-Besuch, wo sie sich im Tanz wie unter Drogen für ein paar Momente Rauschzustände spritzt. Das sind Wege, die auf Dauer nirgendwo hinführen, es sei denn in die Welt eines Gefühlsjunkies, der seine Umgebung daran bemisst, ob sie ihn mit (Hoch-) Gefühlen bedient, die er mit Mühe zu generieren in einem sprachgestützten intersubjektiven Kontext nicht in der Lage ist.
Hier hätten wir vielleicht eine erste Annäherung an den Begriff der Traumatisierung, die im Hochgefühl aufgehen könnte, wenn das traumatisierte Subjekt denn zu Gefühlen auf natürliche Weise (ganz ohne Drogen im intersubjektiven Kontext) in der Lage wäre.
Etwa über die Musik, kurz vor dem Abspann des Films durch den Genuss einer wunderschöne Händel-Arie, die unsere Heldin, eine Art Show-Down, auf der Bühne singt, extrem berührend, sodass schon mal Tränen ungefragt fließen, die allerdings – und das könnte eine weitere vorsichtige Begriffs-Annäherung sein – „krankhaft“ und „krankmachend“ dem Intersubjektiven abgeneigt auf etwas anderes als auf sich selbst nicht verweisen; oder nur auf einen sozialen Sachverhalt, der ausschließlich – auf sich selbst verweisend – im Innenleben des Zuschauers aufgeht; im verzweifelten Bemühen, Traumatisierungen zu bannen, wie um sie zu beschwören, eine Verbindung zur äußeren sozialen Welt zu simulieren in der Liebe zu einer un-geerdeten mythologisierenden Abstraktion (zum Helden, der seinen Weg macht), pure Vorstellung, die ein Außen nicht braucht, um geliebt zu werden.
Franz Witsch, Hamburg > http://film-und-politik.de/ .
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Eine fantastische Frau - Una mujer fantastica - A Fantastic Woman
Offizieller Kinostart (D): 07.09.2017
Regie: Sebastián Lelio
Dauer: 104 Min; Genre: Drama; FSK ab 12; Produktionsland: Chile/Deutschland
Filmverleih: Piffl > www.piffl-medien.de/ . Filmseite > http://eine-fantastische-frau.de/index.php.
20-seitiges Presseheft zum Film "Eine fantastische Frau" in deutscher Sprache - weiter (PDF).
Cast: Daniela Vega as Marina Vidal; Francisco Reyes Morandé as Orlando; Luis Gnecco as Gabo; Aline Küppenheim as Sonia; Amparo Noguera as Antonia; Antonia Zegers as Alessandra; etc.
Biografie des Regisseurs Sebastián Lelio:
Sebastián Lelios erster, gleich vielfach ausgezeichneter Film „La sagrada familia” (2006), erlebte seine Premiere beim San Sebastián Film Festival. „Navidad” wurde mit Unterstützung der Cannes Cinéfondation Residence geschrieben und feierte 2009 seine Premiere bei der Director’s Fortnight. „El año del tigre” wurde beim Locarno Film Festival 2009 präsentiert. Sebastián Lelio erhielt in der Folge ein Guggenheim-Stipendium sowie die Unterstützung des Berliner Künstlerprogramms DAAD.
Sein vierter Spielfilm „Gloria” bescherte ihm den inter-nationalen Durchbruch und seiner Hauptdarstellerin Paulina García einen Silbernen Bären als beste Schauspielerin bei der Berlinale 2013. „Gloria” repräsentierte Chile bei der Oscar-Verleihung und beim Goya Filmpreis. Das National Board of Review wählte ihn als einen der fünf besten Filme des Jahres aus; zudem wurde er für den Independent Spirit Award for Best International Film nominiert.
„Eine fantastische Frau” wurde durch die Berlinale Residency unterstützt. Der Film ist eine Koproduktion von Fabula (Chile), Participant Media (USA), Komplizen Film (Deutschland), Muchas Gracias (Chile) und Setembro Cine (Spanien).
Sein erster englischsprachiger Spielfilm „Disobedience”, mit Rachel Weisz, Rachel McAdams und Alessandro Nivola in den Hauptrollen, befindet sich gerade in der Postproduktion. (Text: offizielle Filmseite).
2017 erhielt Lelio für seinen Spielfilm Una mujer fantástica erneut eine Einladung in den Wettbewerb der 67. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Der Film brachte Lelio auf der Berlinale den Teddy Award sowie den Silbernen Bären für das beste Drehbuch ein. Als Wahlberliner eröffnete er im August 2013 in Kreuzberg das lateinamerikanische Restaurant Gloria.
► EINE FANTASTISCHE FRAU Trailer German Deutsch (2017):
► Bild- und Grafikquellen:
1. Filmplakat "Eine fantastische Frau" - "Una mujer fantastica" - "A Fantastic Woman". Quelle: Arne Höhne. Presse + Öffentlichkeit • Glogauer Strasse 5 • 10999 Berlin • 030 - 29 36 16 16 • info@hoehnepresse.de >> http://www.hoehnepresse-media.de/ >> Bildmaterial. Die Verwendung des Bildmaterials ist ausschließlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung gestattet ist! Keine Archivierung! ACHTUNG: Die Rechte verbleiben beim Rechteinhaber!
2. Die Schauspielerin Daniela Vega des Films A Fantastic Woman (Una Mujer Fantástica) auf dem roten Teppich auf der Berlinale 2017. Urheber: Martin Kraft - Interaktionsdesign, 65185 Wiesbaden >> https://martinkraft.com/. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.
3. Berlinale 2017: Juan de Dios Larrain, Daniela Vega, Sebastián Lelio, Francisco Reyes at the press screening of A Fantastic Woman at the 2017 Berlin International Film Festival. Urheber: Elena Ringo >> http://www.elena-ringo.com/. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 4.0 international“.
4. Filmszene aus dem Drama "Eine fantastische Frau" - escena de "Una mujer fantastica" - movie scene of "A Fantastic Woman". Quelle: Arne Höhne. Presse + Öffentlichkeit • Glogauer Strasse 5 • 10999 Berlin • 030 - 29 36 16 16 • info@hoehnepresse.de >> http://www.hoehnepresse-media.de/ >> Bildmaterial. Die Verwendung des Bildmaterials ist ausschließlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung gestattet ist! Keine Archivierung! ACHTUNG: Die Rechte verbleiben beim Rechteinhaber!
5. Francisco Reyes und Daniela Vega des Films A Fantastic Woman (Una Mujer Fantástica) auf dem roten Teppich auf der Berlinale 2017 . Urheber: Martin Kraft - Interaktionsdesign, 65185 Wiesbaden >> https://martinkraft.com/. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.
6. Sebastián Lelio (* 8. März 1974 in Mendoza, Argentinien) ist ein chilenischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Sebastián Lelio wurde 1974 in der argentinischen Stadt Mendoza geboren, wuchs aber in Chile auf. Das Foto zeigt ihn am 12. Februar 2017 bei der 67. Berlinale (Bildausschnitt). Urheber: Martin Kraft - Interaktionsdesign, 65185 Wiesbaden >> https://martinkraft.com/. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.